Als der 26-jährige Johann Wolfgang Goethe am 7. November 1775 morgens um fünf Uhr in Weimar aus der Kutsche stieg, dürfte er sich gewundert haben. Die dunklen Straßen, auf die der Frankfurter Bürgersohn seinen Fuß setzte, waren mit Mist und Morast bedeckt, Hühner liefen herum und das Schloss ragte als Brandruine in den Nachthimmel. Was um alles in der Welt hatte den Rechtsanwalt und genialen Dichter des "Götz von Berlichingen" und des "Werther" hierhin verschlagen? Dazu der langjährige Präsident der Klassikstiftung Weimar Hellmut Seemann:
"Dieser Gang nach Weimar ist ja von vielen Goethe immer wieder vorgeworfen worden. Sowas macht man nicht als Nationaldichter der Deutschen, einfach in so eine Provinzresidenzstadt zu gehen."
Angefangen hatte es im Dezember 1774. Die jungen Weimarer Prinzen Carl August und Constantin machten auf einer Reise Station in Frankfurt am Main. Ihr Erzieher, Carl Ludwig von Knebel, Offizier mit literarischen Neigungen, wollte den berühmten Goethe kennenlernen und besuchte ihn unangemeldet. Goethe war überrascht.
"Ich glaube, bei diesem ursprünglichen ersten Treffen hat Goethe nur das, was er immer hat: nämlich Neugier. Er hat Lust zu leben, Lust zu reisen, Menschen kennen zu lernen, und deswegen lässt er sich mit Lust ablenken."
Mittagessen mit den Prinzen
Goethe und Knebel sind einander auf Anhieb sympathisch. Man verabredet sich zum Mittagessen mit den beiden Prinzen und ihrer Begleitung in einem Gasthof.
"Als er da ankommt, sieht er: Das sind nicht nur wohlerzogene und interessierte Menschen, die er da antrifft, sondern das sind offenbar auch Leute, die Bücher lesen. Denn auf dem Tisch liegt eben – wenn auch noch unaufgeschnitten – der Band 'Patriotische Phantasien'."
Die "Patriotischen Phantasien" waren ein damals berühmtes rechtspolitisches Werk: ein Lob der deutschen Kleinstaaten, die aufgrund der Nähe zwischen Volk und Herrschern besser und humaner als zentralistische Länder zu regieren seien. Goethe kannte das Buch und glänzte mit einem spontanen Kurzreferat, so Hellmut Seemann:
"Und das finden die gleich hochinteressant, weil sie denken: Der könnte ja tatsächlich auch ganz andere Aufgaben in einem kleinen Fürstentum wahrnehmen als nur die, das Glanzlicht eines Hofes zu sein."
Flucht vor dem nervigen Vater
In diesem Augenblick gewann ein Experiment Konturen: Könnte Goethe nicht dem Weimarer Hof zugleich als Schriftsteller und Politiker dienen? Für Goethe ein anziehender Gedanke, denn er hatte auch ganz persönliche Gründe, Frankfurt zu verlassen. Liebeskummer zum Beispiel. Und: Der Vater nervte. Dazu Hellmut Seemann:
"1774 ist Goethe ein berühmter Mann. Sitzt aber bei seinem Vater im Haus. Und der Vater ist auch genau der Typ, der zweimal am Tag sagt: So lange du deine Füße unter meinen Tisch setzt, hast du mir bitte jetzt zu sagen, wo du gerade hingehst."
Herzog Carl August erweist sich als seelenverwandt
Im Laufe des Jahres 1775 verfestigten sich die Weimar-Pläne, schienen dann in letzter Minute fehlzuschlagen, bis Goethe doch noch nach einer rasanten mehrtägigen Kutschfahrt in Weimar landete. Rasch war er hier ein Herz und eine Seele mit dem jungen Herzog Carl August. Man jagte und feierte, Goethe wurde zum Minister befördert – verstummte allerdings vorerst als Dichter.
Finanzminister Goethe tritt auf die Schuldenbremse
Immerhin: Goethe sanierte den überschuldeten Haushalt des Herzogtums und zog weitere Schriftsteller und Intellektuelle in das Fürstentum. Und ab Mitte der 80er-Jahre schrieb er wieder: All die Dramen, Romane und Gedichte, die heute zum Kern dessen zählen, was man die Weimarer Klassik nennt. Also, sagt Hellmut Seemann:
"Für Weimar hat es sich auf jeden Fall gelohnt. Eigentlich müsste Weimar den 7. November als seinen Goethe-Festtag feiern. Denn wäre Goethe nicht nach Weimar gekommen, wäre diese Stadt um ein entscheidendes Asset, wie man heute sagt, entreichert."
Und die traditionell zersiedelte deutsche Literaturlandschaft gewann in Goethes Weimar zum ersten Mal ein Zentrum, das seinen Glanz bis heute bewahrt.