Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Vor 90 Jahren: Premiere von "The Jazz Singer"
Der Anfang vom Ende des Stummfilms

Alan Croslands "The Jazz Singer" aus dem Jahr 1927 war ein Meilenstein der Filmgeschichte. Der enorme Erfolg des Musicals ließ die amerikanische Filmindustrie völlig transformieren: Es war der Tonfilm, der den Untergang des Stummfilms einleitete. Heute vor 90 Jahren wurde "The Jazz Singer" in New York uraufgeführt.

Von Katja Nicodemus | 06.10.2017
    Al Jolson, amerikanischer Sänger und Entertainer, in der Titelrolle in dem Film The Jazz Singer 1927.
    Der Sänger Al Jolson, Star des ersten Film-Musicals "The Jazz Singer" (imago stock&people)
    Sänger Al Jolson improvisierte diesen Einstieg zu seinem Song "Toot Toot Tootsie" in dem Film "The Jazz Singer", wohl ohne um dessen Symbolkraft zu wissen. Man kann "The Jazz Singer" das erste Musical der Filmgeschichte nennen. Oder auch den ersten Tonfilm, der Songs und Dialoge in eine abendfüllende Spielhandlung einbettet. Und mit welchem Schwung.
    Aufgeführt wurde "The Jazz Singer" mit dem Vitaphone-Verfahren, patentiert von der Filmgesellschaft Warner Brothers. Dabei wird der Filmprojektor mit einem Grammophon gekoppelt. Doch das Revolutionäre an "The Jazz Singer" war nicht seine technologische Neuerung, sondern das Nebeneinander von Stummfilmszenen, Dialogen und Gesangsauftritten – die hinterfragende, höchst lebendige Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des noch jungen Mediums Kino.
    Ein Laufsteg für Sänger Al Jolson
    Alan Croslands Film ist ein Laufsteg für den Sänger Al Jolson, der hier auch seine eigene Geschichte auf die Leinwand bringt: Geboren wurde er als Asa Yoelson, Sohn eines Synagogenkantors. Schon früh verließ er seine orthodoxe Familie, um Sänger zu werden.
    In"The Jazz Singer" spielt Jolson Jakie Rabinowitz, Sohn eines jüdischen Kantors in der New Yorker Lower East Side. Jakie zieht es zum Showbiz. Seine geliebte Mutter hat dafür Verständnis, doch der Vater, ein Patriarch mit Schläfenlocken, verlangt von seinem Sohn, dass er den gleichen Berufsweg einschlage. Jakie verlässt die Familie – um nach vielen Jahren als gefeierter Jazz-Sänger unter dem Künstlernamen Jack Robin zurückzukehren.
    Herzzerreißend ist das Wiedersehen mit seiner Mutter. "The Jazz Singer" wurde am 6. Oktober 1927 im New Yorker Warner Theater uraufgeführt, und am nächsten Tag jubelte die New York Times:
    "Es war eine glückliche Idee, Mr. Jolson die Hauptrolle spielen zu lassen. Denn nur wenige Darsteller können gleichzeitig so begeisternd singen und spielen wie er in diesem Film. Seine 'Stimme mit der Träne' schlug das Publikum in den Bann, und das einzige, was die Leute in dem überfüllten Kino enttäuschte, war, dass sie ihn oder sein Bild nicht für eine Zugabe herausrufen konnten."
    Frühes Dokument des "Blackfacing"
    "The Jazz Singer" ist auch ein Zeitdokument. Zum einen, weil Al Jolson auf der Broadwaybühne mit schwarz geschminktem Gesicht auftritt. Das "Blackfacing", die Imitation des vermeintlich fröhlichen, singenden schwarzen Sklaven, gehörte zu den alltäglichen Rassismen der Unterhaltungskultur. Ein Dokument ist der Film auch als Panorama jüdischen Lebens in den USA von 1927. Als kleiner Junge durchquert Jakie die überfüllten Straßen der Lower East Side. Man sieht dokumentarische Aufnahmen von Obst- und Gemüseständen, Imbissverkäufern, Pferdekutschen. Und: Es gibt einen bewegenden Auftritt des damals berühmten Kantors Jossele Rosenblatt, der mit religiösen jüdischen Gesängen durch die USA tourte.
    "The Jazz Singer" lässt den Konflikt zwischen Orthodoxie und Jazz, Vater und Sohn, eskalieren. Auch nach Jakies Rückkehr will der Kantor nicht akzeptieren, dass sein Sohn im vermeintlich unwürdigen Showgeschäft arbeitet. Der Filmwissenschaftler Siegfried Kracauer sah in dieser Geschichte auch eine Bestandsaufnahme der amerikanischen Einwanderung:
    "Den Übergang von einer verwurzelten europäischen Vergangenheit zu einer freien amerikanischen Gegenwart, definiert durch die Musik und den Tanz des Jazz-Zeitalters."
    So ist "The Jazz Singer" in mehrerer Hinsicht ein Film des Übergangs. Wenn Al Jolson einen Jazz-Club singend zum Brodeln bringt – dann scheint es geradezu absurd, dass die applaudierenden Zuschauer in der nächsten Szene stumm zu sehen sind. Der Stummfilm wirkt hier wie ein Gespenst, das noch einen letzten Auftritt hat, um sich sodann zurückzuziehen. Vorhang auf für Jaks Broadwayauftritt und seine berührende Hommage an seine jüdische Mutter.