In Deutschland hingegen finden viele Frauen keinen Arzt, der bereit ist, gegen den Paragraphen 218 des Reichsstrafgesetzbuches zu verstoßen. Ihnen bleibt in ihrer Verzweiflung nur der Gang zur Engelmacherin, oder sie versuchen selbst Fehlgeburten einzuleiten: mit Stricknadeln oder Gift wie Zyankali. Jährlich sterben zehntausende Frauen an den Folgen illegaler, unter dürftigsten Verhältnissen durchgeführten Abtreibungen. Dennoch lehnen die deutschen Ärzte eine Änderung des Paragraphen 218 ab. Sie befürchten eine Verwilderung der Geschlechtssitten.
In Island hingegen sind es gerade die Ärzte, die auf eine Neuregelung des Abtreibungsgesetzes drängen. Die Ärzteschaft ist sich ihrer sozialen Verantwortung in der modernen Industriegesellschaft bewusst.
Der Vorsitzende der Ärzteorganisation Vilmundur Jónsson ist ein aktives Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und einflussreicher Parlamentarier. Er ist der Autor des "Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft”, das am 28. Januar 1935 vom isländischen Parlament verabschiedet wird.
Wenn einer schwangeren Frau mehr als zwölf Wochen an der vollen Schwangerschaftsperiode fehlen und es augenscheinlich ist, dass ihre Gesundheit einer schweren Gefahr ausgesetzt sein würde, wenn die Schwangerschaft fortgesetzt wird, [...], ist der Arzt berechtigt, die Schwangerschaft zu unterbrechen, […]. Dabei kann berücksichtigt werden, ob die Frau vorher in kurzen Abständen mehrere Kinder und das letzte davon erst kürzlich geboren hatte oder ob die Frau wegen mehrerer unversorgter Kinder, wegen Armut oder ernster Krankheit im Hause unter sehr schlechten häuslichen Verhältnissen zu leiden hat. (aus: Heiss, H.: Die Abortsituation in Europa und in außereuropäischen Ländern, Stuttgart 1967, S. 110)
Damit besitzt Island die modernste Abtreibungsregelung der westlichen Welt, denn in den meisten europäischen Ländern ist eine Abtreibung illegal, auch wenn das Leben der Frau durch eine Schwangerschaft gefährdet ist. In Island können nun erstmalig Ärzte für eine legale Abtreibung nicht nur rein medizinische, sondern auch soziale Aspekte wie ärmliche Lebensbedingungen und Kinderreichtum berücksichtigen. Ein weitergehendes Gesetz gibt es nur in der Sowjetunion. Sie hat bereits 1917 - als weltweit erster Staat - Abtreibung ohne Einschränkungen legalisiert.
Aus heutiger Sicht relativiert die Historikerin Unnur Birna Karlsdottir jedoch den tatsächlichen Nutzen des Abtreibungsparagraphen von 1935 für Frauen:
Die Ärzte waren nicht bereit, Abtreibung allein aus sozialen Gründen zuzulassen. Denn soziale Gründe durften nur berücksichtigt werden, wenn sie die Gesundheit der Frauen schwächten. So entspricht das Gesetz von 1935 nicht den Lebenswirklichkeiten und Bedürfnissen der Frauen. Tatsächlich schränkte es die Ärzte, die ja vor 1935 Abtreibungen aus sozialen Gründen vornahmen, in ihrer Handlungsfreiheit ein. So nahm die Zahl der legalen, ärztlich verordneten Abtreibungen nach 1935 bedeutend ab.
Zwar sind Frauen weiterhin von der Entscheidung eines Arztes abhängig, jedoch bezieht Island als erstes Land die Lebensumstände von Frauen in eine Abtreibungsregelung mit ein. So entsteht in Island bereits 1935 das Vorläufermodell für eine "Abtreibung aus sozialer Indikation", die in den meisten europäischen Ländern erst 40 Jahre später legalisiert werden wird.
Bertolt Brecht, Ballade zu Paragraph 218:
Da sein’se mal ne nette kleene Mutter
Und schaffen mal’n Stück Kanonenfutter. Dazu ham Se den Bauch
Und das müssen Se auch
Und das wissen Se auch
Und jetzt keenen Stuß
Und jetzt wer'n se Mutter und Schluß!