Nennen wir sie Familie Kramer: Vater und Mutter sind über die 40, haben zwei Kinder und ein Haus vor der Stadt. Die Eltern arbeiten, die Kinder gehen zur Schule. Der Mutter wird eine Aufstiegsmöglichkeit geboten. Dafür muss sie für eine Weile in einer weit entfernten Stadt arbeiten. Sie mietet dort eine kleine Wohnung, genießt die neue Freiheit. Zunächst.
Herr und Frau Kramer gehören damit nicht mehr zu Tagespendlern, sondern wohnen nun multilokal, an mehreren Orten. Sie gehören zu jenen 76 Menschen, die Wissenschaftlern des Deutschen Jugendinstitutes von ihrem neuen Leben berichtet haben. "Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familie" heißt das Projekt, das in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der TU Chemnitz realisiert wird. Das Institut selbst arbeite derzeit etwa 40 derartige Interviews auf, sagt Christine Weiske.
" Wir fragen vor allem die Probandinnen und Probanden: was tut ihr eigentlich und wie tut ihr es? Wir fragen nicht: wie oft tut ihr das? Das heißt, wir sind noch in einer Erkundungsphase. Wir haben ja noch keine oder wenig harte Daten über die Verbreitung dieses multilokalen Wohnens. Aber die Erfahrung, die wir selbst machen können in unserem eigenen Alltagszusammenhängen ist einfach die, dass es immer mehr Leute sind, die auf die Art und Weise ihr Leben organisieren, und immer mehr Menschen empfinden ihre Lebenszusammenhänge nicht mehr als von irgendwo her gegeben, sondern verstehen, dass sie das selber machen wollen, machen können, und dass das eher ihren Lebenszielen entspricht, was sie da tun. "
auch wenn es dann nicht immer aufgehen sollte, was sie sich vorgestellt hatten - wie im Falle unserer Familie Kramer: Nach einigen Wochen war bei Frau Kramer die Freude über die neue Freiheit verflogen: daheim kriselte es; sie kam selten nach Hause; letztlich wollte sich niemand in der Firma an den versprochenen Aufstieg erinnern. Frau Kramer kehrte zurück zur Familie. Neue Strategien mussten erdacht und erprobt werden. "Choreografie der Existenz" nennt es der Wiener Soziologe Peter Weichhart.
Auch das ist kein Einzelfall und nichts Neues. Warum aber wurde das multilokale Wohnen bislang nicht umfassend erforscht? Die Partner der Chemnitzer Soziologen begründen. Zunächst Johanna Rolshoven von der ETH Zürich, ...
" Weil der mobile Mensch suspekt ist. Weil er sich den Ordnungen entzieht. Weil er ein Eigenleben führt, das wir nicht unbedingt nachvollziehen oder nachverfolgen können. Deswegen gefällt mir dieses Interpretationsregister des strategischen Handelns so gut, weil ich denke, das ist vielleicht noch ein autonomer Spielraum, den sich der Staatsbürger, der sehr belastet ist von multiplen Anforderungen, leistet. Er entzieht sich auch, indem er sich in die Zwischenräume begibt. "
Zweiter Partner für die Chemnitzer Soziologen ist die Uni Wien. Peter Weichhart meint, dass Wohnen an mehreren Orten deshalb wenig erforscht sei,
" Weil es als Forschungsthema ziemlich sperrig ist. Die Standardzugänge der Migrationsforschung, die Standardzugänge der Sozialwissenschaften - da passt das Phänomen nicht wirklich hinein. Wir müssen erst Beschreibungsmodi finden, mit deren Hilfe wir diese Struktur erfassen. "
Das beginnt bereits bei der Überschrift. Mathis Stock aus Lausanne gefiel der Terminus "multilokales Wohnen" nicht. Er plädierte für "politopisches Wohnen".
" Cedric Duchène-Laxroix nutzte den Begriff "Archipel". Zum einen, weil er selbst auf drei "Inseln" lebt und arbeitet: in Berlin, Basel und auch in seiner französischen Heimat. In seiner Doktorarbeit hat er das transnationale Wohnen von gut 50 seiner weit über 10 000 Landsleute erforscht, die in Berlin wohnen und meist nur ein bis zweimal nach Frankreich reisen, von Insel zu Insel, sozusagen. "
Signifikante Größen wurden dann doch noch genannt. In Deutschland seien über 350 000 Menschen Wochenendpendler vom Neben- zum Hauptwohnort, sagt die Geographin Darja Reuschke von der Uni Dortmund. Über 2000 Fragebögen hat sie ausgewertet. Ein Viertel der Befragten gab an, eine Nebenwohnung zu besitzen. Speziell untersuchte sie den Anteil von Männern und Frauen, die sich eine Zweitwohnung nehmen:
Reuschke: " Das sind bei den Männern ältere und verheiratete Männer und jüngere Ledige, während es bei den Frauen die jüngeren Ledigen sind und weniger die älteren Verheirateten, und dass die Frauen viel häufiger in einer Lebensgemeinschaft leben ohne Kind oder allein. Während Männer, auch wenn sie berufsbedingt pendeln zwischen Haupt- und Nebenwohnung, in einer Lebensgemeinschaft mit Kindern leben - Familie Kramer. "
Beispiel-Familie Kramer kann wohl auch herangezogen werden, wenn es um den erheblichen materiellen Aufwand für einen Zweitwohnsitz geht. Christine Weiske:
" Durchschnittlich sind es 20 Prozent des erwirtschafteten Einkommens. - In sehr vielen Fällen entsteht dieses Zweitwohnen dadurch, dass die Leute ihrer Arbeit hinterherziehen: Die kommen des Öfteren aus der Arbeitslosigkeit; etwa zwei Drittel haben keine übermäßig gut bezahlte Arbeiten, so dass das erwirtschaftete Einkommen vor allen Dingen nötig ist, um den ersten Lebensort aufrecht zu erhalten. "
Je größer diese Notwendigkeit ist, desto geringer fallen die Investitionen in den zweiten Wohnsitz aus. Was andersherum genauso gilt: Je mehr Geld "übrig" ist, desto wohnlicher wird die Zweitwohnung eingerichtet.
Peter Weichhart sprach von rund 200 000 Personen, bei denen in Österreich die Finanzämter nachfragen, wo denn nun ihr wirklicher Wohnsitz sei - sie haben zwei oder mehrere. Auch in Deutschland reagiert man auf die ansteigende Zahl von Zweitwohnsitzen. Jedoch nicht auf Bundesebene, sagt Gabriele Sturm vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in Bonn. Es sind vor allem größere Kommunen, die Zweitwohnsitze gemeldet haben wollen, teils um sie besteuern zu können, teils um die Stadtplanung überhaupt steuern zu können. Wer heutzutage in eine attraktive Großstadt zieht, wolle auch möglichst gediegen in der City wohnen. Doch hier würden oft mehr kleine Zweitwohnungen gebaut, so Gabriele Sturm:
" Beispiel München - hat zwölf Prozent Zweitwohnsitze auf 100 Prozent Hauptwohnsitze. Wenn ich mir überlege: München hat 1,2 Millionen Einwohner und dann kommen die Zweitwohnsitze dazu, und wenn ich mir dann noch überlege, etwa nur die Hälfte der Leute meldet sich an, also ich musste noch mal soviel da drauf rechnen, dann hätte ich für München etwa ein Viertel mehr Bevölkerung, als München als Hauptwohnsitz hat. Das heißt München hätte nicht 1,2 Millionen Einwohner, sondern 1,5 Millionen Einwohner. "
Viele dieser kleinen Zweitwohnsitze sind aber eher Luxus, werden selten benutzt und stehen ansonsten leer. Welche Auswirkungen das auf ökologische Bilanzen hat, wäre ebenfalls interessant zu wissen. In Summe: der Forschungsbedarf für das moderne multilokale Wohnen ist wirklich immens.
Herr und Frau Kramer gehören damit nicht mehr zu Tagespendlern, sondern wohnen nun multilokal, an mehreren Orten. Sie gehören zu jenen 76 Menschen, die Wissenschaftlern des Deutschen Jugendinstitutes von ihrem neuen Leben berichtet haben. "Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familie" heißt das Projekt, das in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der TU Chemnitz realisiert wird. Das Institut selbst arbeite derzeit etwa 40 derartige Interviews auf, sagt Christine Weiske.
" Wir fragen vor allem die Probandinnen und Probanden: was tut ihr eigentlich und wie tut ihr es? Wir fragen nicht: wie oft tut ihr das? Das heißt, wir sind noch in einer Erkundungsphase. Wir haben ja noch keine oder wenig harte Daten über die Verbreitung dieses multilokalen Wohnens. Aber die Erfahrung, die wir selbst machen können in unserem eigenen Alltagszusammenhängen ist einfach die, dass es immer mehr Leute sind, die auf die Art und Weise ihr Leben organisieren, und immer mehr Menschen empfinden ihre Lebenszusammenhänge nicht mehr als von irgendwo her gegeben, sondern verstehen, dass sie das selber machen wollen, machen können, und dass das eher ihren Lebenszielen entspricht, was sie da tun. "
auch wenn es dann nicht immer aufgehen sollte, was sie sich vorgestellt hatten - wie im Falle unserer Familie Kramer: Nach einigen Wochen war bei Frau Kramer die Freude über die neue Freiheit verflogen: daheim kriselte es; sie kam selten nach Hause; letztlich wollte sich niemand in der Firma an den versprochenen Aufstieg erinnern. Frau Kramer kehrte zurück zur Familie. Neue Strategien mussten erdacht und erprobt werden. "Choreografie der Existenz" nennt es der Wiener Soziologe Peter Weichhart.
Auch das ist kein Einzelfall und nichts Neues. Warum aber wurde das multilokale Wohnen bislang nicht umfassend erforscht? Die Partner der Chemnitzer Soziologen begründen. Zunächst Johanna Rolshoven von der ETH Zürich, ...
" Weil der mobile Mensch suspekt ist. Weil er sich den Ordnungen entzieht. Weil er ein Eigenleben führt, das wir nicht unbedingt nachvollziehen oder nachverfolgen können. Deswegen gefällt mir dieses Interpretationsregister des strategischen Handelns so gut, weil ich denke, das ist vielleicht noch ein autonomer Spielraum, den sich der Staatsbürger, der sehr belastet ist von multiplen Anforderungen, leistet. Er entzieht sich auch, indem er sich in die Zwischenräume begibt. "
Zweiter Partner für die Chemnitzer Soziologen ist die Uni Wien. Peter Weichhart meint, dass Wohnen an mehreren Orten deshalb wenig erforscht sei,
" Weil es als Forschungsthema ziemlich sperrig ist. Die Standardzugänge der Migrationsforschung, die Standardzugänge der Sozialwissenschaften - da passt das Phänomen nicht wirklich hinein. Wir müssen erst Beschreibungsmodi finden, mit deren Hilfe wir diese Struktur erfassen. "
Das beginnt bereits bei der Überschrift. Mathis Stock aus Lausanne gefiel der Terminus "multilokales Wohnen" nicht. Er plädierte für "politopisches Wohnen".
" Cedric Duchène-Laxroix nutzte den Begriff "Archipel". Zum einen, weil er selbst auf drei "Inseln" lebt und arbeitet: in Berlin, Basel und auch in seiner französischen Heimat. In seiner Doktorarbeit hat er das transnationale Wohnen von gut 50 seiner weit über 10 000 Landsleute erforscht, die in Berlin wohnen und meist nur ein bis zweimal nach Frankreich reisen, von Insel zu Insel, sozusagen. "
Signifikante Größen wurden dann doch noch genannt. In Deutschland seien über 350 000 Menschen Wochenendpendler vom Neben- zum Hauptwohnort, sagt die Geographin Darja Reuschke von der Uni Dortmund. Über 2000 Fragebögen hat sie ausgewertet. Ein Viertel der Befragten gab an, eine Nebenwohnung zu besitzen. Speziell untersuchte sie den Anteil von Männern und Frauen, die sich eine Zweitwohnung nehmen:
Reuschke: " Das sind bei den Männern ältere und verheiratete Männer und jüngere Ledige, während es bei den Frauen die jüngeren Ledigen sind und weniger die älteren Verheirateten, und dass die Frauen viel häufiger in einer Lebensgemeinschaft leben ohne Kind oder allein. Während Männer, auch wenn sie berufsbedingt pendeln zwischen Haupt- und Nebenwohnung, in einer Lebensgemeinschaft mit Kindern leben - Familie Kramer. "
Beispiel-Familie Kramer kann wohl auch herangezogen werden, wenn es um den erheblichen materiellen Aufwand für einen Zweitwohnsitz geht. Christine Weiske:
" Durchschnittlich sind es 20 Prozent des erwirtschafteten Einkommens. - In sehr vielen Fällen entsteht dieses Zweitwohnen dadurch, dass die Leute ihrer Arbeit hinterherziehen: Die kommen des Öfteren aus der Arbeitslosigkeit; etwa zwei Drittel haben keine übermäßig gut bezahlte Arbeiten, so dass das erwirtschaftete Einkommen vor allen Dingen nötig ist, um den ersten Lebensort aufrecht zu erhalten. "
Je größer diese Notwendigkeit ist, desto geringer fallen die Investitionen in den zweiten Wohnsitz aus. Was andersherum genauso gilt: Je mehr Geld "übrig" ist, desto wohnlicher wird die Zweitwohnung eingerichtet.
Peter Weichhart sprach von rund 200 000 Personen, bei denen in Österreich die Finanzämter nachfragen, wo denn nun ihr wirklicher Wohnsitz sei - sie haben zwei oder mehrere. Auch in Deutschland reagiert man auf die ansteigende Zahl von Zweitwohnsitzen. Jedoch nicht auf Bundesebene, sagt Gabriele Sturm vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in Bonn. Es sind vor allem größere Kommunen, die Zweitwohnsitze gemeldet haben wollen, teils um sie besteuern zu können, teils um die Stadtplanung überhaupt steuern zu können. Wer heutzutage in eine attraktive Großstadt zieht, wolle auch möglichst gediegen in der City wohnen. Doch hier würden oft mehr kleine Zweitwohnungen gebaut, so Gabriele Sturm:
" Beispiel München - hat zwölf Prozent Zweitwohnsitze auf 100 Prozent Hauptwohnsitze. Wenn ich mir überlege: München hat 1,2 Millionen Einwohner und dann kommen die Zweitwohnsitze dazu, und wenn ich mir dann noch überlege, etwa nur die Hälfte der Leute meldet sich an, also ich musste noch mal soviel da drauf rechnen, dann hätte ich für München etwa ein Viertel mehr Bevölkerung, als München als Hauptwohnsitz hat. Das heißt München hätte nicht 1,2 Millionen Einwohner, sondern 1,5 Millionen Einwohner. "
Viele dieser kleinen Zweitwohnsitze sind aber eher Luxus, werden selten benutzt und stehen ansonsten leer. Welche Auswirkungen das auf ökologische Bilanzen hat, wäre ebenfalls interessant zu wissen. In Summe: der Forschungsbedarf für das moderne multilokale Wohnen ist wirklich immens.