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Vor 20 Jahren wurde der Demonstrant Günter Sare von der Polizei überfahren

Für Polizei und Justiz war er ein bedauerlicher Unglücksfall, für viele aus der linken Frankfurter Protestszene glatter Mord: der Tod des Demonstranten Günter Sare am 28. September 1985 in Frankfurt am Main. In jedem Fall aber war er ein Politikum, denn während die Justiz und ein von SPD- Innenminister Winterstein beauftragter Sonderermittler noch den "Fall Sare" untersuchten, wurde Joschka Fischer Umweltminister unter dem sozialdemokratischen Regierungschef Holger Börner, der einst "gegen diese Leute" mit der Dachlatte hatte vorgehen wollen.

Von Wolfgang Stenke | 28.09.2005
    "Dort, wo gestern Abend ein 36jähriger Demonstrant von einem Wasserwerfer überrollt worden war, lagen heute Blumen auf der Straße. 40 bis 50 Personen hielten Mahnwache. Als die Polizei anrückte, kam es erneut zum Handgemenge. Zwei Demonstranten wurden leicht verletzt."

    Der 36-jährige Demonstrant, der am 28. September 1985 in Frankfurt den Tod fand, hieß Günter Sare. Er war von Beruf Schlosser und gehörte zur linksautonomen Szene. Sare protestierte an diesem Samstag gegen eine Versammlung der rechtsradikalen NPD, die ausgerechnet im Bürgerhaus des Frankfurter Gallus-Viertels stattfand - ansonsten eine Domäne der Linken. NPD-Gegner vieler Richtungen - von Stadtteil- und Migrantengruppen bis zur so genannten. "Antifa"- konterkarierten die ausländerfeindlichen Parolen der Rechtsradikalen zunächst friedlich mit einem multikulturellen Nachbarschaftsfest. Am Abend aber eskalierte die Situation.

    Gegen 20 Uhr beginnen Militante damit, Steine, Flaschen und Farbbeutel auf die NPD-Anhänger zu werfen. Die Polizei greift ein, zwei Wasserwerfer fahren auf. An der Kreuzung Frankenallee / Hufnagelstraße steuert einer der 26-Tonner auf eine Demonstrantengruppe zu. Sie rennt auseinander - nur einer bleibt stehen: Günter Sare. Getroffen vom Strahl des Wasserwerfers, wird er von dem Fahrzeug überrollt. Ein Medizinstudent leistet Erste Hilfe - gemeinsam mit einem Arzt und einem Sanitäter.

    "Das war sehr schwer möglich, weil die Polizei uns behindert hat bei der Versorgung anfangs. (...) Wir haben dann mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln (...) die Versorgung soweit aufrechterhalten können, dass, ja, man kann nicht sagen, (...) wann der Tod eingetreten ist, kann ich auch selber nichts zu sagen. Wir haben auch über 20 Minuten reanimiert und versucht, Kreislauf durch externe Herzmassagen aufrechtzuerhalten. Soweit das möglich war."

    Günter Sare blutete stark aus dem Kopf. Die Hinterachse des Wasserwerfers hatte seinen Brustkorb eingedrückt. Erst nach 20 Minuten kam der Notarztwagen. Da war Günter Sare bereits gestorben. Für Polizei und Justiz ein bedauerlicher Unglücksfall, für viele aus der linken Frankfurter Protestszene glatter Mord. Im Herbst des Jahres 1985 auf jeden Fall aber ein Politikum. Denn die hessischen Grünen verhandelten gerade mit den Sozialdemokraten über eine Koalition auf Landesebene. Während die Justiz und ein von SPD- Innenminister Winterstein beauftragter Sonderermittler noch den "Fall Sare" untersuchten, wurde Joschka Fischer Umweltminister unter dem sozialdemokratischen Regierungschef Holger Börner, der einst "gegen diese Leute" mit der Dachlatte hatte vorgehen wollen. In den Augen von Mitgliedern kommunistischer Gruppen ein klarer Fall: Fischer und Cohn-Bendit hatten die Basis verraten. Bei einem Hearing zum Fall Sare in der Frankfurter Universität forderte die Ultralinke den Rückzug der Grünen aus der Regierung und agitierte für eine Politik des militanten Widerstandes. Fischer, der ehemalige Frankfurter Straßenkämpfer, setzte sich zur Wehr, verwies auf die Bedeutung des Rechtsstaates und Veränderungen in der "Gewaltfrage":

    "Wir Grünen sind durch Überzeugung gewaltfrei geworden. Ich zumindest bin gewaltfrei geworden aus Überzeugung." - "Heuchler!" - "Und da magst Du deine Eier schmeißen, magst Dich alterieren - nur mit einer Politik, die versucht, neuen gesellschaftlichen Konsens zu organisieren, der auf Mehr an Gewaltfreiheit basiert und nicht einem Mehr an Gewalt, nur eine solche Politik wird Möglichkeiten schaffen, in dieser Gesellschaft die notwendigen Veränderungen wirklich durchzuziehen. Wer davor die Augen schließt, der handelt sich die Niederlage und die Zerschlagung selbst ein. Das finde ich katastrophal für alle, die in diesem Land erreichen wollen, dass es besser wird."

    Die gerichtliche Auseinandersetzung um den Tod von Günter Sare ging durch zwei Instanzen. Im November 1990 sprach das Landgericht Frankfurt die Besatzung des Wasserwerfers vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Der Demonstrant selbst, der vor der Kollision Alkohol und Haschisch konsumiert hatte, habe die Verkehrslage falsch eingeschätzt. Während einer Demonstration, so erklärte das Gericht, herrsche eine "Kampfsituation" - und jedem Demonstranten sei bewusst, dass er auf Wasserwerfer zu achten habe.