"Es gibt ein sehr hohes Risiko, dass 'Tokyo 2020' ein Epizentrum neuer Infektionen wird." Das sagt Haruka Sakamoto von der renommierten Keio Universität in Tokio. Die Spezialistin für öffentliche Gesundheit ist skeptisch, was die Möglichkeiten sicherer Olympischer Spiele diesen Sommer angeht. Rund 11.000 Athleten kommen ins Land – plus Tausende Betreuer und Betreuerinnen und Medienschaffende allein bei Olympia, die Paralympics noch nicht mitgezählt.
"Die Organisatoren haben schon entschieden, dass keine Zuschauer aus dem Ausland kommen dürfen. Aber auch dann ist die Zahl der Besucher noch ziemlich hoch. Menschen aus der ganzen Welt kommen also an einen Ort. Und danach gehen sie zurück nachhause und verbreiten das Virus vielleicht dort. Wir alle wissen zwar, was zu tun wäre, um Infektionen zu vermeiden. Aber das Virus verbreitet sich ja trotzdem. Manchmal sind die Menschen nicht rational genug, manchmal ist es einfach schwierig, die Regeln einzuhalten."
Coronaregeln im Playbook
Mitte der Woche hat das Tokioter Organisationskomitee die neue Version seines Playbooks veröffentlicht. Es legt die Regeln fest, die während der Spiele für Athletinnen gelten. Demnach sind öffentliche Transportmittel tabu und tägliches Testen verpflichtend. Enger Kontakt zu anderen Personen soll minimiert werden. Außerdem müssen sich Sportler eine App runterladen, die ähnlich funktioniert wie die Corona-Warn-App in Deutschland.
Aber es bleiben offene Fragen. Zum Beispiel die nach der Unterbringung der Sportler im neugebauten Athletendorf. Haruka Sakamoto wittert Gefahr: "Die Sportler im Olympischen Dorf unterzubringen ist natürlich hochriskant. Sie leben da nicht in Einzelzimmern, sondern teilen sich ein Zimmer mit anderen Personen. Und dann treffen sie sich draußen zum gemeinsamen Essen und so weiter. Es würde mehr Sinn ergeben, sie auf die Hotels aufzuteilen, die ja jetzt leer bleiben."
Das ist von den Organisatoren bisher nicht geplant. 300 Hotelzimmer sind aber laut Organisationskomitee für den Fall reserviert, dass es unter dem Sportlervolk doch zu Infektionen kommt. Schon dies deutet darauf hin, dass auch die Veranstalter Infektionen während der Spiele miteinkalkulieren. Wie passt dies damit zusammen, dass die Sicherheit "oberste Priorität" habe, wie es seit Ausbruch der Pandemie immer wieder heißt?
Japan erlebt die vierte Welle
Japan erlebt dieser Tage seine vierte Infektionswelle. Insgesamt 600.000 Menschen haben sich bisher infiziert, ein Anstieg um 50 Prozent seit Mitte Januar. Zuletzt waren es an die 8.000 Neuinfektionen pro Tag. Gut 10.000 Menschen sind bis jetzt gestorben. In den größten Metropolregionen wurde einmal mehr der Ausnahmezustand erklärt, Menschen sollen möglichst daheimbleiben, Lokale keinen Alkohol ausschenken und früher schließen.
In Osaka, der zweitgrößten Metropole des Landes, hat die Pandemie das Gesundheitssystem zum Kollaps gebracht, sagt Haruka Sakamoto: "In Osaka ist das System wegen Covid-19 überlastet. Ungefähr 100 Patienten, die eigentlich eine Behandlung im Krankenhaus bräuchten, müssen im Moment zuhause bleiben. In Tokio ist das noch nicht der Fall, aber im Sommer könnte es so weit sein. Die Sommer in Japan sind sehr schwül und heiß. Jedes Jahr brechen im August mehr Menschen als sonst mit Hitzeschlag zusammen und werden ins Krankenhaus eingewiesen. Schon vor der Pandemie gab es die Sorge, dass bei einer hohen Besucherzahl das Gesundheitssystem belastet werden würde. Und jetzt ist auch noch die Pandemie da. Ein Kollaps in Tokio ist zu befürchten."
Hinzu kommt, dass für die Olympischen Spiele 500 Pflegekräfte aus den Krankenhäusern abgezogen werden sollen, damit sie die Athletinnen versorgen können. Kritiker halten das für Irrsinn. Die Organisatoren wollen beruhigen. Am Freitag sagte Hidemasa Nakamura vom Organisationskomitee: "Bei unseren Diskussionen dieser Tage ging es nicht darum, ob wir die Spiele abhalten können, sondern wie. Wir minimieren die Risiken, und unsere aktuelle Version des Playbooks soll dies verdeutlichen. Eine finale Version wird kurz vor den Spielen vorgestellt. Im Juni werden wir auch entscheiden, ob wir Zuschauer aus dem Inland in die Stadien lassen und wenn ja, wie viele. Und falls wir dies tun, werden wir uns an den Erfahrungen aus dem Fußball und Baseball hier orientieren. Dann müssten die Menschen zum Beispiel Masken tragen."
Boykottaufruf von Professoren
Dass das genügt, wird mittlerweile aus vielen Gesellschaftsteilen bezweifelt. Sogar Sportfunktionärinnen und Athleten haben öffentlich Skepsis am Olympiavorhaben geäußert. Einige Unternehmer haben empfohlen, die Spiele abzusagen. Und eine Gruppe 20 bekannter Professoren und Intellektueller hat zum Boykott aufgerufen.
Anfang April verfasste der in Japan und Deutschland bekannte Philosoph Kenichi Mishima einen Brief an die deutschsprachige Öffentlichkeit. Wegen der Infektionsgefahr dürften die Olympischen und Paralympischen Spiele diesen Sommer nicht stattfinden, findet Mishima, auch wenn er privat selbst Sportliebhaber sei:
"Es geht ums nackte Leben, nicht ums nationale Prestige, und natürlich nicht um den ökonomischen Profit. Wir appellieren an die Vernunft der Sportbranche. Wir appellieren aber auch an die Öffentlichkeit der Besuchernation, konkret mit diesem Artikel, an die deutschsprachige Öffentlichkeit: Kommen Sie bitte nicht nach Japan! Wenn sich eine der durch ihre bisherigen sportlichen Leistungen ausgewiesenen Nationen dazu aufraffen könnte, angesichts der Pandemie-Situation ihre olympische Mannschaft zu Hause zu lassen, würde diese Nicht-Entsendung eine Kettenreaktion unter den teilnehmenden Nationen auslösen."
Forscherin: "Die Spiele sollten abgesagt werden"
Die Hoffnung der 20 Unterzeichner und Unterzeichnerinnen ist, dass am Ende die Absage der Spiele stünde. Ein ähnliches Papier verfassten kurz darauf vier Gesundheitsexperten aus Japan und Großbritannien, darunter der bekannte Virologieprofessor Kenji Shibuya. Titel: "Denken Sie über die Olympischen und Paralympischen Spiele noch einmal nach." Schließlich komme zu allen Problemen hinzu, dass bisher weniger als ein Prozent der Bevölkerung in Japan vollständig geimpft ist.
Und selbst wenn es gelingen sollte, bis zum Sommer einen Großteil Japans geimpft zu haben, bestünde damit noch keine Sicherheit. Das IOC geht zwar davon aus, dass zumindest unter den Teilnehmenden viele geimpft sein werden. Unter anderem dank des Impfangebots aus China. Aber selbst unter Geimpften oder nur teilweise Geimpften ist eine Weitergabe des Virus möglich.
Für die Forscherin Haruka Sakamoto ist daher klar: "Ich verstehe, dass es eine schwierige Entscheidung ist. Wenn die Olympischen Spiele ausfallen, bleibt nur ein öffentlicher Schuldenberg. Und für die Athleten ist Olympia der große Traum, auf den sie lange trainiert haben. Aber aus der Perspektive öffentlicher Gesundheit sollten die Spiele abgesagt werden."