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Vor dem EU-Gipfel in Nizza

Die Osterweiterung der Europäischen Union ist beschlossene Sache, der Weg dahin aber steil und steinig - für die Beitrittskandidaten genauso wie für die Gemeinschaft. Einige große Brocken sollen auf dem Gipfel von Nizza zum Abschluss der französischen EU-Ratspräsidentschaft aus dem Weg geräumt werden. Doch bislang sind sich die Mitgliedsstaaten nur darin einig, dass Nizza ein Erfolg werden muss. Ein Scheitern des Gipfels wäre, so heißt es immer wieder, eine Bankrotterklärung europäischer Politik.

Ursula Wissemann | 05.12.2000
    Wenn sich die Staats- und Regierungschefs im Kongreßzentrum an der Côte d'Azur treffen, wälzen sie alte Probleme: Es sind die drei sogenannten "Überbleibsel" von Amsterdam, die unter niederländischer Präsidentschaft 1997 nicht gelöst werden konnten. Damals verabschiedeten die 15 Mitglieder der EU den Vertrag von Amsterdam, der die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen effektiver gestalten sollte. Doch der Zank um das heikle Thema Reform der Institutionen konnte nicht beigelegt werden. Die niederländische Präsidentschaft hatte es nicht gewagt, den zerstrittenen Verhandlungspartnern noch einmal ein neues Kapi-tel des Vertragsentwurfs zu präsentieren. Die Reform wurde von den Gipfelteilnehmern auf einen Zeitpunkt verschoben, zu dem die Osterweiterung sozusagen schon greifbar nahe ist.

    Doch außer Zeit hat es den Beteiligten nichts gebracht, und die Streitfragen sind heute so schwierig zu lösen wie vor dreieinhalb Jahren. Für Günther Verheugen, EU-Kommissar für die Erwei-terung, gibt es dennoch kein zurück:

    Günther Verheugen, EU-Erweiterungskommissar, 3.10.2000, Europäisches Parlament: "Die jetzt laufende Erweiterungsrunde in der Geschichte der europäischen Einigung ist moralisch geboten, sie ist strategisch notwendig und sie ist politisch machbar. Das Projekt ist inzwischen so weit fortgeschritten, es ist unumkehrbar. Es geht in keinem einzigen Fall in den Verhandlungen um das Ob, es geht nur um das Wie und Wann."

    Die Europäer stehen also bei den Beitrittswilligen im Wort, sich bis Ende 2002 erweiterungsfähig zu machen. Die Beitrittskandidaten jedenfalls scheinen ihre Hausaufgaben zu machen. Dies wird aus den Anfang November von der EU-Kommission vorgelegten Fortschrittsberichten über den Stand der Bemühungen der Beitrittskandidaten, die Aufnahmekriterien für die Gemeinschaft zu erfüllen, deutlich. Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament und Mitglied der EVP-Fraktion:

    Elmar Brok, EVP, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EP: "Ich muss sagen, dass die Beitrittskandidaten oder eine Vielzahl der Beitrittskandidaten bessere Fortschritte macht als die Vorbereitung der Europäischen Union auf die Beitrittsfähigkeit. Wenn ich sehe, gehen eine Reihe von Beitrittsländern doch mit großem Engagement auch unter großen Belastungen der Bevölkerung diese Transformationsprozesse durchführt, dann muss ich den Mut dieser Regierungen bewundern, die im Gegensatz stehen zu dem mangelnden Mut, den die meisten EU-Regierungen aufbringen, um die innere Reform der Europäischen Union zustande zu bringen."

    Wie wichtig und richtungsweisend die Entscheidungen über die Reformen von Nizza sein werden, beschwor Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zum bevorstehenden Gip-feltreffen vor dem Deutschen Bundestag:

    Bundeskanzler Gerhard Schröder, BT, Berlin, 28.11.2000: "Wenn wir in Nizza den Weg für die Erweiterung nach Osten und Südosten frei machen, dann wird dieser Gipfel schon einen wirklich historischen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Einigung markieren. Er wird entscheidend voranbringen, worum sich alle Europäer in dem vergangenen Jahrzehnt so intensiv bemüht haben, nämlich die Spaltung des Kontinents endgültig zu überwinden und Europa wieder in kultureller, wirtschaftlicher und politischer Einheit zu führen."

    Dreizehn Staaten haben inzwischen erklärt, früher oder später Mitglied der Europäischen Union werden zu wollen. Mit zwölf von ihnen wird verhandelt. 1998 begann man mit Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. In diesem Jahr kamen Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien, Malta und die Slowakei hinzu. Zudem verlieh die EU vor einem Jahr in Helsinki der Türkei den Status des Beitrittskandidaten, doch mit dem Land am Bosporus wird derzeit aufgrund seiner Wirtschaftslage und wegen unzureichender Achtung der Menschenrechte noch nicht verhandelt.

    Würde man heute alle beitrittswilligen Staaten auf einmal in die Europäische Union aufnehmen, würde die Zahl der Mitglieder von derzeit 15 auf 28 steigen. Und der Gemeinschaft gehörten dann doppelt so viele Bürger an, wie die USA heute Einwohner haben. Die Struktur der Organe der Union allerdings wurde bei Unterzeichnung der Römischen Verträge nur auf die Bedürfnisse der Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ausgelegt, und das waren im Jahre 1957 gerade einmal sechs.

    Die Dimension der Erweiterung also zwingt die Union zum Handeln, wenn sie nach einer Erweiterung entscheidungs- und handlungsfähig bleiben will. Die Regierungskonferenz, das Gremium, das Änderungsverträge erarbeitet, sucht seit Februar dieses Jahres nach Lösungen für die Probleme der Zukunft. Auf dem Gipfel von Nizza, einem der bedeutendsten in der Geschichte der Europäischen Union, sollen zum vierten Mal die Gemeinschaftsverträge umfassend verändert werden. Ein Fitnessprogramm in letzter Minute, das den Kollaps verhindern soll.

    An erster Stelle der Reformen steht die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip. Künftig soll über den größten Teil der Politikfelder mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Betroffen davon sind mehr als 70 Politikbereiche, und um die wird hart gerungen. Das Vetorecht, mit dem einzelne Länder in der Vergangenheit der Gemeinschaft immer wieder ihren Willen aufzwangen, soll auf einige wenige Ressorts beschränkt werden. Warum, erklärt Jo Leinen, Mitglied der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei im Europäischen Parlament:

    Jo Leinen, PPS, Brüssel: Wenn die EU mal 25 Staaten sein wird, führt das automatisch in die Sackgasse. Also der Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsabstimmung ist für mich die Schlüsselfrage des Erfolges oder des Misserfolges in Nizza ... Man kann sich lebhaft vorstellen, dass auch immer irgendein ein Land ein Problem hat und dann mit dem Veto solche Handlungsfähigkeit blockieren würde.

    Doch für die meisten europäischen Staaten ist das Vetorecht ein politisches Symbol, auf das sie in einigen Sparten nicht verzichten wollen. Die Liste dieser Bereiche ist recht lang. Einige Beispiele: In der Frage der Asyl- und Einwanderungspolitik, in der Deutschland nur dann Mehrheitsentscheidungen zulassen will, wenn die Europäische Union zuvor einstimmig zu einer gesamteuropäischen gesetzlichen Regelung findet. Die Bundesregierung begründet diese Haltung damit, dass kein anderes EU-Land mehr Asylbewerber aufnimmt als Deutschland. Die EU will das Asyl- und Einwanderungsrecht bis 2004 vereinheitlichen. Frankreich und Österreich sind ebenfalls dagegen.

    In Fragen der Steuerrechts ist das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip breiter: Kaum ein Land ist bereit, auf sein Veto-recht zu verzichten. In Fragen des Außenhandels besteht Frankreich weiter auf seinem Vetorecht, unterstützt von Spanien und Dänemark. Bei der Strukturpolitik wollen Spanien, Griechenland und Portugal keine Mehrheitsentscheidungen, sie würden angesichts der neuen Mitgliedstaaten nicht mehr so viel Geld erhal-ten. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.

    Den Spaniern soll der Verzicht auf das Einspruchsrecht mit der Aufnahme in den informellen Club der größeren fünf Staaten schmackhaft gemacht werden. EU-Kommissionspräsident Romano Prodi sieht die Gespräche zur Einschränkung des Veto-Rechtes dennoch in der Sackgasse und fürchtet deshalb sogar, dass das Treffen Nizza zu scheitern drohe. Er drängt die Mitgliedsstaaten zu mehr Kompromissbereitschaft.

    Doch genau hier liegt der Knackpunkt des Konflikts um einvernehmliche Lösungen bei den Reformen innerhalb der Europäischen Union. Es geht nicht nur um Kompromisse für Erweiterung der Union nach Osten. Es geht auch um die Sicherung von Machtpositionen der Altmitglieder gegenüber den neuen Beitrittsländern und es geht um den Konflikt zwischen den kleinen und den großen Mitgliedsstaaten. Vor allem darauf nahm ... Kirth auf einer Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises Bezug:

    Romain Kirth, Berater der luxemburgischen Regierung: "Ja, es geht einfach mal für die Kleinen um die Festigung ihrer Position in der Europäischen Union. Es geht ja vor allem jetzt um die Stimmgewichtung im Rat, um die Umverteilung im Rat, und da ist es natürlich klar, dass die Kleinen ein wenig Angst haben von den Großen übertölpelt bzw. überstimmt zu werden."

    Für Luxemberg geht es auch darum, dass wir in allen Institutionen adäquat vertreten sind, im Klartext heißt das: Wir wollen also auf jeden Fall unseren Kommissar in der Europäischen Kommission behalten, wir wollen auch adäquat im Europäischen Parlament weiterhin vertreten sein, weil wir der Meinung sind, dass in einer Solidar- und Wertegemeinschaft alle Stimmen gehört werden müssen, auch die der Kleinsten. Das Prinzip, dass die territoriale Größe sich Auswirken soll auf die Mitspracherechte, das ist etwas, womit Kleinstaaten sehr große Probleme haben. Ich bin überzeugt, dass wir in Nizza zu einem sehr ausgeglichenen Ergebnis kommen werden, es ist natürlich klar, dass die Kleinen dann auch ein bisschen von den bislang erhaltenen Privilegien abgeben müssen. Die Rolle der kleinen Staaten ist die des Mittlers und des Bauherrn, und ich glaube, diese Rolle kann kein großes Land übernehmen, und ich denke, wenn dieser Respekt auch vor den kleineren Partnern, die ihre eigenen Überlegungsweisen in den Prozess mit einbringen können, wenn das bewahrt bleiben wird, dann glaube ich, ist Nizza aus Luxemburger Sicht und ganz generell aus der Sicht der etwas kleineren Staaten ein Erfolg.

    Bereits in Amsterdam zeigte sich das große Misstrauen der kleinen Staaten, die fürchteten, nach der Erweiterung an Einfluss gegenüber den Großen in der Union zu verlieren. Andererseits führt die anstehende Erweiterung der Union dazu, dass die kleinen Staaten die großen überstimmen können, wenn die Stimmanteile nicht verändert werden - es ist dann eine Stimmenmehrheit möglich, die die Minderheit der Bevölkerung repräsentiert. Die neuen Mitglieder sind alle Staaten mit geringerer Bevölkerung. Diese Machtfragen machen es so schwierig, in Nizza Beschlüsse zu fassen, die mehr sind als hohle Formelkompromisse. Die Staats- und Regierungschefs müssten nach ihrer Rückkehr vom Gipfel den Bürgern ihrer Heimatländer erklären, dass der Gipfel als Erfolg gewertet werden solle, obwohl sie zum Beispiel auf einen Platz in der Kommission, auf ein Stimm- oder Einspruchs-recht verzichtet haben.

    Ebenso wichtig wie die Einschränkung des Vetorechts ist die künftige Stimmengewichtung im Ministerrat. Die Neugewichtung der Stimmen wird schon deshalb für nötig erachtet, weil die kleinen Länder im höchsten Entscheidungsorgan der Europäischen Union überproportional vertreten sind. Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern fühlt sich unterrepräsentiert. Da mit den Beitrittskandidaten überwiegend kleine Länder in die Gemeinschaft streben, würde sich dieses Missverhältnis nach der Erweiterung noch verstärken.

    Vorgeschlagen wurde, die Stimmengewichtung künftig an der Zahl der Einwohner eines Landes auszurichten. Doch auch darüber wird gestritten. Das wiedervereinte Deutschland hat die meisten Einwohner, etwa ein Drittel mehr als Frankreich, und verlangt mit ungewohntem Selbstbewusstsein nach mehr Stimmen. Das aber wollen die Franzosen nicht hinnehmen, und daran änderten auch die deutsch-französischen Konsultationen im Vogesenkurort Vittel und die letzten Beratungen in Hannover nichts.

    Sollte bei der Neugewichtung der Stimmen Berlin am Ende doch mehr Einfluss bekommen als Paris, so werde das die Deutschen etwas kosten, spekulieren Beobachter. Doch wie hoch der Preis sei, darüber schweigt die Regierung an der Seine. Obwohl aus deutschen Regierungskreisen zu hören war, die Frage der Stimmengewichtung sei ein politisches, kein mathematisches Problem, an dem die Reformen von Nizza nicht scheitern würden, wagt der CDU-Politiker Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, nicht zu prophezeien, wie der Streit um die Neugewichtung der Stimmen ausgeht:

    Elmar Brok, EVP, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EP: "Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr schwer zu sagen, weil es verschiedenen Optionen gibt und da ist es so, dass die großen Länder insgesamt auf eine Ausdehnung ihrer Stimmengewichtung hingehen im Ministerrat, was ich persönlich für einen Fehler halte, weil der Ministerrat nämlich die starke Kammer ist, in der sich im förderalen System klassischerweise die kleinen Länder wiederfinden müssen, wie im Bundesrat in Deutschland oder im amerikanischen Senat, wo aber insbesondere auch die unterschiedliche Stimmenzahl zwischen Deutschland und Frankreich ist nicht gewährleistet, weil Frankreich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bereit ist einzuwilligen aufgrund früherer Zusagen."

    Sollte über die Neugewichtung der Stimmen kein Einvernehmen er-zielt werden können, so gibt es eine Alternative. Noch einmal der sozialdemokratische Europaabgeordnete Jo Leinen:

    Jo Leinen, PPS, Brüssel: "Wir haben vorgeschlagen im Europaparlament - und die Kommission hat sich dem angeschlossen - das System der doppelten Mehrheit zu wählen. Also: Eine Entscheidung kommt zustande, wenn wir die Mehrheit der Staaten haben, die auch die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert. Ein einfaches System, ich kann immer noch nicht verstehen, warum die Regierungen sich diesem Modell nicht anschließen. Die Gewichtung der Stimmen, die jetzt auf dem Tisch liegen, also wie viele Stimmen hat Deutschland, wie viele Stimmen hat Frankreich, macht die Sache kompliziert. Auch bei kleineren Staaten - Holland hat dieselbe Stimmenzahl wie Belgien, obwohl Holland sieben Millionen mehr Einwohner hat. Hier wird man immer Probleme kriegen. Man wird nie fertig mit der Stimmengewichtung."

    Doch auch ein System der "doppelten Mehrheit", das auch die Europäische Kommission favorisiert, will Frankreich verhindern. Deshalb argumentiert die französische Ratspräsidentschaft lapidar, ein solches Verfahren sei zu kompliziert und setzte als Verhandlungsführer diesen Vorschlag von acht Mitgliedsstaaten erst gar nicht auf die Tagesordnung eines der Vorgespräche. Das allerdings führte zu heftigen Protesten.

    Der französische Außenminister Védrine ist Verfechter eines Modells der einfachen Neugewichtung. Große, kleine und mittlere Staaten werden zu Gruppen zusammengefasst. Jedes Mitglied einer Gruppe bekommt die gleiche Stimmenzahl. Niemand zweifelt daran, dass Frankreich und Deutschland dergleichen Gruppe angehören würden und damit die gleiche Zahl an Stimmen bekämen.

    Wenig Probleme dürften die Entscheidung machen, einigen Ländern eine unter dem Stichwort "Flexibilität" verstärkte Zusammenarbeit untereinander zu ermöglichen. Es würden Gruppen gebildet, die zu einzelnen Politikfeldern eine Avantgarde bilden. Mit der Eurozone existiert bereits eine solche Gruppe, die mit einer gemeinsamen Währungspolitik den übrigen Mitgliedern vorangeht. Bislang allerdings konnte jedes Land mit einem Veto ein solches Vorhaben stoppen. Fällt nun das Vetorecht, so sehen Kritiker die Gefahr einer Zersplitterung der Europäischen Union.

    Die Umstrukturierung der Europäischen Kommission ist ein weiterer Konflikt. Zur Zeit schicken die großen Länder Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien je zwei Kommissare, die übrigen zehn Länder jeweils einen Kommissar nach Brüssel. Um auch in Zukunft effektiv arbeiten zu können, steht ein Rotationsmodell zur Debatte, das beim Arbeitsgipfel in Biarritz von Paris und Berlin gleichermaßen befürwortet wurde. Die Zahl der Kommissare soll auf zwanzig begrenzt werden, die im Wechsel rotieren. Das würde dazu führen, dass Staaten, die zeitweise kein Mitglied in die Kommission entsenden, Entscheidungen dieses Organs dennoch akzeptieren müssen, ohne an der Kommissionsspitze vertreten sein. Dazu noch einmal der SPD-Europa-Abgeordnete Jo Leinen:

    Jo Leinen, PPS, Brüssel:
    "Da liegt ein ganz tiefes Missverständnis über die Rolle und die Funktion der Europäischen Kommission zugrunde. Die Kommissare vertreten nicht ihren Mitgliedsstaat, sie vertreten das gemeinsame europäische Interesse. Die EU-Kommission ist eine Gemeinschaftsinstitution, die das europäische Interesse definieren soll, nicht das jeweilige nationale Interesse. Dafür haben wir den Ministerrat. ... Ich sehe nicht ein, warum dann jeder Staat in der Kommission einen Kommissar haben muss. Sie haben dort Generaldirektoren, sie haben Direktoren, sie haben Abteilungsleiter, also man hat ja aus jedem Land Menschen, die in der Kommission arbeiten. Aber warum muss die Regierung fast paritätisch besetzt sein mit Vertretern aus allen Ländern? Das ging gut, solange die Zahl klein war. Jetzt, wo wir auf ein Europa der 30 Staaten hinsteuern, ist die Logik nicht mehr aufrecht zu erhalten."

    Da bislang keines der kleinen Länder bereit ist, seinen ständigen Platz am Kommissionstisch frei zu machen, hat das Rotationsmodell kaum Aussicht darauf, schon bald Realität zu werden. Alternativ liegt der Vorschlag auf dem Tisch, der vorsieht, das jedes Mitgliedsland einen Kommissar stellt. Das wären nach der Erweiterungsrunde 27, vorausgesetzt, die großen Länder, die bisher zwei Kommissare stellen, bleiben bei ihren Zusagen und verzichten auf einen Sitz an der Spitze der Behörde.

    Der typisch europäische Kompromiss, auf den sich die Verhandlungspartner an der Côte d'Azur einigen könnten, würde beide Vorschläge in sich vereinen: Ab dem Jahre 2005 entsenden alle Mitgliedsstaaten je einen Kommissar nach Brüssel. Für die Kom-mission, die 2010 ernannt wird, gilt dann das Rotationsprinzip bei einer Begrenzung der Zahl der Kommissare, damit die Brüsse-ler Behörde nach einer neuen Erweiterungsrunde nicht weiter aufgebläht wird. Immerhin scheinen sich alle Mitgliedsstaaten darin einig zu sein, das der Kommissionspräsident künftig die politischen Leitlinien seiner Behörde bestimmt.

    Je näher der Termin des Gipfeltreffens rückt, um so lauter werden Stimmen, die bezweifeln, dass in Nizza die anstehenden Probleme von den Staats- und Regierungschefs gelöst werden. Kein Land wird dort umhin kommen, Opfer zu bringen. Es drohe die Gefahr, dass in Nizza Gewinner und Verlierer produziert würden, und das wiederum schreiben Beobachter der französischen Präsidentschaft zu. Statt mit der für die Ratspräsidentschaft gebührenden Zurückhaltung auszuloten, wo bei allen Mitgliedsländern die Schmerzgrenze liege, um danach diplomatische Lösungen zu präsentieren, ginge es den Franzosen allein darum, ihre nationalen Interessen durchzusetzen, so die Kritiker.

    Doch wer die Ratspräsidentschaft inne hat und ein so einschneidendes Reformwerk zu Abschluss bringen soll, macht sich immer Feinde. Die Tatsache, dass so viele unzufrieden sind, bewerten andere Beobachter als gutes Zeichen für den Ausgang der Verhandlungen, denn es zeige, dass alle Federn lassen müssten. Wenige Tage vor der entscheidenden Verhandlungsrunde hat sich Ratspräsident Chirac auf die Reise in die europäischen Hauptstädte begeben, um Kompromisslinien auszutarieren. Klaus Hänsch, SPD-Europa-Abgeordneter und frühere Präsident des Europa-Parlaments, beim Bergedorfer Gesprächskreis:

    Klaus Hänsch, EU-Abgeordneter, SPD:
    "Wir sind noch ein ganzes Stück von den notwendigen Lösungen entfernt, aber es wird so gehen wie es immer geht: Kurz vor dem Ende der Regierungskonferenz, werden sich auch die Lösungen abzeichnen und es wird eine Lösung geben, die die Europäische Union fähig macht, sich zu erweitern. Daß das keine ausreichende Lösung ist, um eines Tages eine Europäische Ubion von 25 und mehr Mitgliedsstaaten handlungsfähig zu halten und transparent zu machen, das wissen wir alle, es wird also nach Nizza einen weiteren Anlauf geben müssen, um der Europäischen Union die Struktur zu geben, die sie braucht, um eine Union von fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Staaten zu sein"

    Doch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europä-ischen Parlament, Elmar Brok, bleibt skeptisch:

    Elmar Brok, EVP, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EP:
    "Wenn ich die bisherigen Verhandlungsvorbereitungen sehe, habe ich tiefe Zweifel, dass es ein Erfolg wird. Aber vielleicht werden die letzten ... Tage auch noch dazu wachrütteln, damit der schwerfällige bürokratische Prozess durch das politische Wunder von Nizza überwunden wird."

    Und Wunder vollbringen müssen die Verhandlungspartner nicht nur bei den Reformvorhaben. Aktuell stehen - neben der Proklamation der Grundrechte-Charta - die einheitliche, europaweite Bekämpfung der Rinderseuche BSE und auf der Agenda. Werden die lange anstehenden Reformen auf dem Gipfel nicht gelöst, so wird das die beitrittswilligen Länder in Ost- und Südosteuropa misstrauisch stimmen und ihr Eifer, die Kriterien zu erfüllen, könnte nachlassen. Und über allem schwebt der Euro als Damoklesschwert: Denn nicht zuletzt der Gemeinschaftswährung, so fürchten Finanzexperten, könnte ein Scheitern von Nizza abermals einen Stoß in den freien Fall versetzen.