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Von wegen Einheitsbrei

Die Zahl der ausgewiesenen Erstlese-Verlagsprogramme steigt stetig an. Dabei ist das Schreiben von Geschichten für Leseanfänger eine Kunst für sich: einfach, aber kunstvoll zu erzählen und die Leserschaft dabei gleichzeitig nicht über- bzw. unterfordern. Derzeit tun sich in dem Genre neue Innovationen und Möglichkeiten auf.

Von Ina Nefzer | 21.09.2013
    Die "Erstlesegeschichte" ist - wenn man sie beispielsweise mit dem Bilderbuch vergleicht, dem sie übrigens in vielem ähnelt - als Gattung eine ausgesprochen junge Textform. Eine, die sozusagen noch in den Kinderschuhen steckt oder man könnte auch sagen: Noch in der Entwicklung ist. Entstanden in den 1970er- und 80er-Jahren, den Gründerjahren der Erstleseprogramme von Carlsen, Loewe, Oetinger, Ravensburger, Arena oder dtv.

    Einige Erstlesegeschichten der ersten Stunde feiern schon runde Jubiläen und sind nach wie vor und in unveränderter Ausstattung auf dem Markt. Wie "Der Buchstabenvogel" von Eveline Hassler - erzählt wird hier von einem Vogel, der Buchstaben aus Schulheften pickt, die von den Schülern wieder ersetzt werden müssen - oder "Der Findefuchs" von Irina Korschunow - die berührende Fabel einer Füchsin, die ein mutterloses Fuchsjunges mit nach Hause nimmt. Erhältlich sind diese Titel keineswegs als Restexemplare, sondern in 25. bzw. 35. Auflage. Beide sind somit Erstlesegeschichten, die in Millionenhöhe verkauft wurden, und damit Bestseller!

    Verlegt bei dtv im hauseigenen Erstleseprogramm "Lesebär", das schon lange keine neuen Geschichten für Leseanfänger mehr herausbringt. Trotz der beachtlichen Erfolge seiner Erstleseklassiker.

    Klassikerstatus, das ist etwas, wovon aktuelle Leseanfängergeschichten nur träumen können. Die besagten Titel kamen wohl zum einen so weit, weil sie von Pädagogen landauf landab bis heute geschätzt werden und entsprechend in den Schulen gelesen, weiterempfohlen und viel lieber genommen werden, als Neuerscheinungen, die keiner kennt. Und dies, obwohl Erkenntnisse der Leseforschung bei diesen Klassikern nicht umgesetzt werden. Was heißt, dass bei dtv "Lesebär" nach wie vor eine Druckschrift mit Serifen - das ist die mit dem schwierigen ‚a’ - und die für Erstleser deutlich schwierigeren französischen Anführungszeichen in Gebrauch sind.

    In den Olymp der Erstleseliteratur aber haben es diese Klassiker nicht nur geschafft, weil sie viel gelesen werden, sondern auch, weil sie Klasse haben. Klasse - auf dieses Genre bezogen heißt das: so einfach wie kunstvoll zu erzählen. Hört sich leicht an, ist aber richtig schwer. Oder - um mit Kinderbuchautor Martin Klein zu sprechen - sogar eine Kunst:

    "Es ist umso schwerer, je kürzer die Geschichte ist, also am allerschwersten in der Lesestufe 1, eine vernünftige Geschichte zu erzählen. Sie haben ja kaum Platz. Wenn sie richtig angefangen haben, ist die Geschichte schon wieder zu Ende. Trotzdem soll was passieren, irgendwie interessant sein. Die handelnden Personen sollen einen Charakter entwickeln, eine Persönlichkeit. Das ist eine Kunst! Und das ist auch die Herausforderung!"

    Hauptsächlich verantwortlich für die massiven Vorgaben im Erstlese-Segment ist Peter Conrady. Er hat von 1981 bis 2009 als Deutschdidaktiker an der Uni Dortmund Grundlagenforschung in Einfachheit betrieben. Zusammen mit seinen Studenten unternahm er mehrjährige Forschungsarbeiten im Bereich Wahrnehmungs- und Lesepsychologie, - um herauszufinden, welche Stolpersteine das Lesenlernen erschweren und wie es erleichtert werden kann.

    Seine wissenschaftliche Pionierarbeit hat maßgebliche Standards für das Erstlese-Genre in Typografie, Layout und Satz ermöglicht und geprägt: pro Zeile ein Sinnschritt, 9-cm-Zeilenlänge, Fibelschrift und ein großer Zeilenabstand: So sieht heute, dank Conrady, üblicherweise eine Erstleseseite aus.

    Mit den sprachlichen Richtlinien aber hatte der Professor selbst von Anfang an seine Schwierigkeiten, als er bei Arena das Erstleseprogramm konzipierte. Autor Knister kann davon ein Lied singen, ist doch seine Erstlesegeschichte "Die Sockensuchmaschine" - inzwischen übrigens ebenfalls ein Klassiker, in dem es um eine geradezu geniale Erfindung geht, mit dem Ziel entstanden, eine beispielhaft einfache Mustergeschichte zu schaffen:

    "Ich habe ungeheuer viel gelernt in diesem Prozess. A mit Herrn Conrady, B mit seinen gewissenhaften Studentinnen und Studenten, die wirklich brutal mit mir umgegangen sind. Brutal im Sinne von rücksichtslos. Die haben mich einfach auch direkt geduzt. So würde keine Lektorin sich wagen, mit meiner Sprache umzugehen und mit einer Arbeit von mir. Aber die waren da ganz respektlos. Nein, das ist ein Komposita, raus! Weg! Anders! Hier sind 42 Buchstaben - Zack! Roter Strich, neu machen! Ändern! Und aus dieser wirklich harten Schule hab ich natürlich gelernt und das kommt meiner "Hexe Lili" sehr zugute."

    Doch obwohl zusammengesetzte Wörter, Komposita genannt, ein No-Go in Conradys Kriterienkatalog sind, erhob Knister sie zum Stilprinzip seiner Geschichte. Darin lernt Jonas einen Erfinder kennen, der ihm eine ganz besondere Maschine konstruiert:

    "Ich habe aus deinen beiden Wünschen
    eine Erfindung gemacht.
    Eben einfach eine
    Sockensuch-Anziehmaschine.
    Hier unten sitzt der Sockenmagnet
    mit dem Riechprozessor.
    Darüber der Knopf
    für die Knotenautomatik.
    An der Seite der Zuknöpfschwengel
    mit der elektrischen
    Knopflochspirale.
    Auf der anderen Seite
    der Reißverschlusszippel
    mit dem
    Verschleißverschlusszappel."
    Jonas versteht nicht alles.
    Aber er ist gespannt,
    was die Maschine wirklich kann.


    Genau so dürfte es auch ungeübten Erstlesern gehen, die in diesem kleinen Abschnitt sage und schreibe acht Komposita erlesen sollen. Warum Knister dies so wichtig war, erzählt er am besten selbst, gab es doch:

    "… viele Diskussionen zwischen Herrn Conrady und mir genau diesen Punkt betreffend. Und da bin ich anderer Ansicht als er. Ich behaupte, wenn solch möglichst schwierigen Komposita drin sind, sind sie nicht Stolpersteine, sondern Berge, die man erklimmen möchte. Ich glaube, ich muss auch Reize setzen, die die Kinder mit Spaß sich erschließen. Deshalb gibt es in meiner "Sockensuchmaschine" Komposita, die so irrsinnig schwierig sind, dass sie schon fast komisch sind."

    Was Conrady und Knister ausgefochten haben: Das Ringen um den Anspruch - Leseanfänger sprachlich nicht zu überfordern, zugleich aber literarisch nicht zu unterfordern - ist und bleibt das zentrale Anliegen und die Herausforderung dieses Genres.

    Ganz wichtig ist jedoch: Erstlesegeschichte ist nicht gleich Erstlesegeschichte! Sondern Teil eines ausgearbeiteten Erstleseprogramms mit drei bis vier Leselernstufen. Jede Stufe ist auf die jeweilige Lesekompetenz abgestimmt. Entsprechend different sind die Anforderungsprofile:

    Erstlesetexte für die ersten zwei Stufen dienen dem Ziel, Kinder in der mühsamen Phase des Lesenlernens zu unterstützen und sollten daher vor allem einfach zu lesen sein mit einer spannenden oder lustigen Handlung, die zum Weiterlesen motiviert. Sind zunächst nur literarisch einfache Erzählstrategien möglich, wachsen diese mit zunehmender Lesekompetenz in Stufe drei und vier, wenn die Technik Lesen bereits erlernt ist und es um Lesepraxis geht.

    Und so ist Knisters "Sockensuchmaschine" eine sehr amüsante Mustergeschichte für die dritte Leselernstufe geworden. ABC-Schützen, die in die erste Klasse kommen, können solch einen lustigen Komposita-Kollaps kaum genießen. Der erfahrene Erstleseautor Martin Klein, aktuell ist er mit drei neuen Erstlesebüchern bei drei verschiedenen Verlagen präsent, weiß:

    "Ein Erstklässler, der die Buchstaben womöglich noch einzeln aneinanderreiht und dann so mühsam seine ersten Sätze entziffert oder mehr oder weniger mühsam.
    Natürlich kommt der besser mit kurzen Worten und einer einfachen Handlung zurecht, die dann von vorne bis hinten überschaubar bleibt. Und natürlich ist er stolz, wenn er das Buch zuklappt, und hat das von der ersten bis zur letzten Seite gelesen."

    Sprachliche Stolpersteine wie Substantivierungen, schwierige Wörter oder ellenlange Komposita finden sich in Kleins Minigeschichte "Emma im Hasenglück" nicht. Wohl aber einfache Komposita - allerdings werden sie ganz anders eingesetzt als bei Knister. Dies zeigt schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis:

    Das erste Kapitel heißt: "Hasen-Fantasie", das zweite "Hasen-Überraschung" und das dritte "Hasen-Glück".

    Alle Komposita sind mit Bindestrich und setzen so den Wiederholungseffekt so richtig schön in Szene. Und das zusammengesetzte Wort wirkt nicht unübersichtlich lang, sondern schon auf den ersten Blick gegliedert. Auch wenn das Wort "Hasen" beim ersten Lesen natürlich noch schwer fällt, geht es beim zweiten Mal schon besser und beim dritten liest es sich – als ganzes Wort - fast wie von selbst, was für ein Erfolgserlebnis!

    Sprachmuster - identische, variierte oder auch gesteigerte Wiederholungen - erleichtern das Lesen. Zudem zeigen sie, dass und wie mit Sprache gestaltet oder gespielt werden kann. Musterhaftes Erzählen und Reime eröffnen erste und ganz einfache literarische Gestaltungsmöglichkeiten in Erstlesetexten der ersten und zweiten Stufe.

    "Am Abend sucht Emma Bücher heraus.
    Sie heißen:
    Fips, der kleine Osterhase,
    Ein Hase für alle Fälle
    und Schöner leben mit Hasen.
    Papa seufzt.
    Er holt andere Bücher.

    "Wie wär’s heute mal mit:
    Wackel, der Dackel?"
    Emma schüttelt den Kopf.

    "Tino, der Dino?"
    fragt Papa.
    "Nein", sagt Emma.

    "Klaus, die Maus?", fragt Papa.
    "Nein!", sagt Emma.

    "Wenn ich schon
    keinen echten Hasen habe,
    will ich wenigstens
    eine Hasengeschichte."


    Hilfreich sind hier übrigens auch die Illustrationen von Eleonore Gerhauer, die - ganz vorbildlich - immer das darstellen, um was es im zugehörigen Abschnitt jeweils geht. Wer eine Sinnerwartung aufbauen kann, liest leichter, weil er sich schon denken kann, um was es geht.

    Ein Autoren- und Illustratorenduo, das seine Leserschaft schon seit sechs Jahren mit ausgeprägten Sprachspielen und herrlich pointierten Bildern erfreut, sind Eva Muszyinski und Karsten Teich. Seit 2007 erscheint jeden Sommer ein neuer Band ihrer zu Recht erfolgreichen, beliebten "Cowboy Klaus"-Serie. Cowboy Klaus, das ist kein Cowboy, wie er im Buche steht, sondern ein Junge, der mit Schwein Lisa und Kuh Rosie auf seiner Farm "Kleines Glück" im Wilden Westen lebt und dort eine Menge lustiger Abenteuer erlebt. Gibt es im neuesten Band "Cowboy Klaus und Toni Tornado" ein echtes Affentheater, so wartet "Cowboy Klaus und die harten Hühner" mit reichlich Gegacker auf. Und das hört sich, wenn Eva Muszyinski selbst am Mikro ist und Karsten Teich an der Gitarre, so an:

    Die Tür springt auf,
    und fünf Hühner purzeln in die Küche.
    "Gut, gut, gut! Gerettet-tet!
    Gerettet-tet!, gackern sie aufgeregt.
    Verdattert macht Rosi die
    Tür wieder zu.
    "Wir müssen Getrud verstecken!
    Vielleicht im Ga-Ga-Garten?
    Oder hinter der Ga-Ga-Gardine?
    Oder im Ga-Ga-Ga-Schrank?",
    beraten die Hühner.
    Dabei rollen sie ein großes, grünes Ei
    kreuz und quer durch die Küche.
    Cowboy Klaus schaut sprachlos auf das
    Durcheinander.
    Dann platzt Lisa der Kragen. Sie schnappt
    sich das Ei und hält es in die Höhe.
    "Das ist eine Küche und kein Hühnerstall",
    brummt sie.


    So kunstvoll kann man Leseanfängern zeigen, wie sich einzelne Buchstaben und Silben in Laute umsetzen lassen. Andere Anspielungen oder Doppeldeutigkeiten wie hier mit dem "Hühnerstall" sind auf erwachsene Mit- oder Vorleser gemünzt:

    Eva Muszyinski: "Das ist aber nicht nur so. Wir versuchen viel mit Geräuschwörtern zu arbeiten, weil es lustig ist, ein Wort wie "doing" zu erlesen. Wenn man anfängt zu lesen und noch mit dem Finger und schwitzend jeden Buchstaben sich erarbeiten muss, dann ist es schön, wenn danach ein Wort dabei rauskommt wie "pupsen". Wo man ein Erfolgserlebnis übers Lachen hat."

    Karsten Teich: "In Deutschland ist es so: Die Eltern steigen aus ab dem Erstleser! Wo Eltern für sich sagen: Das ist Schmerzgrenze. Und das wollten wir aufheben. Eigentlich ist es in dieser Phase wichtig, dass die Eltern im Boot sind und der Text auch so schwierig ist, dass man sich drüber unterhalten muss. Dass Kinder fragen müssen, was ist ein Kojote oder warum heißt der Indianer jetzt "Bitte recht freundlich"? Erklär mir das, das versteh ich von allein vielleicht nicht."

    Die Initiative der beiden, die Vorlesephase in die Erstlesezeit hinein zu verlängern, hat zweifellos etwas für sich, aber eigentlich dienen Erstlesebücher ja dazu, Kinder selbstständig, will sagen: zu unabhängigen Lesern zu machen. Dazu sollten sie einfach gestrickt sein und nicht weiterhin erwachsene Unterstützung voraussetzen.

    Zumal dies auf den Büchern keineswegs so angeregt wird. Im Gegenteil - die Serie erscheint innerhalb der Tulipan-Erstlesereihe "ABC" in der Lesestufe A, die auf dem Buchrücken zusätzlich mit der Altersangabe "ab 6" ausgewiesen ist.

    Abgesehen davon, dass konkrete Altersempfehlungen eigentlich zugunsten von Lesealterangaben abgelöst sein sollten, fängt man mit 6 in der ersten Klasse allerfrühestens an, sich durch das Alphabet zu buchstabieren.

    Ähnlich fragwürdige Angaben finden sich jedoch auch bei anderen Verlagen: Arena zum Beispiel führt die gängigen Textmodelle für absolute Leseanfänger in der Rubrik "Vorschule/1. Klasse" und längere Texte, die bei Ravensburger, Oetinger oder Carlsen, in Lesestufe 2 platziert sind, unter "1. Klasse".

    Was - so fragt sich auch Martin Klein - haben die Verlage bloß davon?

    "Das ist mein Eindruck auch, dass die Altersangaben zu niedrig sind, grundlegend in der Tendenz. Und auch hier hab ich wieder die starke Vermutung, wenn nicht sogar die Gewissheit, dass das rein verkaufstaktische Gründe hat."

    Für Erstleser hat diese Praxis sicher nur Nachteile, weil Geschichten viel zu oft viel zu schwer für sie sein dürften. Aber welcher Leseanfänger gibt das schon gerne zu?

    Zurück zum großartigen "Cowboy Klaus" und dessen Wildwest-Welt, die zum einen die Kulisse einer herrlichen Kinderzimmerspielgeschichte ist, zum anderen vielfach Gelegenheiten bietet, Männerklischees humorig zu brechen. Cowboys sind ja ganze Kerle - stark, mutig, einsam. Cowboy Klaus aber ist all das nicht, wodurch - vor diesem Kontrast - Geschlechterrollen lustig durchgespielt, ja infrage gestellt werden.

    Mädchen-Themen, Jungs-Themen - beide werden in der aktuellen Erstleseliteratur viel lieber bedient als hinterfragt. Man kann regelrecht von einem Boom sprechen, lassen doch fast alle Erstleseprogramme eine klare geschlechtsspezifische Trennlinie erkennen zwischen Prinzessinnen-, Pferde-, Freundschaftsgeschichten für das weibliche und Piraten-, Fußball-, Superheldenstorys für das männliche Geschlecht.

    Einen ganz großen Auftritt in dieser Sache hatte der Fischerverlag letztes Jahr mit der neuen Erstlesereihe "Nur für Jungs". Die erste Staffel brachte Bände einer Superman- und einer Batman-Serie, die als amerikanische Lizenz eingekauft worden waren. Die ganze Optik und auch die Storys orientieren sich an den Originalcomics. Und sollen dergestalt leseschwache Jungs aus der Reserve locken.

    Eigentlich eine gute Idee und zudem eine, die natürlich nicht nur - wie behauptet - der Fischer Verlag verfolgt.

    Die Umsetzung aber in den amerikanischen Bänden ist - man muss es drastisch formulieren: unterirdisch schlecht! Haufenweise Anglizismen, verschachtelte Satzkonstruktionen, unübersichtliche Dialoge und kaum Abbildungen, die beispielsweise die Vorstellung der einzelnen Figuren stützen könnten. Sodass man selbst als erfahrener Leser schnell die Orientierung verliert. Auch für das angegebene Lesealter - 2. bis 3. Klasse - keine empfehlenswerte Lektüre und schon gar kein Erstlesestoff.

    Die zweite Staffel wird nun von deutschen Autoren bestritten, die sich europäischen Heldenfiguren widmen. Unter diesen Bänden ist einer, der herausragt: Tilman Spreckelsens Nacherzählung von "König Artus. Kampf um Excalibur". Der FAZ-Journalist schafft es, mit einfachen Worten, überschaubaren Sätzen und geschickt eingebauten dialogischen Szenen den Zauber und die Atmosphäre dieser Sage aufscheinen zu lassen, in der offenbar wird, dass Knappe Arthur der legitime Erbe von Englands Thron ist:

    "Was ist denn hier los?" Hinter Arthur war
    auf einmal der mächtige Zauberer Merlin
    aufgetaucht. Und mit ihm Sir Hector mit
    seinen Söhnen Leo und Kay.
    "Mir scheint, du erkennst unseren neuen König nicht, Lot", sagte Merlin.
    Lot schaute ihn trotzig an. "Und wer soll
    das bitte sein, unser neuer König?
    Etwa dieser Wurm hier?", fragte er und zeigte dabei auf Artus.
    "Natürlich der, der, der das Schwert aus dem
    Amboss gezogen hat", sagte Merlin. "Und das war kein
    Anderer als Artus."
    "Unser Artus?" riefen Leo und Kay ganz erstaunt
    und wie aus einem Mund".

    Was gibt es sonst Neues in der Erstlesewelt?

    Die Zahl der ausgewiesenen Erstlese-Verlagsprogramme steigt stetig an. Und die großen Verlagsprogramme haben das Segment konsequent ausgebaut:

    So bietet der Carlsen Verlag mit seinen knapp drei Euro teuren Broschurausgaben das beste Preis-Leistungs-Verhältnis und dazu noch ein ausgeklügeltes Motivationssystem für Erstleser, die hier wirklich jede Doppelseite als gelesen ankreuzen dürfen.

    Oetinger hat mit www.lunaleseprofi.de eine eigene, aufwendig gestaltete Kinderplattform aufgebaut. Nutzbar natürlich nur für diejenigen, die in Besitz eines Buches und damit des Rätselcodes sind. Ansonsten aber kostenlos, werden hier vielseitigste Möglichkeiten geboten, in die Lesewelt spielerisch einzutauchen und dabei auch noch gefahrlos Medienerfahrung zu sammeln.

    Cbj erfindet nun schon zum zweiten Mal ein ganz neues, eigenes Erstlese-Textformat. Nach dem erfolgreichen Konzept "Erst ich ein Stück, dann du" von Autorin Patricia Schröder, das inzwischen von allen großen Verlagen kopiert wird, kommt nun "Schau mal, wer da spricht". Hier ist der Text größtenteils dialogisch wie ein Drehbuch aufgebaut, sodass das Kind beim Lesen in verschiedene Rollen schlüpft wie bei Frauke Nahrgangs "Ritter Tobi und der kleine Drache Hoppla":

    - Hoppla! Wer bist du denn?
    - Siehst du das nicht? Ich bin ein Drache.
    - Ein echter Drache willst du sein? Schau dich doch mal an! Du bist doch viel zu niedlich!
    - Das schon, aber echte Drachen sind nicht niedlich. Sie sind groß und stark und furchterregend.
    - Ich bin ein kleiner Drache und suche lieber einen Freund.


    Zudem werden die Programme konstant erweitert:

    Erstens um kostenloses pädagogisches Begleitmaterial, ob im Buch oder Internet für Erstleser, für Eltern, für Pädagogen.

    Zweitens um Vorlesetitel für die Kindergarten/Vorschulzeit. Die Stufenmodelle präsentieren sich immer stärker als Rundumversorger und Garant für eine optimale literarische Sozialisation.

    Drittens wird das Angebot selbst immer mehr ausdifferenziert mit unterschiedlichen Ausgaben desselben Stoffs: ob im großen oder kleinen Format, ob als Förder- oder Malheft.

    Viertens hält die mediale Aufarbeitung Einzug in die Erstlesewelt mit Lesestiften und E-Publishing:

    Einige Zeit schon gibt es die Lesestifte Tiptoi von Ravensburger und TING, den Klett verwendet. Zum Preis von knapp 50 Euro geben sie speziell präparierten Buchausgaben Sprache, Töne, Geräusche und Musik. Bei Ravensburger führt einen der Leserabe durch das Buch, das kann man sich vorlesen lassen, mitlesen oder selbst lesen. Grau gedruckte Wörter sind entweder schwierig oder Wörter, zu denen es etwas Besonderes zu sagen gibt. Genau wegen dieser letzten Funktion liegt Tiptoi im Vergleich vorn, werden diese Wörter doch gaaaanz langsam mit Silbenbetonung vorgelesen und sogar erklärt wie im Buch "Der kleine Drache will nicht zur Schule" von Inge Meyer-Dietrich:

    Fuega:
    - Fu-e-ga
    - Fuega ist die Heldin in diesem Buch. Ihr Name kommt aus dem Spanischen. Fuego bedeutet dort "Feuer". "Fuega" ist ein kleiner Drache und kann natürlich Feuer spucken. Und weil sie ein Mädchen ist, heißt sie nicht Fuego, sondern Fuega. Im Spanischen enden Mädchennamen nämlich mit "a".



    Fazit: Leselern-Stifte ersetzen den erwachsenen Mitleser, der die richtige Betonung vorgibt und bei Bedarf Unklarheiten beseitigt. Klares Ziel ist hier die selbstständige Lektüre. Allerdings nur bei richtigem Gebrauch! Und dafür ist zumindest anfangs unbedingt ein Erwachsener vonnöten, sonst sind Batterie oder Akku ständig leer und es droht Geräuschespielsalat.
    Längst schon gibt es E-Publishing auch im Erstlesebereich: dtv und Oetinger bieten einige ihrer erfolgreichsten Erstlesegeschichten als E-Books an und experimentieren bei ihren Klassikern mit Spiele-Apps für Android und Apple. So auch mit Erhard Dietls Verkehrte-Welt-Geschichten, die Quatsch und Klamauk bieten, wie Kinder es lieben - "Die Olchis": Das ist die grüngesichtige Familie, die auf einer Müllhalde lebt, Regenwürmer husten hört, sich nie wäscht und im wahrsten Sinne des Wortes stinkefaul ist. Sie machen am liebsten das, was man nicht machen darf, allem voran derbste Flüche auszustoßen wie

    "Schleimeschlamm und Käsefuß!"

    So nachzulesen im Band "Die Olchis und der Geist der blauen Berge", wohin die Olchis als Müll vertilgende Urlauber geschickt werden. Bis sie überraschend auf einen blauen Artgenossen treffen, der einen "ördentlichen Sprachföhler" hat.

    Einige Titel sind auch interaktiv aufbereitet und können im Internetbuchladen Tigerbooks - wohlgemerkt nur für Apple-Nutzer – für günstige 4,49 Euro erworben werden. Im Vergleich: Das Erstlesebuch kostet 7,95 Euro, die CD 9,95 Euro.

    Das interaktive E-Book bietet auf dem Tablet beides in einem und noch Spiele und kleine Animationen dazu.

    Fragt sich: Steckt in der Schultüte für Erstklässler in Zukunft ein Tablet statt Süßigkeiten? Im Moment ein elitärer Gedanke. Aber auch Klett scheint hier Potenzial zu sehen, bringt doch der Schulbuchverlag ab Herbst eine neue Erstlesereihe für die erste Lesestufe mit dem Titel "Ich kann jetzt lesen!" heraus, die Buch plus E-Book-Code plus App in einem bietet und das zum sensationellen Preis von 7,99 Euro. So viel kostet jedes normale Erstlesebuch alleine. Zusätzliche Funktionen: Akustische Rechtschreibtipps, schwierige Wörter sammeln und Quatschwörter erfinden. Auch hier läuft die interaktive enchanced-Version nur auf dem iPad, auf Android jedoch zumindest als normales E-Book. Neben einem Tablet braucht man aber noch Smartphone oder iPod für die App.

    Halleluja, wer hätte das gedacht, was sich da an Innovationen und Möglichkeiten auftut: schöne neue Erstlesewelt!


    1. Lesestufe:

    • Eveline Hassler/Lilo Fromm (Illu.): Der Buchstabenvogel, dtv junior 1984/2012.
    • Martin Klein/Eleonore Gerhaher (Illu.): Emma im Hasenglück, Ravensburger 2013.
    • Inge Meyer-Dietrich/Almut Kunert (Illu.): Der kleine Drache will nicht zur Schule, Reihe "Leserabe - Lesen lernen mit tiptoi", Ravensburger 2012.

    2. Lesestufe:

    • Irina Korschunow/ Reinhard Michl (Illu.): Der Findefuchs, dtv junior 1982/2012.
    • Eva Muszynski/Karsten Teich (Illu.): Cowboy Klaus und Toni Tornado, Tulipan 2013.
    • Frauke Nahrgang/ Barbara Korthues (Illu.): Ritter Tobi und der kleine Drache Hoppla. Reihe "Schau mal, wer da spricht!", cbj 2013.

    3. Lesestufe:

    • Tilman Spreckelsen/ Nikolaus Reitze de la Maza (Illu.): König Artus. Kampf um Excalibur. Reihe "Nur für Jungs", KJB 2013.
    • Erhard Dietl: Die Olchis und der Geist der blauen Berge, Oetinger 2013.
    • Knister/Heribert Schulmeyer (Illu.): Die Sockensuchmaschine, Arena 1989/2012.
    • Szenische Lesung, Audiolino 2006.