Zu den Klängen von Händels "Messias" stehen dreizehn Bettler, angeordnet wie in da Vincis "Abendmahl"-Bildnis, vor einem üppig gedeckten Tisch. Sie applaudieren einer Bettlerin, die sich vor ihnen schamlos entblößt, bevor sich alle in eine rauschhafte Orgie hineinsteigern. Diese bewusste Provokation ist eine der Schlüsselszenen, die Luis Buñuels Film "Viridiana" bei seiner Uraufführung auf dem Filmfestival in Cannes zum größten Skandal der spanischen Filmgeschichte machte.
Der Film erzählt die banale Geschichte der frommen Novizin Viridiana, die ihr Leben in den Dienst Gottes stellen will. Bevor sie jedoch ins Kloster geht, besucht sie noch ihren ehrbaren Onkel. Don Jaime zeigt sich bald besessen von der jungen Frau. Sie erinnert ihn an seine verstorbene Gattin. Seine aufdringlichen Avancen gipfeln in einem Vergewaltigungsversuch. Als die Novizin flüchtet, erhängt sich Don Jaime. Viridiana wird deshalb von ihrer Oberin zur Rede gestellt:
"Du sagst, dass Du an einem Selbstmord schuldig bist? Dann muss ich als Deine Oberin verlangen, dass Du sofort eine umfassende Beichte ablegst."
"Ich werde nicht mehr ins Kloster zurückkehren. Ich brauche also nicht demütiger zu sein als jeder andere Katholik."
Zwanzig Jahre verbrachte Buñuel im mexikanischen Exil
Von nun an will sich Viridiana auf dem Gut ihres Onkels den Armen widmen, scheitert aber an deren Bosheit und Unmoral. Buñuel zählte in den Dreißigerjahren zur künstlerischen Avantgarde und verließ Spanien während des Bürgerkriegs. Im mexikanischen Exil versicherte er, nicht zurückzukehren, solange Franco an der Macht wäre. Zwanzig Jahre später ließ er sich dennoch von seinem jungen Regiekollegen Carlos Saura überreden, wieder in seiner Heimat zu drehen:
"Er fürchtete Repressalien des Franco-Regimes, aber es lag nichts gegen ihn vor. Ich reiste mit ihm vor Drehbeginn durch Spanien. Die Wahrheit war, dass Buñuel niemand kannte, bis auf einige Kulturkritiker. Ich kann mich noch erinnern, dass irgendjemand auf ihn zuging und ihn fragte, ob er der Filmemacher Luis Buñuel sei, und er wurde totenbleich, weil ihn jemand erkannt hatte. Erst Jahre später wurde er auch in Spanien zum Idol."
Wie das Regime versuchte, sich mit Buñuels Film zu schmücken
Ende der 50er-Jahre versuchte das diktatorische Regime, sich ein liberaleres Image zu geben. Die Prominenz des Regisseurs kam den Franquisten gelegen. Die beauftragte spanische Produktionsfirma, die der verbotenen kommunistischen Partei nahestand, war allerdings von Buñuels eingereichtem Drehbuch zunächst enttäuscht. Sie fand es zu unpolitisch. Buñuel aber schrieb rückblickend:
"Diese Komödie – denn es ist eine Komödie – enthält eine heimliche Dosis umstürzlerischen Geistes, die jedoch nicht für jedermann, sondern nur für Eingeweihte zu erkennen ist. Und zu diesen gehören natürlich die Zensoren der Kirche."
Ein Kruzifix, aus dem ein Messer herausspringt
Viele provokante Szenen mit Anspielungen auf bigotte Auswüchse des Katholizismus entstanden erst während des Drehs: wenn etwa eine Nonne mit einem Kruzifix, aus dem auf Knopfdruck ein Messer herausspringt, einen Apfel schält. Oder wenn Viridiana mit Christus` Dornenkrone zu Bett geht. Vor der staatlichen Endabnahme wurden sie herausgeschnitten, in Cannes wieder eingebaut. Auch sahen die Zensoren den Film ohne Ton, da die Produktion unter Zeitdruck stand und aus technischen Gründen erst in Frankreich fertiggestellt werden konnte. Als "Viridiana" am 18. Mai 1961 auf dem Festival die "Goldene Palme" erhielt, empörte sich die einflussreiche vatikanische Tageszeitung "L´Osservatore Romano":
"Die übliche zweideutige Zurschaustellung von Sexualität ist um einen ruchlosen kleinen Jahrmarkt der Gotteslästerungen erweitert worden – eine unerträgliche Aneinanderreihung von Blasphemien, die einfach nur ekelerregend sind."
Die katholischen Hardliner des Franco-Regimes waren brüskiert. Eine weitere Vermarktung sollte verhindert werden. Die Veridiana-Darstellerin, die mexikanische Schauspielerin Silvia Pinal:
"Der große Erfolg von "Viridiana" ist ja bekannt. Darüber waren wir sehr stolz und dankbar. Weniger allerdings über einen Herrn namens Franco, der alles, was mit dem Film zu tun hatte, vernichten wollte und fürchterlich wütend war, dass der Film durch die Netze seiner Zensur geschlüpft war. Wir haben allerdings eine Arbeitskopie nach Mexico schmuggeln können, und so konnte dieser wunderbare Film gerettet werden."
Spanische Premiere erst nach Francos Tod
Luis Buñuels religionskritischer Film blieb in Spanien sechzehn Jahre lang verboten. Erst nach Francos Tod 1976 lief er erstmals auch in spanischen Kinos.