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Vor 50 Jahren aus dem Boden gestampft

Es war ein Kraftakt, für den es praktisch kein Vorbild gab: Brasilien - das fünftgrößte Land der Welt - wollte eine neue Hauptstadt errichten. Unter der Leitung des Stadtplaners Lúcio Costa und des Architekten Oscar Niemeyer wurde im Niemandsland Brasiliens ab 1956 innerhalb von vier Jahren eine Stadt in der Form eines Flugzeugs für 500.000 Bewohner aus dem Boden gestampft.

Von Ole Schulz | 21.10.2006
    Dass diese Stadt irgendwie anders "tickt", merkt man bereits bei der Ankunft. Allein dem Taxifahrer eine vollständige Adresse mitzuteilen, ist nicht einfach: SQS 310, also "Superquadra Sul", Wohnquartier Süd 310, Block B, im "Asa Sul", im Süd-Flügel Brasílias.

    Die zweite Überraschung: Innerhalb der Wohnviertel ist es angenehm ruhig und grün. Vögel zwitschern, und einige Kinder spielen auf der Straße.

    " Es heißt, entweder betet man diese Stadt an, oder man hasst sie. Es gibt sehr viele gute Dinge in Brasília, wie etwa der große Anteil an Grünflächen, aber es gibt auch einige schlechte Sachen, zum Beispiel ist es, vor allem im Zentrum, selten, sich einfach so auf der Straße zu treffen, wie es in anderen Städten möglich ist."

    Paulo Castilho ist Architekturprofessor an der UnB, Brasílias staatlicher Universität. Was Castilho mit den "guten" und "schlechten" Eigenheiten der Stadt meint, merkt man schnell, wenn man Brasília zu Fuß erkunden will. Zunächst ist man positiv überrascht, dass die Autos auf den Straßen innerhalb der Wohnquartiere tatsächlich an den Zebrastreifen anhalten, sobald sich ein Fußgänger nährt. Denn in keiner anderen Großstadt Brasiliens sind die Autofahrer so zuvorkommend.

    Doch wer eine der mehrspurigen Hauptverkehrsachsen zu überqueren versucht, wird an dem dichten, zähflüssigen Autoverkehr scheitern. Am Ende muss man doch mehrere hundert Meter zu einer Unterführung gehen, durch die man auf die andere Straßenseite gelangt.

    " Als Lúcio Costa die Stadt plante, vor allem die Wohngebiete im so genannten "Plano Piloto", dem Kernbereich Brasílias, ging man davon aus, dass die Bewohner innerhalb ihrer Wohngebiete alles zu Fuß, ohne Autos, erreichen könnten. Nur das Familienoberhaupt würde mit dem Auto zur Arbeit fahren. Doch heute benutzt fast jeder ein Auto."

    Brasília - das ist eine Realität gewordene Utopie, der Traum einer neuen Hauptstadt irgendwo im Landesinneren Brasiliens, weit weg von den großen Metropolen des Landes. Präsident Juscelino Kubitschek hatte die Losung ausgegeben:

    " Wir müssen unser Land erobern, unsere Erde in Besitz nehmen, nach Westen marschieren, dem Meer unseren Rücken zu kehren."

    Vor fast genau 50 Jahren - am 22. Oktober 1956 - begann schließlich das gewaltige Vorhaben mit der Errichtung des "Catetinho", des provisorischen Präsidentenpalastes.

    Über Zeitungen, Radio und Fernsehen ließ Kubitschek um Arbeiter für sein großes Projekt werben. Einer von denen, die an den Aufbruch glaubten, den der Präsident verkündete, war Raimundo Bento.
    Als 15jähriger Analphabet machte er sich auf einem Lastwagen aus dem armen Nordosten des Landes auf den Weg:

    " Acht Tage hat die Reise gedauert, eine 3000 Kilometer lange Strecke, zum Teil ohne Straßen. Ich hatte vorher noch nie richtigen Asphalt gesehen. Dort, wo ich aufgebrochen bin, gab es nur staubige Wege und, als wir auf dem Weg durch Minas Gerais kamen, merkte ich, dass der Wagen auf einmal ruhiger fuhr und nicht mehr so stark wackelte, und da sah ich eine schwarze Piste, vorher hatte ich noch nie eine asphaltierte Straße gesehen."

    Raimundo Bento ist einer, den man in Brasília einen "Pioneiro", einen Pionier, oder auch "Candango" nennt. Letzteres bedeutet: "gewöhnlich", "schäbig". "Candangos" - so wurden einst die meist mittellosen Emigranten bezeichnet, die Brasília im Eiltempo bis 1960 aus dem Boden stampften. Heute nennt man alle Bewohner Brasílias "Candangos". Und das ist keinesfalls abwertend gemeint. Im Gegenteil: Jemand wie Raimundo Bento ist stolz auf Brasília.

    " Brasilía hat eine unvergleichliche Sonne, eine besondere Energie, es ist die beste Stadt Brasiliens, in der selbst die Fußgänger respektiert werden. Auch in spiritueller Hinsicht ist Brasília anders - Menschen aller Religionen leben hier ohne Probleme zusammen. Für mich ist die Stadt wie eine Arche Noah."

    Wenn man heute durch Brasília spaziert, hat man manchmal das Gefühl, sich in einer künstlichen Welt zu bewegen: Alles ist so geordnet und aufgeräumt. Brasília - eine Stadt, die wie in einem Lied von Cássia Eller plötzlich als eine zweite Sonne auf dieser Welt erschienen ist.

    Heute lässt es sich gut in Brasília leben. Es ist die Stadt mit dem höchsten Lebensstandard Brasiliens, und entsprechend hoch sind die Mieten. In den schicken Appartementhäusern können deshalb auch nur jene Wohnen, die ein überdurchschnittliches Einkommen haben.

    All die Dienstmädchen, Gärtner und Pförtner, die hier arbeiten, leben dagegen in den Satellitenstädten der Umgebung - so wie Ademeiro Moreira da Silva: er pflegt die Grünflächen zwischen den Wohnhäusern.

    " In den Satellitenstädten leben verschiedene soziale Klassen - von den Unterschichten bis zur Mittelklasse; es gibt aber auch Überfälle, Morde und all diese Sachen. Was ich verdiene reicht eigentlich nicht zum Leben. Es wäre besser, wenn der Lohn, vor allem der Mindestlohn, erhöht würde."

    Wer dagegen in Brasília groß wird, der bewegt sich in einer anderen Welt. Das weiß auch Rosenthal Schlee, der Dekan des Architektur-Fachbereichs der Universität. Schlee lebt seit vier Jahren in Brasília - nicht lange genug, um sich selbst einen "Candango" zu nennen.

    " Was macht ein privilegierter Jugendlicher in Brasília? Er wird am Morgen mit einem Bus direkt zu seiner Privatschule gebracht. Er hat keinen Kontakt mit anderen Schichten, es gibt keine soziale Mischung; er lebt wie auf einer Insel."

    Dass Brasília gleichwohl eine besondere, vielleicht auch magische Atmosphäre hat, merkt man spätestens in der Abenddämmerung, dann, wenn man die Sonne zum letzten Mal sieht. Jetzt fällt einem auf, dass es in Brasília keinen Horizont gibt, dass der Himmel mit seiner gleißenden Sonne alles dominiert: das Unendliche als Gegensatz zur Geometrie der Gebäude.