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Vor allen Dingen laut

Frank Castorf hat "Nord" von Louis-Ferdinand Céline bei den Wiener Festwochen auf die Bühne gebracht. Die Geschichte eines französischen Kollaborateurs, der auf seiner Flucht im zerbombten Nazi-Deutschland Zwischenstation macht, gerät in Castorfs Inszenierung zu einem wilden Happening.

Von Hartmut Krug | 08.06.2007
    Louis Ferdinand Céline, bekannt geworden nach seinem Romandebüt "Reise ans Ende der Nacht" im Jahr 1932, das Erfahrungen von Krieg, Kolonialismus und Armut weniger reflektiert als herausschreit, durch vier darauf folgende antikommunistische und antisemitische Pamphlete, schrieb seine autobiographische Romantrilogie über das Ende des Zweiten Weltkrieges erst spät.

    "D´un chateau á l’autre" und "Nord" erschienen 1969, während Teil drei, "Rigodon", erst posthum, 1969, heraus kommt. "Nord" oder "Norden", beide Titel werden von den Wiener Festwochen für Frank Castorfs Bühnenversion verwendet, nimmt Célines Erfahrungen bei seiner Flucht 1944 aus Frankreich nach Dänemark, mit der Unterbrechung durch einen sechswöchigen Aufenthalt im September und Oktober im brandenburgischen Kränzlin, zur Vorlage, um den Zusammenbruch Nazi-Deutschlands aus der Binnen- wie Draufsicht eines französischen Kollaborateurs zu beschreiben und zu beschreien.

    Der Text kennt keine deutliche oder gar durchgehende Handlung, sondern assoziiert sich mit szenischen Fetzen und wütendem Protest gegen eine als bedrängend und ungerecht empfundene Wirklichkeit. Die Flucht kommt wie ein unwirklicher und undeutlicher Albtraum daher. Dabei scheint Célines Sprache fast zu explodieren. Deren stampfende Wildheit suchen die Schauspieler der Berliner Volksbühne, mit denen Frank Castorf Célines Text in Koproduktion mit den Wiener Festwochen in einer Halle des Wiener Museumsquartiers inszeniert hat, in eine wild tobende und schreiende Hektik zu überführen.

    Über drei Stunden wird nur gekreischt, geschrieen und sich überschrieen. So provoziert weniger der akustisch oft kaum zu verstehende Text das Publikum, sondern diese theatralisch unsinnige und unsinnliche Sprech- und Spielweise. Es gab stetige und große Abwanderungen während der Aufführung, - bei einem zurzeit vergriffenen Text, der dem Publikum inhaltlich weitgehend unbekannt sein musste. Diese Inszenierung von Frank Castorf ist ein Beispiel für ein Theater, bei dem sich die Theaterkünstler in ihre assoziative Auseinandersetzung mit einem Text verbohren, ohne irgendeinen Gedanken an dessen Vermittlung zu verschwenden.

    Auch die Besetzung schafft keine Klarheit: 16 Schauspieler, vier von ihnen Musiker mit Mandolinen und Klavier, spielen alle Figuren, wechseln immer wieder die Rollen und sind jeder auch mal Céline. Sie reden mit Céline über sein Schaffen, seine Themen und seine Haltung, und sie reisen mit ihm durch Deutschland. Dafür gibt es einen Eisenbahnwaggon, der auf der Bühne hin und her geschoben wird und immer wieder in aufgebaute Räume kracht: anfangs in unendliche Reihen von Bücherregalen, später in Wohnlandschaften. Natürlich soll der Güterwaggon auch Assoziationen anregen, schließlich beherbergt er auch die Küche eines SS-Mannes, des Reichsgesundheitsministers Harras. Auf dessen brandenburgischen Zornhof schlüpft Céline unter, um sich für einen Pass zu verdingen. Die Aufführung beginnt mit dem Versuch einer Reise nach Travemünde, was in ein schier babylonisches Sprachgewirr mündet. Wobei über die Frage an eine Beamtin nach Fahrkarten auf der Bühne eine Szene aus einem Film mit der dänischen (!)"Olsenbande" geblendet wird. Schließlich toben alle los: Céline, der mit seiner Katze, seiner Frau und einem berühmten, weibstollen Schauspieler unterwegs ist. Da dieser als Jesusdarsteller beim Film Triumphe gefeiert hat, werden immer wieder entsprechende Filmsequenzen eingespielt, und der Schauspieler posiert zugleich auf der Bühne mit ausgebreiteten Armen oder ein anderer trägt ein Kreuz auf der Schulter. Ein wildes Durcheinander von Nazi-Größen und polnischen Köchinnen, einer Schauspielergruppe und russischen Mädchen, Nutten und Kollaborateuren, einer Adligen sowie von Offizieren, die gegen die Russen marschieren wollen, kämpft sich jetzt durch das szenische Nichtgeschehen.

    Was man erkennen kann, ist, beim Fehlen jeder psychologischen oder charakterisierenden Figurenschilderung, eine physiologische Betrachtung des Krieges durch Céline, bei der die unter Überdruck stehenden Menschen weniger in Trauer als in hektische Exzesse ausbrechen. Immer wieder ballert hier einer mit einer MP herum, worauf die Zuschauer, die zusätzlich mit Ohropax ausgestattet wurden, warnend mit Plakaten hingewiesen wurden. Das Schwanken zwischen erotischer Aufgeladenheit und kämpferischer Verzweiflung überführt Castorf in wilde Bacchanale und Szenen von Gewalt, - und die Musiker wandern dabei mit ihren Mandolinen durchs Geschehen, während die Schauspielerin Sylvia Rieger wie so oft in Frank Castorfs Inszenierungen ihre Opernarien singen darf, und das vor allem laut.

    Hier darf ohnehin jeder so spielen, wie er es immer tut: Das wilde Treiben ist für Fans der Volksbühnentruppe nicht ohne Reiz. Wie Milan Peschel, Marc Hosemann, Lars Rudolph und vor allem Bernhard Schütz so tun, als spielten sie nicht, sondern kommentierten ihr expressives, rampenbewusstes Spiel, das hat schon seinen bewusst komischen Reiz. Es ist eben eine Grandguignolade, wie sich der Abend im Untertitel nennt. Doch eine Grandguignolade, vor der der Zuschauer wie vor einem szenischen Irrgarten sitzt. So scheitert die Aufführung an ihrer routiniert-selbstzufriedenen ästhetischen Methode.

    Im nächsten Jahr wird Frank Castorf die Wiener Festwochen mit Wolfgang Rihms "Lenz" eröffnen. Er habe das Gefühl, sagte der Regisseur dazu im Interview, "dass die Sänger sich zur Musik hinschreien. Das hat viel zu tun mit unserer Theatersprache." Bei Céline half keine Musik: Hier überschrie Castorfs Theatersprache Célines Sprache und das szenische Geschehen bis zur Undeutlichkeit. Was blieb, war ein Theaterhappening.

    Natürlich feierten sich die Zuschauer, die bis zum Ende geblieben waren, beim Applaus für das gleichermaßen erschöpfte wie über den Applaus sichtlich erstaunte und glückliche Ensemble auch selbst.