Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Vor 55 Jahren: Melbourne 1956

Nur einmal in der Sportgeschichte wurden Olympische Sommerspiele im November und Dezember ausgetragen: Das war vor 55 Jahren im australischen Melbourne. Sie dauerten vom 22. November bis zum 8. Dezember 1956. Um dort zu starten, mussten europäische Olympioniken eine Reise der Superlative absolvieren.

Von Gerd Michalek | 12.11.2011
    "Eine Reise mit 56 Stunden, eine Flugreise, das war ein Wahnsinn, mit sechs Zwischenstopps in Hongkong und Singapur. Das war ein einmaliges Erlebnis."

    Der ehemalige Sprinter Manfred Germar war damals gerade einmal 21 Jahre alt. Trotzdem errang der Kölner im 100-Meter-Lauf einen sehr guten fünften Platz. Noch erfolgreicher lief es in der viermal 100-Meter-Staffel: Zusammen mit Heinz Fütterer, Lothar Knörzer und Martin Lauer gewann Germar in Melbourne die Bronze-Medaille.

    Wie bereits im Februar 1956 bei den Winterspielen in Cortina traten in Australien DDR- und BRD-Sportler in einem gesamtdeutschen Team an. Obwohl beide Gruppen getrennt trainierten und sich die Funktionäre reserviert verhielten, spürte man zwischen den Sportlern kaum etwas von einem Kalten Krieg, wie sich Germar erinnert:

    "Die Sportler haben sich gut verstanden, man hat auch die Möglichkeit gehabt, mit ihnen zusammenzukommen. Wir hatten in unserem Bungalow, den ich mit Heinz Fütterer und Armin Lauer bewohnte, sogar zwei Athleten aus der DDR. Wir haben uns blendend verstanden."
    Unter den 37 ostdeutschen Athleten sorgte der Berliner Boxer Wolfgang Behrendt für eines der Glanzlichter. Kommentator Heinz Florian Oertel:

    "Der linke Haken von Wolfgang Behrendt ist noch nicht angekommen. Wir fiebern ungemein auf unseren Sitzen. ... Jetzt linker Haken von Wolfgang. ... Wolfgang vorwärts, sonst klappt es nicht!"
    Schließlich gewann Behrendt im Bantam-Gewicht die erste Goldmedaille der DDR in der Olympischen Geschichte. Denkwürdig waren die Spiele auch aus Reporter-Sicht: Ihre Wettkampfberichte mussten bisher ungeahnte Wege zurücklegen. Gustav Schwenk, der inzwischen 87-jährige Leichtathletik-Fachjournalist, arbeitete damals beim Sportinformationsdienst:

    "Anfang der 50er fing er mit Fernschreibern an und hat damit die Leute beliefert. 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbourne hatte der SID eine Leitung Melbourne - Düsseldorf. Die sah folgendermaßen aus: Sie ging von Melbourne nach Sydney auf Land, dann über das Meer nach Los Angeles - oder Kalifornien, dann über das amerikanische Festland. Dann mit einem Meer-Kabel nach Deutschland. Dann hat der SID das von dort an die Zeitungen verteilt. Diese Leitung war so teuer, das es nur eine Leitung Melbourne Deutschland gab und nicht etwa eine noch zurück."
    Nachrichten in die Heimat zu schicken galt als sündhaft teuer. Schwenk:

    "Ich erinnere mich, dass Helmut Banz, der ja Olympiasieger im Pferdsprung wurde, dass der von seiner Frau das Verbot hatte: 'Wenn du eine Medaille gewinnst, schick bloß kein Telegramm. Das ist zu viel teuer.'"

    So hatte Helmut Banz seinen Bericht über die eigene Goldmedaille auf später zu verschieben! Ein kleiner Wermutstropfen verglichen mit den politischen Querelen, die es rund um die Spiele von 1956 gab: Wenige Monate zuvor waren die Sowjets in Ungarn einmarschiert, um den Volksaufstand gewaltsam niederzuschlagen. Ein Grund, weshalb die Schweiz, die Niederlande und Spanien die Teilnahme boykottierten. Auch während der Spiele entluden sich die politischen Spannungen. So kam es beim Wasserball-Spiel zwischen Ungarn und der UDSSR zu - nicht nur sportlichen - Handgreiflichkeiten. Die Ungarn gewannen am Ende Gold, die UDSSR nur Bronze. Wohltuend für alle Sportler war dagegen die Gastfreundlichkeit des australischen Publikums, wie sich Teilnehmer Germar erinnert:

    "Die Australier sind einfach unwahrscheinlich freundlich zu allen und haben sich über jeden gefreut. Und auch, da ja viele Europäer da leben, dass die Europäer an den Olympischen Spielen teilgenommen haben."

    Begeistert waren die Zuschauer von den großen Stars der Spiele - vor allem auf der Aschenbahn. Germar:

    "Ich hatte einen wahnsinnigen Gegner, den Bob Morrow, der drei Goldmedaillen gemacht hat."

    Sowohl der US-Läufer Bob Morrow als auch die Australierin Betty Cuthbert holten über 100- und 200-Meter sowie in der viermal-100-Meter-Staffel Gold. Ohne Olympisches Edelmetall musste hingegen die Langstrecken-Legende Emil Zatopek auskommen. Vier Jahre zuvor hatte er noch in Helsinki die 5000 und 10.000 Meter dominiert. In Melborune - bei 36 Grad im Schatten - ging der tschechischen Lokomotive beim Marathonlauf die Puste aus. Reporter Heinz Florian Oertel:

    "Mehr als 2:20 Stunden sind vergangen, und ein Mann ist jetzt im Stadion, dem die Hitze noch am besten behagt hat. Der Algerier Alain Mimoun, der für Frankreich startet, ist Marathon-Sieger 1956! Emil Zatopek, der alte Emil, wird als Sechster gemeldet. Er winkt den Zuschauern zu. Und prasselnder Beifall von den 100.000, als ob Emil noch einmal gewonnen hätte."