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Von wegen Spatzenhirn

Vögel wurden lange unterschätzt. Schön?  Ja. Melodisch? Ja. Aber intelligent? Schon der Spruch vom Spatzenhirn oder dem dummen Huhn, das auch mal ein Korn findet, zeigt, wie wenig man dem Geist der Vögel zutraut. Damit tut man schon Spatzen und Hühnern unrecht, vor allem aber den Krähenvögeln.

Von Volkart Wildermuth | 23.08.2009
    Vögel. Schön? Ja. Melodisch? Ja. Aber intelligent? Dumme Gans, Spatzenhirn, dummes Huhn, Englisch: birdbrain, Französisch: cervelle d'oiseau, Spanisch: cabeza de chorlito.

    "Im Türkischen gibt es das Wort " kaz beyin" das heißt exakt das, was man im Deutschen und Englischen auch sagt, also Vogelhirn, und das ist kein positives Wort. Wahrscheinlich kommt es daher, dass wir so gern Tiere essen. Unter den Vögeln gibt es wenig große Exemplare, also töten wir die kleinen und essen sie, und dann gucken wir uns das Gehirn an und sagen: ,Mein Gott, ist das Gehirn klein.‘"

    "Das ist eben das Spannende. Wie ein Tier, das komplett anders wie wir ist, wie das funktioniert. Ob es denkt, wie es denkt. Das ist wirklich fast, wie wenn man versucht einen Außerirdischen zu verstehen."

    "Hello Jacko. These are the scrub jays."

    Nicky Clayton besucht ihre Buschhäher. Jedes Tier in der großen Voliere kennt sie beim Namen, und die Vögel kennen sie.

    "Das sind sehr hübsche blau-graue Vögel, viel schöner, als die schwarzen Krähen. Und sie sind clever, sie haben für ihre Größe ein riesiges Gehirn, im Verhältnis so groß, wie das eines Schimpansen. Alle Krähenvögel haben ein großes Gehirn, aber diese Buschhäher ganz besonders."

    Deshalb hat sie Nicky Clayton aus ihrer kalifornischen Heimat ins englische Cambridge geholt. Dutzende Buschhäher hat sie von Hand aufgezogen. Sie vertrauen ihr und sind bereit, für ein paar Maden an Experimenten teilzunehmen. Dieser Vogel plustert sich allerdings gerade auf und hüpft aufgeregt auf den Ästen hin und her.

    "Das ist einer unserer klügsten Vögel, er ist auch schon recht alt, 15 Jahre. Und er ist der Boss, er schätzt Sie gerade ab. Er meint, Sie sollten etwas bescheidener auftreten. Darum geht es bei diesem Schauspiel. Wir sind ein bisschen zu nah an seinem Versteck. Was haben wir da, Knochen, Murmeln, Nussschalen, warum hast Du die gesammelt?"

    Seine Wertgegenstände hat der Buschhäher hinter einem Brett versteckt. Typisch für Krähenvögel. Den Rekord hält der Kiefernhäher, der jeden Herbst mehrere Zehntausend Samen versteckt - und wiederfindet. Auch Buschhäher lagern für schlechte Zeiten ein. Dieses Verhalten macht sich Nicky Clayton zunutze, um etwas über das Gedächtnis ihrer Vögel zu erfahren. Sie stellt den Vögeln alte Eiswürfelformen in den Käfig. Die vielen kleinen Fächer sind mit Sand gefüllt – ideale Verstecke für fleischige Maden. Clayton:

    "Das sind die belgischen Pralinen der Buschhäher-Welt, das ist ihre Leibspeise. Aber das Problem mit Maden ist: Sie verderben. Die Vögel mögen nur frische Maden. Wir haben sie gleichzeitig auch Erdnüsse verstecken lassen, die halten ewig. Unsere Vermutung war, wenn wir die Vögel nach einer kurzen Pause an ihr Versteck lassen, dann sollten sie die leckeren Maden herausholen. Aber wenn wir sie erst wieder hereinlassen, wenn die Maden schon verdorben sind, dann sollten sie gezielt die Erdnüsse ausgraben. Und genau das machen sie auch."

    Klingt vernünftig, aber so viel Vernunft trauten die Forscher Vögeln lange nicht zu. Die Aufgabe mit den Maden und den Erdnüssen ist nämlich kniffeliger, als sie scheint. Clayton:

    "Wir wollten wissen, ob die Häher sich an das Was, Wo und Wann früherer Versteckaktionen erinnerten. Daraus besteht das biographische Gedächtnis: sich zu erinnern, was ist passiert, wo war man und was hat man gemacht, als x geschah."

    Das biographische Gedächtnis galt als typisch menschliche Eigenschaft. Nun zeigt sich: nicht nur Menschen sondern auch Buschhäher und wahrscheinlich auch andere Krähenvögel erinnern sich. Und sie ordnen ihre Erinnerungen der Zeit nach an. Auch wenn es bei ihnen nicht um den ersten Kuss oder den letzten Geschäftsabschluss geht, sondern um das Versteck einer leckeren Made. Clayton:

    "Buschhäher kämpfen mit einem Problem: Sie sind gesellige Vögel, deshalb besteht immer das Risiko, dass andere Tiere ihr Versteck ausräumen."

    In der Gruppe ist die Konkurrenz groß. Nur der gewitzte Vogel kann von seinen eigenen Vorräten profitieren. Nicky Clayton hat die Taktiken beobachtet, mit denen die gefiederten Diebe ihre Schätze vor anderen Dieben sichern.

    "Ältere Häher, die selbst schon mal ein fremdes Versteck ausgeräumt haben, kehren an ihr eigenes Lager zurück, wenn niemand mehr zuschaut. Dann verstecken sie das Futter an einem neuen Ort. Das tun sie nicht, wenn sie gar nicht beobachtet wurden, oder wenn ihr Partner zugeschaut hat. Mit dem würden sie das Futter sowieso teilen. Unerfahrene Vögel, die selbst noch keine Gelegenheit zu einem Diebstahl hatten, lassen ihre Vorräte, wo sie sind. Das ist also nichts Angeborenes, diese Taktik leiten die Vögel aus ihren eigenen Erfahrungen ab. Kurz gesagt, es braucht einen Dieb, um einen Dieb zu verstehen."

    Buschhäher machen sich offenbar Gedanken über die Gedanken anderer Buschhäher, sie haben eine "Theorie des Geistes", könnte man meinen. Das hatte man bis zu den Experimenten von Nicky Clayton eigentlich nur höheren Affen zugetraut. Sie selbst ist die Erste, die zugibt, dass die Häher wohl keine Überlegungen in Shakespeareschen Dimensionen anstellen. Aber sie sind mindestens so gewitzt, wie der Räuber im Kasperletheater.

    "Vögel, die selbst schon mal gestohlen haben, denken sich: ,Wenn ich das beobachtet hätte, dann würde ich später zurückkommen und das Futter stehlen. Also sollte ich warten, bis der andere Vogel weg ist, und das Futter dann an einem Ort verstecken, den er nicht kennt.‘"

    Erfahrungsprojektion. Auch das eine ausgesprochen komplexe geistige Leistung. Die Vögel lernen nicht nur aus ihren Erfahrungen, sie sind in der Lage, die Perspektive zu wechseln und daraus Schlüsse für ihre eigenes Verhalten zu ziehen.

    "Das können nur wenige Tiere. Das ist weit davon entfernt von dem, was unsere Tauben zum Beispiel leisten. Ich will unsere Tauben nicht klein reden, aber hier ist einfach eine ganz andere Komplexität zugange."

    An der Ruhruniversität Bochum: Onur Güntürkün. Sein gesamtes Forscherleben widmete er den Tauben. Es gibt wohl niemanden, der mehr über sie weiß und über ihren Verstand. Seine Experimente haben selbst Biologen verblüfft. Schließlich galt das Vogelhirn dem Hirn der Säuger als prinzipiell unterlegen. Güntürkün:

    "Unsere gesamte Vorstellung von der Evolution des Gehirns stammt eigentlich von der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts. Dort wurden die grundlegenden Arbeiten geleistet und viele davon in Deutschland."

    Die Evolution des Gehirns, so lautete damals die allgemein akzeptierte These, schritt in Stufen voran: von den Fischen über die Lurche und Reptilien zu den Vögeln und am Ende zu den Säugetieren und dem Menschen. Auf jeder Stufe sollte eine neue Hirnstruktur dazugekommen sein. Zuletzt, mit den Säugern das vielfach gefaltete Vorderhirn, der Ort höheren Denkens. Das Gehirn der Vögel ist dagegen glatt. Auch unter dem Mikroskop wirkt das Säugergehirn komplexer. Nicky Clayton.

    "Unsere Hirnrinde ist, wie die aller Säuger, aus sechs Schichten aufgebaut, wie eine dieser deutschen Schokoladentorten. Bei Vögeln sieht das anders aus, sie haben keine Schichten, sondern Kerne. Man könnte sagen, ihre Hirnrinde besteht aus denselben Zutaten, aber es ähnelt eher einem Fruchtkuchen, als einer sechsschichtigen Schokoladentorte."

    Güntürkün:

    "Das stärkt dann noch zusätzlich dieses alte Vorurteil des Vogelgehirns, das als dümmer dargestellt wird."

    Onur Güntürkün gehört zu einer internationalen Forschergruppe, die vor ein paar Jahren mit zwei Mythen rund um das Vogelgehirn aufgeräumt hat. Erstens stimmt die ganze Evolutionsgeschichte nicht. Die Säuger sind nicht aus den Vögeln entstanden, beide Linien entwickelten sich parallel, die Vögel spalteten sich sogar nach den Säugern von den Reptilien ab. Güntürkün:

    "Das wollen wir nicht gerne für wahr empfinden. Das zweite ist, wir wissen durch moderne anatomische Methoden, dass Vögel eigentlich eine homologe, das heißt auf den gleichen Urvater oder Urmutter zurückgehende Vorderhirnstruktur haben, die aber einfach nicht geschichtet ist. Das ist alles, und das ist eine Revolution in unserem Denken."

    Äußerlich sind die Unterschiede zwischen Federkleid und Haarpracht, zwischen Fliegern und Läufern gewaltig. Die mentale Steuerzentrale, das Gehirn, ist aber sehr ähnlich aufgebaut. Güntürkün:

    "Die Evolution antwortet auf kognitive Herausforderungen mit einer Materialschlacht. Es hat die innovativen Vorderhirnverbindungen vor weit über 200 Millionen Jahren erdacht in Anführungsstrichen und reagiert einfach nur mit mehr vom gleichen auf die Herausforderung."

    Der Mensch ist hier keine Ausnahme. Sein Verstand ist einzigartig in der Tierwelt. Aber nicht, weil er ein völlig anderes Gehirn besäße. Der Mensch hat vielmehr die Evolution der Affen zum Extrem getrieben und ein übergroßes Denkorgan entwickelt. Dabei ist die Quantität an Hirnmasse umgeschlagen in eine neue Qualität der Intelligenz. Ähnliches spielte sich auch innerhalb der Gruppe der Vögel ab. Güntürkün:

    "Quantität ist die Lösung zu vielen Entwicklungen. Vögel spielen genau das gleiche Spiel. Sie haben, wenn Sie so wollen, ein Urgehirn, das unserem Urgehirn sehr ähnlich ist. Und was sie tun, ist einfach, wenn ich herausgefordert werde, dann baue ich einfach mehr von den gleichen Modulen ein und dann wird es schon irgendwie richten."

    Tauben, viele Dutzend Tauben, in kleinen Drahtkäfigen übereinander gestapelt. Farblich so vielfältig wie Straßentauben, aber besser gepflegt. Jonas Rose holt eine Taube aus ihrem Verschlag und setzt sie in eine Testbox. Ein Bildschirm leuchtet auf, zeigt einen Kreis. Die Taube kennt das Spiel, sie weiß, Fleiß wird belohnt. Und deshalb pickt sie auf den Touchscreen. Nach 15 Sekunden gibt es ein paar Körner. Der Kreis kommt wieder, picken, Körner, immer wieder. Das Leben einer Labortaube ist monoton. Irgendwann bleibt der Kreis länger sichtbar. Sie pickt zunächst fleißig, doch nach 15 Sekunden erlahmt ihr Interesse. Sie fühlt sich wohl betrogen. Rose:

    ""Das sagt mir, dass die Taube eine Repräsentation der Zeit im Gehirn hat, von diesem 15-Sekunden-Intervall."

    An der Ruhruniversität Bochum haben die Forscher um Onur Güntürkün ihren Tauben schon vieles beigebracht. Für ein Paar Körner unterscheiden die Vögel menschliche Gesichter. Sie können sogar darauf trainiert werden, die Kunststile verschiedener Maler auseinander zu halten – und sie verstehen etwas von Zeit. Damit sind Tauben schon recht clevere Vögel, aber letztlich beherrschen sie nur die Vogelvariante des Vokabelpaukens. Der Verstand der Krähen und Häher ist weit flexibler, beherrscht viel mehr Tricks. Zusammen mit den Papageien gelten sie als die intelligentesten unter den Vögeln. Doch wie weit genau reicht ihr Verstand? Onur Güntürkün konfrontierte seine Elstern mit der ultimativen Herausforderung: mit einem Spiegel.

    "Was die Elstern tun ist, dass sie zunächst einmal hingehen und, ja ich will es mal anthropozentrisch ausdrücken, erstaunt sind, sie stehen vor diesem Spiegel und starren ihn an. Dann wackeln sie so ein bisschen hin und her, ein Tier hat angefangen, die Flügel auszuspreizen und mit den Flügeln ein bisschen so zu vibrieren, was es normalerweise nicht tut."

    Einige Elstern haben den Spiegel genau untersucht, einige wagten sogar einen Blick hinter den Spiegel. Ein ungewöhnliches Verhalten: Die meisten Tierarten betrachten ihr eigenes Abbild als fremden Artgenossen. Die Elstern aber erkennen, wie der Spiegel funktioniert. Das zeigte sich, als Onur Güntürkün den neugierigen Vögeln rote, gelbe und zur Kontrolle auch schwarze Punkte auf ihre schwarzen Brustfedern klebte.

    "Was die Tiere machen, ist, dass sie ganz kurz in den Spiegel schauen und dann anfangen, entweder mit dem Schnabel oder mit den Krallen, die Markierung versuchen zu entfernen. Und dann, wenn sie es erfolgreich entfernt haben, gehen sie noch einmal an den Spiegel, gucken, ob es auch erfolgreich war."

    Die Elster vor dem Spiegel versteht, dass die Elster im Spiegel ihr Abbild ist. Mit dem Spiegeltest versuchen Biologen abzuschätzen, ob Tiere über eine Art Selbstbewusstsein verfügen. Erfolg hatten sie bislang nur bei Schimpansen und Orang-Utans, bei Elefanten und Delphinen – und jetzt auch bei Elstern. Güntürkün:

    "Ob dieses Wissen um sich selbst, das gleiche ist wie unser eigenes Selbstbewusstsein, das weiß ich nicht. Aber zumindest gehören Elstern in einen sehr kleinen, sehr elitären Club von Lebewesen, die diesen Test bestehen und zeigen. Und vielleicht ist mit diesem elitären Club doch so etwas wie eine kognitive Leistungsfähigkeit um die eigene Existenz verbunden, die vielleicht gewisse Ähnlichkeiten mit unserem Wissen um uns selbst gemeinsam hat."

    Die Biologin Auguste von Bayern hat schon als Kind Dohlen im Schloss ihrer Eltern aufgezogen. Inzwischen ist aus der Verbundenheit mit den Vögeln ein Beruf geworden. An der Universität Oxford hat sie angefangen, die Intelligenz der Vögel zu erforschen. Wenn sie im Käfig den Begrüßungsruf imitiert, bekommt sie sofort Antwort. Die Dohle "Doli" fliegt auf ihre Schulter und zupft sie fordernd am Ohr. Und natürlich hat Auguste von Bayern leckere Maden mitgebracht. Die gibt es aber nicht immer frei Haus, die Vögel müssen sich ihre Leckereien in Experimenten verdienen.

    Dohlen nehmen unter den Krähenvögeln eine Sonderstellung ein. Ihre Augen sind nicht einheitlich schwarz, sondern hellblau mit klar erkennbarer Pupille. Auch der Mensch hat ein helles Auge mit dunkler Pupille – ungewöhnlich für einen Primaten. Die dunklen Augen der anderen Affenarten verbergen, wohin sie blicken, bei Menschen ist es dagegen leicht zu erkennen. Das Auge kann Zeichen geben, es hilft, das komplizierte Miteinander zu koordinieren. Die Frage war: Haben die Augen der Dohlen eine ähnliche Funktion? Von Bayern:

    "Dohlen haben einen Partner fürs Leben sozusagen, und die Kommunikation mit dem Partner ist essenziell wichtig für das Überleben, und da kann es vielleicht sein, dass subtile Signale, wo die hinschauen, viel wichtiger sind: sich gegenseitig Sachen zeigen und bemerken oder um sich zu koordinieren, zu wissen wo der andere jetzt gerade hinschaut."

    Dohlenpaare sind tatsächlich in der Lage, verdeckt zu kommunizieren. Das zeigte ein Experiment. Zwei Vögel saßen sich gegenüber. Der eine konnte sehen, in welchem von zwei Bechern das Futter war. Der zweite musste dagegen raten. Von Bayern:

    "Wenn dieser Vogel der Partner war, von dem anderen Vogel, der hineinschauen konnte, hatte er viel eher das Futter entdecken können. Weil er irgendwelche Signale von dem anderen anscheinend wahrgenommen hat. Wenn es nicht der Partner war, dann haben Sie das Futter auch nicht so schnell gefunden, das war dann reiner Zufall."

    Dohlen sprechen mit den Augen, sie können einander Signale geben. Nicht öffentlich, sondern gezielt in der Partnerschaft. Krähenvögel navigieren aber nicht nur clever im sozialen Raum, sie sind auch in der Lage, technische Probleme zu lösen.

    Steven Barlow von der Universität Oxford besucht seine Neukaledonischen Krähen. Diese Werkzeugmacher des Vogelreichs stammen von einer Insel in der Nähe Australiens.

    "In der Wildbahn nehmen sie die gezackten Ränder der Pandamus-Blätter und formen sie zu schlanken Harpunen. Damit stochern sie in den Spalten der Rinde nach Insektenlarven."

    Eine wichtige Eiweißquelle für die Aufzucht der Jungvögel. Das Verhalten ähnelt dem Termitenfischen der Schimpansen. Und genau wie bei den Menschenaffen ist auch bei den Krähen zwar Neugier und Innovationstalent angeboren, aber nicht die konkrete Form der Werkzeugnutzung. Die Vögel gucken sich bei anderen Krähen die besten Methoden ab. Die Nachahmung geht so weit, dass sich in den verschiedenen Regionen der Insel unterschiedliche Traditionen der Werkzeugnutzung etabliert haben. Ihre Lernfähigkeit geht aber weit darüber hinaus. Barlow:

    "Vor drei oder vier Jahren machte eine der Neukaledonischen Krähen in Oxford etwas ganz Besonderes. Betty bog einen Aluminiumdraht zu einem Haken und angelte damit einen kleinen Becher mit Futter. Das sorgte für ziemliches Aufsehen."

    Seitdem sind die Neukaledonischen Krähen die Stars der Vogelforscher. Steven Barlow untersucht, was sie alles mit einem Stück Draht anstellen können. Seine Kollegin Auguste von Bayern dagegen will herausfinden, wie die Vögel denken. Experimentieren sie einfach, bis sie ihr Ziel erreicht haben? Oder durchdenken sie ein Problem, fassen einen Plan und führen ihn dann aus? Auguste von Bayern stellt die Krähe Corbeau mit einem Plexiglaskasten auf die Probe. Auf einem Zwischenboden liegt verlockend eine leckere Made. Doch darüber ist eine Art Flaschenhals. Er ist zwar offen, aber ziemlich lang. Die Krähe kann die Made nicht direkt erreichen. Von Bayern:

    "Um an dieses Futter zu kommen, müssen die Vögel Steine oben rein schmeißen, damit die Plattform die durch Magnete gehalten wird, herunterfällt und das Futter raus rollt. Und ich habe die Krähen, ihnen dieses Problem vorgesetzt und keine von ihnen hat spontan Steine aufgehoben und hinein geschmissen. Kein Tier macht das spontan."

    Auch Menschen dürften kaum auf die richtige Idee kommen. Dass der Boden in Wirklichkeit eine Klappe ist, ist nicht zu sehen. Corbeau bekam deshalb so etwas wie intellektuelle Hilfestellung und durfte mit einer einfacheren Version der Apparatur üben. Das hinderliche Rohr war kürzer und Corbeau lernte schnell, die Klappe mit dem Schnabel herunterzudrücken. Doch jetzt muss sich Corbeau wieder der schwierigen Version stellen.

    Kaum im Käfig, fängt Corbeau an, Kiesel vom Boden der Voliere aufzusammeln und durch das Rohr zu werfen. Schnell werden die Steine zu schwer für die Klappe, sie fällt herunter, die Made rollt aus dem Kasten und Corbeau pickt sie zufrieden auf. Als Auguste von Bayern dieses Verhalten zum ersten Mal beobachtete, war sie beeindruckt von ihren Neukaledonischen Krähen:

    "Weil sie kapiert haben, dass man sozusagen Kraft auf die Platte ausüben muss, dass dann das Futter heraus rollt. Das haben sie in eine komplett neue Situation also übertragen und dann eben Steine aufgehoben und sie als Werkzeug benutzt. Das ist eigentlich ein sehr starkes Indiz, dass sie etwas über diesen Mechanismus verstanden haben müssen."

    Erfolg nicht durch Versuch und Irrtum, sondern durch Einsicht. Dass Tiere dazu überhaupt in der Lage sind, wollte lange niemand glauben. Schließlich streiten Philosophen noch darüber, ab wann genau man bei einem Tier von "Denken" sprechen darf. Krähen werden das Problem sicher nicht in Worte fassen, aber sie können Erfahrungen innovativ verknüpfen und wohl auch die Konsequenzen ihres Handelns vorab im Geiste durchspielen. Nicky Clayton und ihr Mann Nathan Emory sprechen von den Krähen als den "gefiederten Affen im Garten". Primaten und Krähen haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Warum haben gerade sie es in Sachen Intelligenz so weit gebracht? Nicky Clayton glaubt nicht an einen Zufall.

    "Wir sind davon überzeugt, dass Primaten und Krähenvögel mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren. Sie leben in einer komplexen sozialen Umwelt, in der man wissen muss, was die anderen gerade machen, wo es auf Bündnisse ankommt. Ich sehe das als eine Form von Politik oder Netzwerkarbeit."

    In der Evolution war die soziale Umwelt für die Krähenvögel prägend, denn sie war gefährlich. Wie gefährlich, das stellten die Mitarbeiter von Onur Güntürkün fest, als sie versuchten, im Botanischen Garten der Universität Bochum wenige Tage alte Elstern für ihre Experimente zu fangen. Nach Genehmigung versteht sich. Güntürkün:

    "Wir haben dann erst einmal festgestellt, wie wenige Tiere überhaupt dieses Alter erreichen. Da gibt es die Katzen, und da gibt es vor allen Dingen die anderen Elstern. Und dann gibt es die ganzen Gegenstrategien der Tiere, die versuchen ihre Jungen nicht an die anderen Elstern zu verlieren, gleichzeitig aber die Jungen der anderen Elstern zu fressen und ihren eigenen Jungen zum Fraß vorzuwerfen. Dies ist ein ununterbrochenes Taktieren, Beobachten. Das sind gewiefte soziale Strategien."

    Im sozialen Dschungel überlebt nur der kluge Kopf. Was die Intelligenz betrifft, sind die Unterschiede zwischen Maus und Mandrill, zwischen Kranich und Krähe viel relevanter, als die zwischen Säuger und Vogel generell. Jede Krähenart hat dabei ihre Spezialität: Buschhäher sind gewiefte Politstrategen, Neukaledonische Krähen geflügelte Ingenieure, Elstern erkennen sich selbst und Kiefernhäher brillieren als Gedächtniskünstler. Die Vögel sind allerdings flexibler, als die Forscher lange glaubten. Raben, die in der Natur keine Werkzeuge verwenden, können im Labor durchaus welche herstellen - sofern eine ausreichende Belohnung winkt. Insofern ist Onur Güntürkün davon überzeugt, dass auch im Vogelreich hinter allen geistigen Spezialfähigkeiten wohl eine einheitliche allgemeine Intelligenz steht.

    "Diese Flexibilität, auf vollkommen neue und eben unökologische Probleme einzugehen, ist das, was in einem höheren Sinne Intelligenz meiner Meinung nach ausmacht. Das heißt, gib mir ein großes Gehirn, und ich sage Dir voraus, dass eine große Veränderung Deiner ökologischen Nische von Dir besser verkraftet wird. Und wenn Menschen Dich an Bord eines Segelschiffes auf einen entfernten Kontinent bringen und Dich dort aussetzen, dass Du mit einer größeren Wahrscheinlichkeit Dich dort festsetzen wird."

    "Wie viele Schlüssel sind das? Zwei. Richtig!"

    Irene Pepperberg spricht mit Alex, einem Graupapagei.

    "Worin unterscheiden sie sich? Farbe. Richtig, welche Farbe ist größer? Guter Junge, dafür gibt es viele Nüsse."

    Alex kann nicht nur Phrasen nachplappern, er kann sich unterhalten. Ermöglicht hat ihm das Irene Pepperberg. Zuerst alleine, dann mit einer kleine Armada von Studenten, sprach die zierliche Harvard-Professorin mit dem Graupapagei. Stundenlang, Tag für Tag, über Jahre. Pepperberg:

    "Wir haben sehr natürlich mit ihm gesprochen. So hat er gelernt, dass diese Laute kommunikativ sind, und nicht nur Teil irgendeines Tests. Er kann sie nutzen, um Informationen zu bekommen und ein wenig Kontrolle über seine Situation zu erhalten."

    Als Alex das erkannt hatte, begann er von sich aus nach Worten zu fragen, wieder und immer wieder, bis er sie selbst aussprechen konnte. Bei dem jahrelangen Sprechtraining ging es Irene Pepperberg nicht in erster Linie um Sprache. Die Worte waren ein Weg, Alex‘ Verstand auszuloten. Als der Graupapagei im Alter von 31 Jahren starb, kannte er 150 Begriffe, darunter Worte für Farben, Formen, Materialien und die Zahlen von Null bis Sieben. Pepperberg:

    "Natürlich brauchen Papageien in der Natur keine Zahlen. Aber Urvölker kommen auch ohne exakte Zahlen aus. Wenn sie in die Zivilisation kommen und Symbole kennen lernen, dann lernen sie auch Rechenregeln. Das waren Vorstellungen, denen ich nachgehen wollte."

    Sprachlich ist Alex nie über das Niveau eines menschlichen Zweijährigen hinausgekommen, seine intellektuellen Leistungen dagegen entsprachen denen eines fünfjährigen Kindes. Er verstand den Zahlenraum bis Sieben und Konzepte wie "gleich" und "verschieden".

    "Guck mal her, kannst Du mir sagen, wie viele orange Würfel hier sind? Sechs, guter Papagei! Und wie viele grüne Kugeln? Vier. Guter Papagei. Nuss. Willst Du eine Nuss?"

    In der Evolution des Menschen haben sich ein Gehirn und ein Verstand herausgebildet, die den Herausforderungen der natürlichen und sozialen Umgebung gewachsen waren. Gleichzeitig entstand aber auch eine Art geistiger Mehrwert. Nervenkapazität, die nicht rund um die Uhr mit dem Problem des Überlebens ausgelastet war. Die bereitstand für Sprache, für Kreativität, für Kultur. Ein Paradox, schließlich ist die Unterhaltung eines Gehirns teuer. Es sollte in der Ökonomie der Evolution auf das kleinste erforderliche Maß zurückgeschnitten werden. Der Graupapagei Alex aber belegt, geistiger Mehrwert ist kein Vorrecht des Menschen. Massives Training kann auch in einem Vogelhirn stille Reserven freischalten. Für Hirnforscher Onur Güntürkün besonders interessant: die Papageien haben einen eigenständigen Weg Richtung Intelligenz eingeschlagen. Unabhängig nicht nur von den Primaten, sondern auch von den Krähen.

    "Die Papageien haben ein vollkommen anderes Gehirn. Auch sie haben ein sehr großes Gehirn, aber sie haben eine Vergrößerung in ganz anderen Bereichen ihres Gehirns, von denen wir wenig wissen, was sie eigentlich funktionell bedeuten. Es ist also noch viel zu entdecken."

    Alex ist inzwischen gestorben, Irene Pepperberg arbeitet aber weiter, lässt ihre Studenten täglich stundenlang mit den Graupapageien Griffin und Arthur sprechen. Auch sie lernen nach und nach dazu, können einfache Fragen beantworten. Alex können sie aber nicht das Wasser reichen. Pepperberg:

    "Ich habe Alex mal ein Tablett mit Gegenständen gezeigt und gefragt: ,Von welcher Farbe gibt es drei Dinge?‘. Er schaut mich an und sagt: ,Fünf‘. Darauf ich: ,Nein, welche Farbe drei?‘ Und er sagt: ,Fünf.‘ Und so geht es hin und her. Da waren einfach keine fünf Dinge in einer Farbe. Also was ist hier los? Am Ende sagte ich: ,OK, welche Farbe fünf?‘ Und er sagt: ,Keine!‘ Er hat das Konzept der Abwesenheit selbstständig auf Zahlen übertragen. Und er hat mich dazu gekriegt, genau die Frage zu stellen, die er beantworten wollte. Das war für mich das Verblüffendste, was er je getan hat."

    Alex war ein Papagei, wie es ihn vorher noch nie gegeben hatte, ein Einstein mit Federn. Sein Verstand ermöglichte es ihm, gänzlich unnatürliche Herausforderungen zu meistern. Vielleicht hatte er unter den Vögeln eine einzigartige Persönlichkeit, wahrscheinlicher aber könnte ein jahrelanges Training viele Graupapageien zu neuen Ufern führen, intellektuell gesehen. Ähnliches gilt wohl auch für die Krähenvögel. Sprechen werden sie nie, dazu fehlt ihnen das motorische Talent, aber auch sie können viel, viel mehr als ihnen die Umwelt abfordert und die Menschen zutrauen. Spatzenhirn, dummes Huhn - überholte Vorurteile. Es gibt nicht nur den einen Weg zur Intelligenz. Hinter Knopfaugen und Schnäbeln, unter bunter Federpracht und schwarzen Schwingen gibt es viele Intelligenzen – ähnlich und fremd zugleich. Die Begegnung mit dem gefiederten Verstand rückt auch das Bild des Menschen zu Recht, zumindest ein wenig, findet Onur Güntürkün.

    "Wir mögen nicht die Krone der Schöpfung sein, in dem Sinne, dass die Evolution wollte, dass wir existieren und wir sind das Beste was jemals dieser Welt passiert ist. Aber es kann auch wiederum nicht bedeuten, dass wir unterschätzen, wie schlau wir sind. Wir haben einen gigantischen Abstand zu den anderen Lebewesen, und wir dürfen diesen Abstand wissenschaftlich nicht allzu klein reden. Wir müssen gleichzeitig aber auch bedenken, dass der Abstand kleiner wird bezüglich Tieren, auf die wir gestern noch herabgeschaut haben."

    Irene Pepperberg:

    "Bird minds are very, very, very intelligent. I think being called a bird brain is a compliment. The human mind should be less judgmental about the avian mind."