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Vor 60 Jahren
Geburtsstunde der Kindernothilfe

Mit dem wachsenden Wohlstand in den 1950er-Jahren wuchs bei Christen in Deutschland das Bewusstsein, dass es Menschen in anderen Regionen der Welt viel schlechter ergeht. Der Bericht eines Missionars über die Situation von Kindern in Indien am 11. Mai 1959 war Ausgangspunkt für die Gründung der Kindernothilfe.

Von Matthias Bertsch | 11.05.2019
    To go with Indonesia-quake-aid-children by Aubrey Belford In a picture taken on October 8, 2009 a poster for German-based Christian charitable organisation Kindernothilfe adorns the wall as a volunteer plays games with the children of Pasadama village in Pariaman following the recent 7.6-magnitude earthquake that struck the western coast of the island. Many child survivors of the huge earthquake on Sumatra island on September 30 have been left traumatised by a disaster that the United Nations says killed upwards of 1,100 people. As international aid pours in and authorities clean up buildings shattered in the quake, a small number of relief groups are working to repair widespread shock before it sets in and becomes lasting psychological damage. AFP PHOTO / BAY ISMOYO (Photo by BAY ISMOYO / AFP)
    Heute fördert die "Kindernothilfe" weltweit rund zwei Millionen Kinder (AFP)
    "Genau diese Stelle war mein Schlafplatz im Jahr 1959. Ungefähr 60 Kinder haben hier mit Strohmatten und Decken auf dem Boden geschlafen. Heute wird dieser Raum als Klassenzimmer für die Schule genutzt."
    Simon Somasundaram war eines der ersten fünf Patenkinder, die von der Kindernothilfe unterstützt wurden. Sein Vater war früh gestorben, seine Mutter hatte für die Erziehung der 14 Kinder keine Mittel, und so war sie froh, dass er einen Platz in einem christlichen Schülerwohnheim im südindischen Paraperi bekommen hatte.
    Deutschland entdeckt "Weltverantwortung"
    Das Geld dafür stammte von Christen aus Deutschland. Sie wollten das in die Tat umsetzen, was der Theologe Martin Niemöller auf dem Evangelischen Kirchentag 1956 "Weltverantwortung" genannt hatte. Der Präses der evangelischen Kirche Lothar Kreyssig und der Duisburger Kirchenangestellte Karl Bornmann hatten daraufhin Spendenaktionen gegen den Hunger ins Leben gerufen.
    Doch die besondere Schutzbedürftigkeit der Kinder brachte ein anderer ins Spiel: Adolf Kölle. Der Missionar war als Jugendpfarrer im südindischen Bundesstaat Kerala gewesen und berichtete Kreyssig und Bornmann von der Situation vor Ort. Das Treffen der drei am 11. Mai 1959 war die Geburtsstunde der Kindernothilfe, so der ehemalige Vorsitzende des Hilfswerkes, Jürgen Thiesbonenkamp:
    "Die südindische Kirche unterhielt zu dieser Zeit in Slumgebieten in ländlichen Regionen eine Fülle von Schülerwohnheimen. Und man hatte gesagt, es wäre doch toll, wenn solche Kinder, die in extremer Armut leben, durch Paten in Deutschland gefördert werden können."
    Paten für Kinder in Südindien
    Die Paten verpflichteten sich, den für damalige Verhältnisse hohen Betrag von monatlich 30 Mark zu bezahlen. Um Neid-Gefühle anderer Kinder zu vermeiden, floss das Geld nicht an die Kinder selbst, sondern an die Einrichtung, in der sie betreut wurden. Im Gegenzug erhielten die Spender ein Foto und regelmäßige Briefe ihres Patenkindes. Das Konzept der persönlichen Beziehung kam an: Nach 15 Jahren unterstützte die Kindernothilfe bereits über 30.000 Patenkinder wie Simon Somasundaram.
    "Natürlich war es damals sehr schmerzhaft für mich, getrennt von meiner Familie zu leben. Ich war ein kleiner Junge, als ich hierher kam. Nachts habe ich oft wach auf meiner Matte gelegen, an meine Mutter gedacht und ziemlich viel geweint. Doch im Laufe der Jahre hat sich das geändert, und ich habe mich hier dann sehr wohl gefühlt", erzählt Simon Somasundaram.
    Die Trennung von den Eltern geriet bald in die Kritik. Deswegen begann die Kindernothilfe in den 70er-Jahren mit ihren lokalen Partnern in den ärmsten Regionen Indiens eigene Kindertagesstätten zu etablieren, damit die Kinder in der Nähe ihrer Familien bleiben konnten. Daneben arbeitete die Organisation längst mit kirchlichen Einrichtungen in Afrika und Lateinamerika zusammen.
    Fokus der Arbeit erweitert
    Auch sonst begann sich der Fokus der Arbeit zu verschieben: Vom reinen Helfen, das zunehmend als paternalistisch kritisiert wurde, über die entwicklungspolitische Bildung bis hin zum Einsatz für die Kinderrechte. Das bedeutete nicht nur, Kinder vor ausbeuterischer Arbeit und sexuellem Missbrauch zu schützen, sondern auch ihnen zuzuhören, betont Jürgen Thiesbonenkamp:
    "Wenn dann Kinder auch sich mehr äußern und sagen: Also, zuhause werde ich so oft geprügelt. Oder mein Vater ist immer mal wieder betrunken. Oder meine Mutter muss so schwer arbeiten, dass sie oftmals weint und nicht weiß, wie wir über die Runden kommen sollen. Wenn Kinder so was dann austauschen und die Erzieherinnen oder die Menschen, die mit ihnen arbeiten, so etwas hören, dann entsteht daraus ja eine ganz andere Dialog- und Kommunikationsmöglichkeit, die wahren Bedürfnisse der Kinder aufzunehmen und zu verändern."
    Heute fördert die Kindernothilfe weltweit rund zwei Millionen Kinder, darunter viele Straßenkinder und Aids-Waisen. Finanziert wird die Arbeit nach wie vor durch die Patenschaften, auch wenn die Spender inzwischen zwischen Kinder- und Projekt-Patenschaften wählen können. Die Motivation vieler Spender hat eine Patin vor 40 Jahren so ausgedrückt:
    "Wir gehören zu dem einen Drittel der Welt, das bevorzugt ist, das sich 80 Prozent der Weltproduktion teilen kann, und zwei Drittel der Weltbevölkerung müssen sich den Rest von 20 Prozent teilen. Ich war erschüttert darüber und sagte: Es muss etwas geschehen, und ich will nicht unbeteiligt dabei sein. Ich muss selbst etwas mit tun, um den Unterschied zwischen den wenigen sehr reichen Völkern und den vielen sehr armen Völkern mit auszugleichen."
    Es ist die "Weltverantwortung", die schon bei der Gründung der Kindernothilfe Pate stand.