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Vor 100 Jahren   
"Herbstmilch"-Autorin Anna Wimschneider geboren

Als Ärzte Anna Wimschneider rieten, die Viehhaltung aufzugeben, weil die Tiere Auslöser für ihr lebensbedrohliches Asthma seien, war die Bäuerin am Boden zerstört. Dann beschloss sie mit über 60, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. „Herbstmilch“ wurde einer der größten Erfolge des deutschen Buchhandels.

Von Carola Zinner | 16.06.2019
    Filmszene aus Joseph Vilsmaiers „Herbstmilch“: Anna (DANA VAVROVA, l.) leidet sehr unter der eifersüchtigen Schwiegermutter (RENATE GROSSER).
    1988 verfilmte Joseph Vilsmaier "Herbstmilch" (imago/United Archives)
    "Nach der Schule kam die Meiereder-Mutter, um mir das Kochen beizubringen. In meinem Beisein sagte der Vater zu ihr, wenn sich's das Dirndl nicht merkt, haust du ihr eine runter, da merkt sie es sich am schnellsten."
    Anna Wimschneider, Bäuerin aus dem niederbayerischen Rottal, war bereits über 60 Jahre alt, als sie begann, die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben - eines Lebens voller Not und harter Arbeit.
    "Mit neun Jahren konnte ich schon Rohrnudeln, Dampfnudeln, Apfelstrudel und viele andere Dinge kochen. … Ich musste einen Schemel mittragen, weil ich so klein war, dass ich in keinen Topf gucken konnte. Auf den Herd schauen, Schemel hin, einheizen, Schemel weg, zur Anrichte, Schemel hin, wie oft ging das während des Kochens!"
    "Anderen ist es auch schlecht gegangen, damals, wie ich noch aufgewachsen bin, da waren ja auch viel Leut da, viel Familien, denen es auch nicht gut gegangen ist."
    Als Kind in der Rolle der Hausfrau
    Aber kaum jemand hat davon so anschaulich berichtet wie Anna Wimschneider in ihrem Buch "Herbstmilch".
    Am Anfang stand der frühe Tod der Mutter im Kindbett. Anna, geboren am 16. Juni 1919, war das älteste Mädchen unter den acht Geschwistern und hatte fortan auf dem kleinen Hof die Aufgaben der Hausfrau zu übernehmen: Kochen, Waschen, Flicken, dazu noch morgens, vor der Schule, in den Stall zum Melken und dann den kleinen Geschwistern beim Anziehen helfen.
    "So kam ich immer zu spät. Der Lehrer hatte viel Verständnis, der Pfarrer nie. Er sagte, ich müsse eben früher aufstehen, meine Brüder kämen ja auch."
    Die Pfarrer schlägt sie, der Vater auch - sogar die Brüder werden ihr gegenüber gewalttätig, wenn ihr die Arbeit nicht schnell genug von der Hand geht: Es sind patriarchale Machtstrukturen, von denen Anna Wimschneider erzählt; ländliche Verhältnisse, die wenig zu tun haben mit dem Bayern-Idyll des Klischees.
    Eine Stimme für junge, missbrauchte Frauen auf dem Land
    Mit "Herbstmilch" gab Wimschneider jenen eine Stimme, die zuvor nie eine hatten: kinderreichen Frauen, die ihr Leben verloren, weil die Kirche Verhütung untersagte. Kindern, die viel zu früh viel zu hart arbeiten mussten. Heranwachsenden Mädchen, die ständig bedroht waren von sexuellen Übergriffen durch ältere Männer. Und - jung verheirateten Bäuerinnen, die in der hausinternen Hierarchie ganz weit unten standen.
    "Nun war ich schwanger. Als meine Schwiegermutter das merkte, beschimpfte sie mich: Du allein hast Schuld, du wolltest das Kind. Der Albert wollte gewiss keines, und dir werde ich lauter Herbstmilchsuppe geben. Du sollst verrecken bei der Entbindung!"

    "Das kann ich nicht verstehen, dass die Leut das gern lesen. Das ist für mich eine Überraschung, die ich mir nie träumen hätt´ lassen."
    Das Buch, erschienen 1984, wurde zum großen Erfolg. Und Anna Wimschneider avancierte zu einer Art Star des Literaturbetriebs. Die kleine Frau mit dem zum Knoten zurückgekämmten Haar und den verarbeiteten Händen saß in Talkshows, hielt Lesungen ab und ließ sich geduldig immer aufs Neue interviewen. Dabei stets im Hintergrund dabei: Albert, ihr Ehemann und erster Leser.
    "Sie schrieb ganz in sich versunken, und am Abend hat sie es mir vorgelegt zum Lesen – die Formulierungen, die wären mir nie, nie in dieser Einfachheit und Schönheit eingefallen."
    "Das war das Schöne, das werd‘ ich nie vergessen: Ich wähl die Nummer, dann wurde der Hörer abgenommen: Was wui´st´n?"
    Erfolgreiche Verfilmung von Regisseur Joseph Vilsmaier
    Joseph Vilsmaier, Regisseur der erfolgreichen "Herbstmilch"-Verfilmung, erinnert sich noch 30 Jahre später an das erste Telefonat – und an die selbstverständliche Gastfreundschaft, mit der Anna Wimschneider einen Besuch akzeptierte.
    "Dann bist um halb 12 da, dann essen wir, und wie du da aufgenommen worden bist – das war ein großes Erlebnis."
    Der mehrfach preisgekrönte Film wurde zum Auslöser für einen neuen Boom, der weit über den Tod Anna Wimschneiders im Jahr 1993 hinausreichte. Ihr Nachlass, darunter auch zahlreiche Briefe und Manuskripte von Lesern, die ganz ähnliche Kindheitserfahrungen schilderten, liegt heute in der Münchner Staatsbibliothek. Es sind Zeugnisse einer verschwundenen Lebensform. Die sich unter anderem dadurch auszeichnete, dass man Frauen und ihrer Arbeit kaum einen Wert beimaß.
    "Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden!"