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Vor 165 Jahren
Die Geburtsstunde der Litfaßsäulen

Am 5. Dezember 1854 bekam Ernst Litfaß die Erlaubnis, so genannte Anschlag- oder Annonciersäulen aufzustellen, heute bekannt als Litfaßsäulen. Sie wurden zum Massenmedium für Amtsblätter, Nachrichten, Werbung oder Propaganda. Kritiker sprachen von einem Anschlag auf die Meinungsfreiheit.

Von Andrea Westhoff |
    Eine rosafarbene Litfaßsäule am Flinsberger Platz in Berlin.
    Litfaßsäulen haben die Straßen in Berlin lange geprägt (imago stock&people)
    "Mit Lust bleibt das Auge jetzt weilen,
    was Litfaß gestellt uns hier her!
    Er baut sich ein Denkmal von Säulen!
    Na, Litfaß, was willst du noch mehr?"
    Diesen Gassenhauer hörte man in den 1850er Jahren überall in Berlin. Und bis heute ist der Buchdrucker und Verleger Ernst Theodor Amandus Litfaß vermutlich der Mann mit den meisten "Denkmälern" hierzulande – die genaue Zahl ist nicht bekannt, aber mindestens 50.000 Litfaßsäulen stehen in Deutschland.
    Vorbilder in London und Paris
    Dabei stammt die Idee gar nicht von ihrem "Säulenheiligen", wie die Berliner Litfaß scherzhaft nannten:
    "Es gibt Vorläufer für diese Litfaßsäule, in London beispielsweise, wo schon 20 Jahre vorher etwas Oktogonartiges, also auch Gerundetes, aufgestellt gewesen ist, die so genannte Harrissäule."
    Die war mobil, wurde auf Pferdewagen durch die Stadt gezogen, erzählt der Kultur- und Medienwissenschaftler Steffen Damm:
    "Und in Paris gab’s ebenfalls einige Jahre vorher schon Vorläufer: stationäre Säulen, gemauert, und von diesen Vorbildern hat Litfaß sich offenkundig inspirieren lassen und hat eben auch schon sehr frühzeitig durch das Drucken großformatiger Plakate für Aufsehen gesorgt."
    Ein Relief am Litfaß-Denkmal zeigt in Berlin den Erfinder der Litfaß-Säule, Ernst Amandus Litfaß.
    Ein Relief von Ernst Litfaß (dpa)
    Denn als gewiefter Geschäftsmann sicherte er sich das Werbe-Monopol für Berlins Straßen in einem Vertrag mit Karl Ludwig von Hinckeldey, dem Polizeidirektor von Berlin:
    "Dem Buchdrucker Ernst Litfaß wird auf dero persönliches Ersuchen hin gestattet, auf fiskalischem Straßenterrain Anschlagsäulen zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen zu errichten. Genehmigt am 5. Dezember 1854."
    Angriff auf die Meinungsfreiheit?
    Kritiker warfen Litfaß allerdings vor, damit ein "Totengräber" der Meinungsfreiheit zu sein und die Ideale der 1848-er Revolution verraten zu haben, für die er selbst einmal gekämpft hatte:
    "Die Litfaßsäule ist natürlich ein ordnungsstiftendes Instrument. Sie müssen sich das so vorstellen, dass zur damaligen Zeit wild plakatiert wurde. Der Polizeipräsident hatte ein sehr nachhaltiges Interesse daran, die Kommunikation im öffentlichen Raum neu zu ordnen, um letztlich auch Zensurmöglichkeiten zu haben", sagt Damm.
    Doch Litfaß trieb seine Geschäftsidee unbeirrt voran: Den ursprünglichen Plan, öffentliche Bedürfnisanstalten und Brunnen zu ummanteln und zu plakatieren, hatte er verworfen. Stattdessen ließ er 100 "Annoncier-Säulen" anfertigen: bestehend aus einem Betonfundament, einem knapp drei Meter hohen Blechzylinder mit einem gusseisernen Fries aus stilisierten Palmblättern.
    Am 1. Juli 1855 veranstaltete der "Reklamekönig" einen großen Festakt zur Aufstellung der ersten 100 Säulen. Nicht die einzige Aktivität zur Rühmung seiner Säulen, wie Damm ausführt:
    "Es ist in der Tat so, dass Litfaß gerade was die Bewerbungen seiner eigenen Aktivitäten angeht, äußerst vielseitig Marketing betrieben hat. Der hat eine so genannte Annoncier-Polka in Auftrag gegeben, hat sogar Leierkastenspieler mit der Intonierung solcher Loblieder auf die Litfaßsäule beauftragt und dafür gesorgt, dass dieses neue Massenmedium in aller Munde ist."
    Vom Massenmedium zum Wahrzeichen
    Bald stellten auch andere deutsche Städte Litfaßsäulen auf, und sie wurden zu einem der Massenmedien der Moderne: Amtsblatt, Zeitung und Illustrierte in einem: Während der "Einigungskriege" 1864 und 1871 ließ Litfaß, schneller als alle Zeitungen, die neuesten Frontdepeschen plakatieren – in der Weimarer Republik buhlten Streikankündigungen, Wahlplakate, die erste "Persilfrau" und die monatlichen UFA-Filmpremieren um die Aufmerksamkeit – im Nationalsozialismus dominierten Propaganda und Hetzaufrufe – unmittelbar nach dem Krieg machten tausende Suchmeldungen die Litfaßsäulen zu Mahnmalen des Elends – aber bald klebten wieder Weltbewegendes und Werbliches einträchtig nebeneinander.
    Heute scheinen die steinernen Werbetürme obsolet. Aber als im Sommer 2019 ausgerechnet in Berlin fast alle Litfaßsäulen aus dem Straßenpflaster gehievt und auf den Müll geworfen wurden, gab es plötzlich einen Aufschrei. Offensichtlich sind seine "dicken Kinder" nun wirklich zum Berliner Wahrzeichen und Denkmal geworden.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Streit um Litfaßsäulen-Austausch in Berlin - Säulenheilige verschwinden
    Kulturkampf um Litfaßsäulen in Berlin: Im Juli 2019 verschwanden fast alle noch übrigen. Sie landeten auf einer Deponie in Brandenburg und wurden geschreddert, inklusive darauf plakatierter Abschiedszeilen.