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Vor 500 Jahren in Venedig
Das erste jüdische Ghetto in Europa

Der Senat von Venedig entschied am 29. März 1516, vor 500 Jahren, dass ein Viertel geschaffen werden sollte, in dem fortan Juden leben würden. Trotz der räumlichen Trennung waren in Venedig die Beziehungen von jüdischen und christlichen Venezianern eng und relativ gut.

Von Thomas Migge | 24.03.2016
    Enge Gassen an einem Seitenkanal in der Lagunenstadt Venedig.
    Bis zur Schaffung des ersten Judenghettos lebten die Juden in der Lagunenstadt relativ unbehelligt (picture alliance / dpa / Matthias Schrader)
    "Die etymologische Tradition besagt, dass das Wort Ghetto sich auf einen uralten Metallofen bezieht. Und der stand in der Gegend, wo später das Ghetto entstand. Im venezianischen Dialekt bedeutet 'geto': Gießerei."
    Sagt ein Fremdenführer in Venedig. Das Wort Ghetto wurde in Venedig übertragen als Bezeichnung für ein abgetrenntes Wohnviertel nur für Juden. Das erste seiner Art in Europa. Entstanden 1516 im venezianischen Stadtviertel Cannaregio. Vor genau 500 Jahren. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte, erklärt die in Rom lehrende Historikerin Anna Foa, die sich auf die Geschichte der italienischen Juden spezialisiert hat, wird eine Bevölkerungsgruppe räumlich von einer anderen getrennt. Mitten in einer Stadt:
    "Der Senat der Seerepublik Venedig traf die Entscheidung: Dieser genau begrenzte Ort für Juden sollte nachts geschlossen und erst morgens wieder geöffnet werden. Ein Ort, der zum Prototyp aller späteren Ghettos wurde. Doch anders als in Rom, wo 1555 ein Ghetto eingerichtet wurde und wo man Juden in einen räumlich begrenzten Ort zwang, um sie zum Christentum zu bekehren, lag dem venezianischen Senat nur daran, die einen von den anderen zu trennen."
    Juden sollten bleiben - in einem eigenen Viertel
    Nun war es nicht so, dass im damaligen Venedig besonders viele Bürger jüdischen Glaubens lebten. Im Gegenteil, weiß Anna Foa:
    "Im 14. und 15. Jahrhundert, angesichts der vielen Kriege in Italien, flohen vor allem aschkenasische Juden ins sichere Venedig. Es waren wenige, und sie lebten über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Im Senat wurde dennoch heftig und lange über sie debattiert. Zunächst sah es so aus, als ob man die Juden davon jagen wollte, doch dann hieß es, sie dürften bleiben, aber eben nur an einem ganz bestimmten Ort innerhalb der Stadt".
    Bis zur Schaffung des ersten Judenghettos lebten die Juden in der Lagunenstadt relativ unbehelligt. 1397 ordnete der Senat an, alle in Venedig lebenden Juden hätten entweder einen gelben Hut zu tragen - oder ein gelbes Zeichen an ihrer Kleidung. Interessant ist, dass die damaligen weltlichen Herrscher Venedigs, die Dogen, aber auch die katholischen Patriarchen der Stadt primär einen pragmatischen Umgang mit Juden pflegten. Die Historikerin Anna Foa:
    "Kurios ist, dass dieses erste Ghetto nicht aus ideologischen oder rein religiösen Gründen eingerichtet wurde und dass es die Beziehungen zwischen jüdischer und katholischer Bevölkerung intensivierte."
    Christen und Juden inspirierten sich wechselseitig
    Obwohl auf engem Raum lebend wuchs die jüdische Gemeinde. Schließlich entstanden in den Ghettos neun Synagogen - die alle erhalten geblieben sind. Die größte von ihnen, die Scola Spagnola, wurde im frühen 17. Jahrhundert von Barockbaumeister Baldassare Longhena prächtig ausgebaut. Venedig galt seit dem 15. Jahrhundert als das Verlagszentrum Europas – nicht zuletzt wegen der vielen jüdischen Buchdrucker. Dass dort besonders viele jüdische Schriften in Buchform erschienen und in ganz Europa vertrieben wurden, ist zu einem guten Teil auch dem im 17. Jahrhundert in Venedig lebenden christlichen Verleger Daniel Bomberg zu verdanken. Bomberg war der in seiner Zeit wichtigste Verleger jüdischer Schriften.
    Der jüdische Schriftsteller Amos Luzzatto:
    "Die Venezianer der Seerepublik hatten die große Fähigkeit, Menschen von überallher bei sich zu integrieren. So auch die Juden. Trotz verschiedener gesellschaftlicher Schikanen: Juden in Venedig hatten Freiräume, die sie woanders in Italien nicht hatten."
    Auch musikalisch gab es eine intensive Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen. Das wohl beste Beispiel dafür ist der adlige Barockkomponist Benedetto Marcello. Er suchte die Nähe zu Rabbinern, um jüdische Musiktraditionen zu studieren, die dann in seine berühmten Psalmenkompositionen einflossen.
    Das Ghetto von Venedig wurde 1797 mit der Eroberung der Lagunenstadt durch Napoleon aufgehoben. Die noch in der Stadt lebenden Juden erhielten erstmals volle Bürgerrechte. Doch schon vor Napoleons Ankunft waren viele venezianische Juden fort gezogen. Die drei Ghettos waren teilweise so verfallen, dass im 19. Jahrhundert nicht wenige Gebäude abgerissen werden mussten.
    Von 1943 an machten deutsche Besatzer der inzwischen nur noch kleinen jüdischen Gemeinde ein Ende. Fast alle 250 Bewohner wurden in Vernichtungslager deportiert. Nur acht von ihnen überlebten.
    Heute leben in den drei ehemaligen Ghettos von Venedig rund 100 Juden. Die meisten venezianischen Juden leben in anderen Vierteln der Lagunenstadt. Das Gheto vecchio, das Gheto novo und das Gheto novissimo sind heute vor allem Anlaufpunkte für Venedigtouristen.