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Vor 20 Jahren: Der Durchbruch

Fast jeder erinnert sich an die Bilder vom 9. November 1989: Die Mauer fällt. In einer mittlerweile historischen Pressekonferenz gab Günter Schabowski - auf Nachfrage von Journalisten - die Reiseerlaubnis, die zur Öffnung der Grenzen, dem Fall der Mauer und schließlich zur deutschen Einheit führte. Eine Chronologie.

Von Otto Langels | 09.11.2009
    RIAS-Nachrichten: "7 Uhr, RIAS aktuell. Proteste und Fluchtwelle dauern an. Auch nach der Auswechslung des SED-Politbüros haben in der DDR wieder Zehntausende von Menschen für freie Wahlen demonstriert. Gleichzeitig ging die Massenflucht unvermindert weiter."

    Die dramatischen Ereignisse in der DDR sind am Morgen des 9. November 1989 das beherrschende Thema in den Nachrichten.

    RIAS-Bericht: "In den vergangenen 24 Stunden kamen wieder mehr als 11.000 DDR-Bürger über die CSSR in die Bundesrepublik. Weitere 123 kamen über Ungarn und Österreich nach Bayern. Der Grenzschutz appellierte an die Bundesländer, rund um die Uhr Flüchtlinge aufzunehmen, um die überquellenden Erstlager in Bayern zu entlasten. Bei den andauernden Demonstrationen in verschiedenen Städten der DDR häufen sich unterdessen die Forderungen nach freien Wahlen. Über 25.000 Bürger kamen in Neubrandenburg zu einer Demonstration zusammen. Auch in Halberstadt gab es einen Demonstrationszug mit 10.000 Teilnehmern."

    Seitdem die ungarische Regierung im Mai 1989 begonnen hatte, den Eisernen Vorhang an der Grenze zu Österreich abzubauen und Zehntausende DDR-Bürger ihrem Land den Rücken kehrten, steckt das SED-Regime in einer tiefen Krise. Die Menschen verlassen das Land. Von denen, die bleiben, gehen viele auf die Straße. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, Autor des Buches "Endspiel" über die Ereignisse von 1989:

    "Für all diejenigen, die die DDR für immer verlassen wollten, war die Mauer praktisch am 4. November gefallen, denn seit diesem Tage konnten DDR-Bürger auf direktem Wege von der CSSR in die Bundesrepublik ausreisen, was an dem Wochenende, am 4./5. November auch mehr als 23.000 DDR-Bürger machten, und in den Tagen bis zum 9. November noch einmal etwa 23.000 Menschen abhauten."

    "Das Magdeburger Kabarett Die Kugelblitze hat ein aktuelles Programm auf den Weg gebracht und den Titel gewählt 'Bleib im Lande und wehre dich täglich'. Ein Titel, der die Situation und die neuen Möglichkeiten der Bürger treffend beschreibt."

    Der Journalist Hans Peter Herz liefert am Morgen des 9. November im West-Berliner Rundfunksender RIAS Stimmungsbilder aus der DDR:

    "Selbst das Zentralorgan der SED, dem bisher eindeutig die Palme des Sieges bei der Bestellung und Selbstherstellung von Leserbriefen zufiel, musste sich jetzt bequemen, echte Leserbriefe zu veröffentlichen. Und die hatten es in sich. Da wurde mit der Berichterstattung des Blattes über die Flüchtlinge aus der DDR hart ins Zeug gegangen, Fälschungen wurden Fälschungen genannt, Erfindungen Erfindungen."

    Um 10 Uhr tritt das Zentralkomitee der SED zusammen, neben dem Politbüro das mächtigste Gremium der Partei. Nach dem Sturz Erich Honeckers drei Wochen zuvor steht jetzt Egon Krenz als neuer Generalsekretär an der Spitze der Sozialistischen Einheitspartei.

    "Seit dem 8. November tagte das Zentralkomitee der SED, es war eine dreitätige Sitzung, die ging insgesamt bis zum 10. November. Und diese Sitzung war denkwürdig und geradezu spektakulär, weil ja nicht nur die Parteiführung und die einzelnen Sekretärsposten in den Bezirken neu besetzt wurden, sondern so schnell wie die besetzt wurden, sind die auch schon wieder abberufen worden. Es war also ein permanentes Hin und Her. Und das zeigte sehr anschaulich die Kopflosigkeit der Führung. Die wusste nicht mehr so richtig, was zu tun ist."

    Erstmals informiert Parteichef Egon Krenz das Zentralkomitee über die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes. Langjährige ZK-Mitglieder sind erschüttert und klagen, sie seien die ganze Zeit belogen und betrogen worden. Als hätten sie sich nicht ein eigenes Bild von den Zuständen in der DDR machen können:

    "Es war zwar ein Staatsgeheimnis, aber es war kein Geheimnis, wie es um die Wirtschaft der DDR und um die Umwelt der DDR aussah. Das konnte ja jeder, der in der DDR lebte, mehr oder weniger Tag für Tag besichtigen. Krenz selbst hatte eine Kommission gebeten, einen - wie er es nannte - ungeschönten Bericht über die Wirtschaftssituation in der DDR vorzulegen. Dieser berühmte Schürer-Bericht kam dann letztendlich zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaft der DDR am Ende sei. Sie sei bankrott und wenn man das Land überhaupt noch retten wolle, dann müsse man erheblich die Subventionsleistung zurückfahren, man müsse die Sozialleistung zurückfahren und man müsse in Kauf nehmen, den Lebensstandard der DDR-Bevölkerung beträchtlich abzusenken, was in dem Falle auch heißen müsste, noch weiter abzusenken."

    Um die protestierenden Massen auf den Straßen zu beruhigen, schlägt Egon Krenz dem Zentralkomitee ein Gesetz über Vereinigungsfreiheit, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen sowie die Bildung einer Koalitionsregierung vor, ohne allerdings konkrete Termine zu nennen. Doch die sogenannten Blockparteien, bisher bloße Erfüllungsgehilfen der SED, distanzieren sich nun schrittweise von Krenz und seinen Genossen. So erklärt der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Manfred Gerlach:

    "Ich werde auch davon ausgehen, dass jetzt und in aller Zukunft die Parteien in der DDR alle selbstständig sind und unabhängig und ein eigenes Ziel haben, eine eigene Politik betreiben; und dass es eine ganz klare Souveränität gibt der Parteien und auch unserer Partei und dass ein Hineinreden etwa durch die SED völlig ausgeschlossen ist."

    Der Generalsekretär der SED hingegen appelliert an das 200-köpfige Zentralkomitee, die Errungenschaften des DDR-Sozialismus nicht kampflos preiszugeben. Auch Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, betont gegenüber Journalisten, die Sozialistische Einheitspartei werde an ihrem Führungsanspruch festhalten:

    "Der ist auch nicht völlig neu zu definieren. Es ist vielmehr so nach meinem Eindruck und meiner Erfahrung, dass die Elemente, die Teile dieser Definition sind, in der Vergangenheit nicht in dem Maße zur Geltung gekommen sind, wie es notwendig ist."

    Doch die oppositionelle Bürgerbewegung lässt sich mit Phrasen nicht länger abspeisen, sie fordert grundlegende Reformen. Konrad Elmer, Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR:

    "Ich denke, es ist ganz dringend, dass Egon Krenz so etwas wie einen Wahltermin bekannt gibt, damit eben Leute wieder Hoffnung schöpfen, dass es hier wirklich unumkehrbar vorwärts geht zu einer parlamentarischen Demokratie. Ich denke, die Vertrauensfrage ist die entscheidende. Wenn das nicht gelingt, wird bald alles zu spät sein."

    Während das Zentralkomitee im SED-Gebäude am Werderschen Markt die aktuelle politische Lage berät, sitzen im DDR-Innenministerium vier Vertreter der Pass- und Meldeabteilung und der Staatssicherheit zusammen, um im Auftrag des Politbüros das vorgesehene Reisegesetz zu überarbeiten. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk:

    "In diesen Tagen waren die Debatten um ein Reisegesetz ganz zentral. Die SED-Führung hatte im Neuen Deutschland einen Entwurf für ein Reisegesetz veröffentlicht. Hätte sie das vier oder sechs oder acht Wochen vorher getan, dann hätte man ihr das wahrscheinlich dankbar abgenommen. Man hätte sie unter Umständen auch so ein bisschen ein paar Stunden lang gefeiert, aber nun kam das alles zu spät, weil in diesem Entwurf immer noch Voraussetzungen formuliert waren. Man sollte als zukünftiger Reisender immer noch als Bittsteller vor den Staat treten. Das hat eigentlich die Situation überhaupt nicht verbessert, sondern eher noch verschlimmert."

    "Nun stand plötzlich die Situation, dass wir tatsächlich nur den Teilkomplex der ständigen Ausreise aus der DDR in eine Regelung fassen sollten."

    Berichtet Gerhard Lauter, damals Leiter der Pass- und Meldeabteilung im DDR-Innenministerium:

    "Es hätte aus unserer, insbesondere aus meiner Überzeugung folgende Situation hervorgebracht, dass nämlich jeder, der das Land für immer verlassen wollte, das ab sofort und ohne das bisher übliche, äußerst schwierige und zum Teil traumatische Verfahren hätte gekonnt, aber alle, die wirklich nur reisen wollten und wiederkehren wollten in die DDR, die DDR-Bürger bleiben wollten, die hätten das nach wie vor nicht gekonnt und hätten auf eine gesetzliche Lösung weiter warten müssen. Wir hätten die Leute weiter aus dem Land vertrieben, und es hätte aus meiner Sicht zu einer tiefen, weiteren Destabilisierung der politischen Verhältnisse, auch wirtschaftlichen Verhältnisse der DDR beigetragen."

    RIAS-Bericht: "RIAS 1 - Rundschau, 13.12 Uhr ist es. So schnell geht das plötzlich. Die angekündigten Reiseerleichterungen in der DDR haben bereits zu ersten Urlaubsanfragen in der Bundesrepublik geführt. Wie die Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe in Münster mitteilt, erreichten sie in den vergangenen Tagen mehrere Bitten um Zusendung von Preisangeboten für Urlaub auf dem Bauernhof im Münsterland, Sauerland oder im Teutoburger Wald."

    In der Mittagspause der ZK-Sitzung trifft SED-Generalsekretär Egon Krenz den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Rau weilt in Ost-Berlin, um eine Kunstausstellung seines Bundeslandes in der DDR zu eröffnen. Nach dem Gespräch tritt er gegen 15 Uhr vor die Presse:

    "Ich habe Fragen gestellt nach dem Entwurf des Reisegesetzes, das nach der Meinung der politischen Parteien in der Bundesrepublik, aber nicht nur da, sondern auch bei den Bürgern hier in der DDR als nicht zureichend empfunden wird. Wir haben über die Möglichkeit der Verbesserung dieses Gesetzentwurfes gesprochen, aber auch über die Frage, wie denn solche Reisen finanziert werden können. Und ich denke, dass hier Gespräche zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR fällig sind, in denen man miteinander Wege sucht, damit wirklich Chancen zu solchen Reisen bestehen."

    Zu diesem Zeitpunkt hat die Arbeitsgruppe im Innenministerium unter Oberst Gerhard Lauter den Entwurf für eine Ausreiseregelung bereits formuliert und an das Zentralkomitee weitergeleitet. In einer "Zigarettenpause" bestätigen einige Mitglieder des Politbüros die Vorlage. Kurz vor 16 Uhr spricht Egon Krenz das Thema in der ZK-Sitzung an:

    "Heute ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet: die Frage der Ausreisen. Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie ja früher auch die ungarischen. Und was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt. Schließen wir die Grenze zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können und auf diese Art und Weise ihren Einfluss auf uns ausüben."

    Dann nimmt Egon Krenz den Entwurf zur Hand. Das Politbüro habe die Ausreiseregelung bereits bestätigt, er wolle sie aber wegen ihrer Bedeutung verlesen:

    "Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft: a) Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt, Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. b) Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. c) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen. Ich sagte, wie wir es machen, machen wir es verkehrt, aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist."

    Nur wer einen Reisepass besitzt, und das sind etwa vier Millionen DDR-Bürger, soll ein Visum bekommen. Alle anderen müssen das Dokument erst beantragen. Das Zentralkomitee stimmt der Reiseverordnung zu. Aber wohl längst nicht alle Mitglieder sind sich der Tragweite der Entscheidung bewusst. Auch unterlässt es die SED-Führung, die Verbündeten in Moskau über den weitreichenden Schritt zu unterrichten, ein Vorgang der Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre:

    "Die DDR war 40 Jahre abhängig von der Sowjetunion, keine Entscheidung von mittlerer Tragweite war ohne Placet Moskaus gefällt worden. Und nun gewissermaßen die Selbstaufgabe der DDR, das machen die jetzt erst mal unter sich aus und allein. Auf der anderen Seite muss man schon davon ausgehen, dass natürlich Gorbatschow über die Vorgänge sowohl in der SED-Führung wie in der Regierung wie auch in der DDR selbst sehr gut informiert war."

    Während in Ost-Berlin das ZK die neue Reiseverordnung verabschiedet, informiert in Bonn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Presse über die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen. Man habe inzwischen 140 Notunterkünfte eingerichtet:

    "Viele, vielleicht sogar die meisten werden möglicherweise schlechter untergebracht sein, als sie es bisher gewohnt waren. Auch aus diesem Grund, auch im Hinblick auf die bevorstehende kalte Jahreszeit, sollte sich jeder Deutsche in der DDR den Schritt, zu uns zu kommen, sorgfältig überlegen. Ich füge allerdings hinzu, wir werden jeden aufnehmen, heute, morgen und in aller Zukunft, wir werden keinen zurückweisen."

    Die Reiseverordnung der DDR soll, so hat es die Arbeitsgruppe um Gerhard Lauter vorgeschlagen, am nächsten Morgen um 4 Uhr früh veröffentlicht werden, damit sich die Pass- und Meldeämter auf den erwarteten Massenansturm vorbereiten können. Egon Krenz ignoriert jedoch die Sperrfrist und drückt Günter Schabowski die Verordnung und eine entsprechende Pressemitteilung in die Hand. Schabowski fungiert in diesen Tagen als Sprecher des SED-Zentralkomitees. Er fährt ins Internationale Pressezentrum in der Mohrenstraße, wo um 18 Uhr die tägliche Unterrichtung der Journalisten beginnt.

    Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk:

    "Zu diesem Zeitpunkt, als die Pressekonferenz begann, waren bereits alle Polizeikreisämter und alle Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei von diesen Beschlüssen informiert, weil sie sich darauf einstellen sollten, dass ab nächsten Morgen acht Uhr die Menschen bei ihnen vor den Büros stehen und sich die entsprechenden Genehmigungen holen sollten."

    Zunächst muss Günter Schabowski, der jahrelang als Chefredakteur der Parteizeitung Neues Deutschland die Pressepolitik der DDR mitbestimmt hat, sich kritische Fragen ostdeutscher Kollegen anhören:

    "Was hast du selbst gegen den Personenkult getan, der in unserer Presse betrieben wurde, beispielsweise gegen eine so übergeschnappte Idee vom 12.3.84 im Neuen Deutschland, 43mal das Bild Erich Honeckers zu veröffentlichen."

    Erst um 18.53 Uhr, kurz vor dem Ende der einstündigen Pressekonferenz, die live im DDR-Hörfunk und -fernsehen übertragen wird, erteilt Schabowski einem italienischen Journalisten das Wort. Dass dieser - auf den Tipp eines DDR-Kollegen hin - ausgerechnet nach der Reiseregelung fragt, nährt bis heute Spekulationen, Schabowskis scheinbare Ratlosigkeit, sein Wühlen in Unterlagen, seien inszeniert gewesen.

    "Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der - wie man so schön sagt - die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht über einen befreundeten Staat, was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."

    "Ab sofort?"

    "Also Genossen, mir ist dies mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist, sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt."

    "Wann tritt das in Kraft?"

    "Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich."

    "Niemand, den ich kenne, hat am Morgen des 9. oder am Nachmittag des 9. November gesagt, heute Abend wird die Mauer fallen. Das war natürlich außerhalb der Vorstellungswelt. Ich selber habe die Pressekonferenz live gesehen und habe ehrlich gesagt das nicht verstanden und bin dann irgendwann ins Bett gegangen. Womit die nicht gerechnet haben, war, dass die Menschen nun nicht mehr, wie sie das jahrelang gewohnt waren, auf irgendwelche Genehmigungen warten würden, sondern dass die einfach zur Mauer rannten bzw. in Leipzig oder in Rostock oder in Dresden einfach zum Bahnhof gingen und zu den Reichsbahnangestellten sagten, ich möchte jetzt eine Karte in die Bundesrepublik, eine Fahrkarte, und die das natürlich auch total überrascht hat."

    Während die Journalisten noch rätseln, ob sie Günter Schabowskis verwirrende Mitteilung als Grenzöffnung interpretieren und verbreiten sollen, macht dieser deutlich, dass keineswegs die Beseitigung der Berliner Mauer geplant sei.

    "Herr Schabowski, was wird mit der Berliner Mauer jetzt geschehen?"

    "Ich werde darauf aufmerksam gemacht, es ist 19 Uhr, das ist die letzte Frage, ja. Haben Sie Verständnis dafür. Was wird mit der Berliner Mauer? Es sind dazu schon Auskünfte gegeben worden, in Zusammenhang mit der Reisetätigkeit. Die Frage des Reisens, die Durchlässigkeit der Mauer von unserer Seite beantwortet noch nicht und ausschließlich die Frage nach dem Sinn also dieser - ich sag's mal so - befestigten Staatsgrenze der DDR."

    "Das Entscheidende aber an diesem 9. November, das muss man immer wieder betonen: Dieser Mauerfall war nicht wirklich ein Mauerfall, sondern er war ein von der Gesellschaft erzwungener Mauerdurchbruch. Denn Krenz und Schabowski und die anderen in der Parteiführung kamen ja überhaupt nur auf die Idee, ein solches Reisegesetz zu verkünden, solche Regelungen zu verkünden, weil sie erheblich unter Druck standen, weil die Gesellschaft sie unter Druck stellte und weil jeden Tag neue Forderungen kamen. Und sie versuchten nun mit diesem Reisegesetz Druck von dem brodelnden Kessel abzulassen, und dass man dann hoffte, die Mauer wieder schließen zu können, um dann den Laden gewissermaßen so zu reformieren, wie man sich das dachte. Insofern war das auch kein Irrtum der Geschichte, wie es jetzt immer so behauptet wird, es war auch nicht ein Versprecher, den Herr Schabowski da auf dieser berühmten Pressekonferenz von sich gegeben hat, sondern es war schon Teil eines Kalküls, die Gesellschaft, den Staat wieder in den Griff zu bekommen. Das das nicht geklappt hat und wie das inszeniert wurde, das war großer politischer Dilettantismus."