Eine schlechte Ausgangslage für den amtierenden Präsidenten Robert Kotscharján bei den Wahlen am 19. Februar. Und doch hat er nach fünf Amtsjahren die größten Aussichten, wiedergewählt zu werden. Umfragen sehen Kotscharjan mit bis zu der Hälfte der Stimmen weit vor seinen Mitbewerbern. Das ist symptomatisch. Denn eine ernstzunehmende Opposition gibt es nicht. Im Parlament regiert das Parteienbündnis des Präsidenten, "Einheit", weitgehend mit der Unterstützung der übrigen neun Kleinparteien. Die armenische Presse wurde im Verlauf der vergangenen Jahre auf Linie gebracht; kritische Journalisten wurden eingeschüchtert, sogar umgebracht. Wahlbeobachter haben bereits erste Verstöße gegen das Wahlgesetz durch Anhänger Kotscharjans ausgemacht.
Politische Feinfühligkeit scheint nicht gerade eine herausragende Eigenschaft des Präsidenten zu sein. Genau die aber hätte das Land nötig. Denn die Probleme, die Armeniens Politiker in den nächsten Jahre zu lösen haben, sind kompliziert. Zum Beispiel der Konflikt mit dem westlichen Nachbarn Türkei.
Auf dem Schwalbenhügel am Rand der Hauptstadt Jerewan ragt ein Dorn aus Granit in den Himmel. Eine ewige Flamme brennt. Nelken schmücken den Marmorboden.
Die Gedenkstätte ist den armenischen Opfern der Verfolgung durch die Türken vor 90 Jahren gewidmet. Nach offiziellen Angaben Jerewans kamen allein im Jahr 1915 anderthalb Millionen Menschen bei Todesmärschen und Massakern ums Leben. Die Türkei spricht von 300.000 Toten. Das Ereignis belastet das armenisch-türkische Verhältnis bis heute. Diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern gibt es nicht. Vahán Hovhannesján ist Vorsitzender der "Armenischen Revolutionären Vereinigung", Daschnakzutjún. Die Partei unterstützt den Präsidenten.
Die Türkei muss den Verlust erstatten, der dem armenischen Volk zugefügt wurde. Aber stattdessen hält sie ihre feindlichen Absichten gegenüber Armenien aufrecht. Die Wirtschaftsblockade, die die Türkei bereits länger als zehn Jahre organisiert, ist eine Form von Krieg.
Die Armenier fordern, dass die Türkei die Auseinandersetzungen von 1915 als "Völkermord" anerkennt und sich offiziell dafür entschuldigt. - Auf keinen Fall, widerspricht Mesut Yilmaz. Der ehemalige Premierminister Yilmaz hat über Jahre die Außenpolitik der Türkei geprägt.
Wir behaupten, dass die Aufklärung der Genozidfrage den Historikern, den Wissenschaftlern überlassen werden soll, nicht Politiker. Wir haben unseren Beitrag zu diesem Zweck geleistet, wir haben ottomanische Archive für Wissenschaftler bereitgestellt. Wir haben auch erklärt, dass wir eine internationale Historikerkommission zu diesem Zweck zustimmen werden, aber von der armenischen Seite haben wir bisher keine positiven Reaktionen festgestellt.
Auch die erst im vergangenen November gewählte, neue türkische Regierung weicht von dieser Position nicht ab.
Eine fatale Situation. Denn durch die unnachgiebige Haltung beider Seiten versinkt Armenien immer weiter in der Isolation. Und auch die Türkei versäumt die Chance, durch eine Öffnung der Grenze die Wirtschaft in ihrer verarmten Ostregion anzukurbeln.
In letzter Zeit mehren sich deshalb in Armenien gemäßigte Stimmen, die dafür eintreten, sich endlich der Türkei zu öffnen. Im Sommer 2002 schlug der armenische Außenminister der türkischen Regierung öffentlich vor, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, OHNE auf der Anerkennung des Genozids zu bestehen. - Ein mutiger Schritt, denn die armenische Außenpolitik wird immer noch erheblich von der Diaspora bestimmt, Nachfahren jener Armenier, die 1915 vor den Verfolgungen durch die Türken ins Ausland geflohen waren. Sie vertreten weiterhin eine unnachgiebige Haltung gegenüber der Türkei. Rúben Schugarján, der stellvertretende Außenminister Armeniens, versucht zu beschwichtigen.
Die Anerkennung des Genozids bleibt unsere außenpolitische FORDERUNG. Aber sie ist KEINE BEDINGUNG für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Wir regieren nach pragmatischen Prinzipien.
Armenien hofft, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Türkei zwingen werden, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen. Die EU fordert von der Türkei bisher allerdings lediglich Bewegung in der Zypernfrage, nicht aber im Verhältnis zu Armenien.
Die Verfolgung der Armenier durch die Türken 1915 ist nicht das einzige Problem, das die armenisch-türkischen Beziehungen belastet. Die Türkei verknüpft ihr Verhältnis zu Armenien außerdem mit Jerewans Haltung im Konflikt um Berg-Karabach.
Berg-Karabach ist ein von Armeniern bewohntes Gebiet innerhalb von Aserbaidschan, dem östlichen Nachbarn Armeniens. Armenien und Aserbaidschan streiten nun schon seit fast 15 Jahren um das Gebiet. Die Türkei unterstützt dabei die Aserbaidschaner. Beide Völker sind ethnisch eng verwandt.
Der Konflikt um Berg-Karabach war ausgebrochen, als Aserbaidschan sich von der Sowjetunion loslöste und für unabhängig erklärte. Die Armenier von Berg-Karabach forderten damals den Anschluss ihres Gebietes an Armenien. Als die Aserbaidschaner das nicht zuließen, erklärte sich auch Berg-Karabach für unabhängig. Es kam zum Krieg, in dessen Verlauf die Armenier mit russischer Waffenhilfe einen Korridor zum Mutterland Armenien und einen breiten Gürtel angrenzender aserbaidschanischer Gebiete um Berg-Karabach herum eroberten und nun ihrerseits zigtausend Aserbaidschaner aus den Dörfern vertrieben. Mindestens 30.000 Menschen kamen auf beiden Seiten ums Leben. Außerdem floh etwa eine Viertelmillion Aserbaidschaner aus Armenien, 400.000 Armenier mussten Aserbaidschan verlassen. 1994 kam es zwar zu einem Waffenstillstand, doch der politische Konflikt schwelt bis heute. Die Grenze Armeniens zu Aserbaidschan ist seit jener Zeit, ebenso wie die zur Türkei, geschlossen.
Die Aserbaidschaner verlangen, dass die Armenier die besetzten Gebiete um Berg-Karabach herum räumen. Aserbaidschan beruft sich auf die Unverletzlichkeit seiner Grenzen - und sieht dabei die internationale Gemeinschaft hinter sich. Mehr als 140 Staaten der Welt - so die Regierung in Baku - hätten Aserbaidschan in seinen Grenzen von 1991 anerkannt - und Berg-Karabach gehörte dazu. Auch der Weltsicherheitsrat hat die Armenier in mehreren Resolutionen zur Räumung der besetzten Gebiete aufgefordert.
Die Armenier aber wollen sich auf keinen Fall aus den besetzten Gebieten zurückziehen, solange Aserbaidschan nicht die Unabhängigkeit Karabachs anerkennt. Bis dahin dienten die Gebiete als militärische Pufferzone, erläutert Masís Mayilján, der stellvertretende Außenminister von Berg-Karabach:
Berg-Karabach darf nie wieder eine Enklave sein; wir werden mit Aserbaidschan nur gleichberechtigte Beziehungen haben und uns niemals unterordnen; und wir benötigen Sicherheitsgarantien für Berg-Karabach und sein Volk. Das sind die außenpolitischen Positionen sowohl der Republik Berg-Karabach als auch der Republik Armenien.
Die türkische Position hingegen ist ebenso deutlich: Sie will ihre Beziehungen zu Armenien erst dann normalisieren, wenn die Armenier die besetzten Gebiete um Berg-Karabach geräumt haben - alles andere hieße, das befreundete Aserbaidschan vor den Kopf zu stoßen. Seyfi Táshan vom Türkischen Institut für Aussenpolitik, das die Regierung in Ankara berät:
Armenien muss seine Politik ändern, wenn es gute Beziehungen mit der Türkei möchte. Armenien muss schnellstens beginnen, mit den internationalen Vermittlern der OSZE zu kooperieren. Und es muss auf einen Friedensvertrag und Verständigung mit Aserbaidschan hinarbeiten, so wie das der erste Präsident Armeniens, Levon Ter Petrosjan, getan hat. Die Nationalisten in Armenien müssen kooperieren, wenn sie wirklich Frieden und Stabilität wollen. Mit Drohungen oder Bemühungen, anderen Staaten ihre Positionen zu diktieren, erreichen sie nichts.
Armenien steht damit vor der Wahl: Entweder es lässt die Armenier in Berg-Karabach im Stich und tritt für eine Räumung der Gebiete ein - dann wäre der Weg für gutnachbarschaftliche Beziehungen mit der Türkei frei - oder es hält an seiner Unterstützung für Karabach fest und blockiert sich weiter selbst. Der derzeitige Präsident, Robert Kotscharjan, ist öffentlich immer für die Karabach-Armenier eingetreten. Sein Vorgänger, der erste Präsident Armeniens, Levón Ter Petrosján, ein früherer sowjetischer Dissident, hatte seinerzeit zurücktreten müssen, eben WEIL er Aserbaidschan einen Friedensvertrag angeboten hatte.
Borís Navasardján ist Vorsitzender des Jerewaner Presseklubs, einer unabhängigen Organisation, die sich für Informationsfreiheit in Armenien einsetzt. Der Presseklub zählt zu den wenigen Institutionen, die noch einen Dialog mit Partnern in Aserbaidschan und in der Türkei aufrechterhalten. Doch auch Navasardján bewertet die offizielle Haltung der Türkei kritisch. Die Türkei müsse ihre Politik unabhängig von Aserbaidschan machen.
Vorerst aber spitzt sich der Konflikt zu. Die Menschen in Berg-Karabach bereiten sich erneut auf einen Krieg vor. Der stellvertretende Aussenminister von Berg-Karabach, Masís Mayilján:
Wir haben eine gute Armee, und die Armee von Berg-Karabach ist bereit, ihr Volk zu verteidigen, wenn Aserbaidschan angreift.
Die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die seit Jahren im Rahmen der sogenannten "Minsker Gruppe" an einer Lösung des Konflikts arbeitet, setzt vor allem auf wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Armenien und Aserbaidschan, um die Krise zu entschärfen. Bisher erfolglos. Denn Aserbaidschan blockiert alle Vorhaben, an denen Armenien beteiligt werden soll. Bei diversen wirtschaftlichen Großprojekten in der Region bleibt Armenien außen vor. Zum Beispiel beim Bau einer Ölpipeline vom aserbaidschanischen Baku am Kaspischen Meer durch Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Das milliardenschwere Projekt wird mit US-amerikanischer Hilfe umgesetzt und soll für wirtschaftlichen Aufschwung und Stabilität in der Region sorgen.
Armenien bleiben deshalb als Handelspartner in der Region nur Russland - von dem es allerdings geographisch durch Georgien getrennt ist - und im Süden das Nachbarland Iran. Mit dem Iran betreibt Armenien diverse Verkehrsprojekte, eventuell soll in ferner Zukunft eine gemeinsame Gastrasse gebaut werden. Schugarjan wehrt sich jedoch gegen die Einteilung der Region in Interessengebiete.
Armenien hat nie dafür plädiert, in irgendeinen Block einzutreten: "Nord-Süd" oder "West-Ost". Wir unterhalten mit dem Iran bilaterale Beziehungen; mit Russland ebenso. Und da kann es sein, dass deren ökonomischen Interessen zufällig zusammenfallen.
Im vergangenen Jahr sorgte ein Tauschgeschäft zwischen Armenien und Russland für Aufsehen. Russland erließ dem kleinen Staat Schulden in Höhe von 100 Millionen US-Dollar. Im Gegenzug erhielt Russland fünf große armenische Staatsunternehmen, darunter Institute für Energiewirtschaft und für Materialwissenschaft. Von einem Ausverkauf nationalen Eigentums war die Rede. Vahán Hovhannesján von der nationalistischen Daschnakzutjún-Partei:
Wir hätten keine Schulden, wenn es keine Blockade gäbe. Unsere Bündnispartner sollten das berücksichtigen. Andererseits haben wir noch den besten Weg gefunden, denn die Russen werden nun investieren, und das bringt Arbeitsplätze. Eine andere Frage ist die Form, die war beleidigend. Aber ein Land, das in der Blockade lebt, hat keine Wahlmöglichkeiten.
Neben wirtschaftlichen Interessen geht es im Südkaukasus um militärische Aspekte. In der Region stossen die Sicherheitsstrategien der USA und Russlands nach wie vor aufeinander. Die drei jungen südkaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien stehen dabei vor einer Richtungsentscheidung. Während in Aserbaidschan und in Georgien prowestliche Stimmungen überwiegen, gilt Armenien bisher als Vasall Russlands. Nach wie vor ist Russland mit Militärbasen und Grenztruppen in Armenien präsent. An der armenisch-türkischen Grenze stehen sich russische und NATO-Soldaten gegenüber. Hovhannesján von der Daschnakzutjún-Partei ist zugleich Vorsitzender des armenischen Sicherheitsausschusses.
Wir betrachten die Anwesenheit Russlands in Armenien als stabilisierenden Faktor. Wenn Russland hier nicht mehr präsent ist, können neue Katastrophen die Region erschüttern: Durch religiöse Auseinandersetzungen, durch radikale islamistische Gruppierungen, oder auch durch ein aggressives Vordringen der Türkei.
Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten Georgien und Aserbaidschan hat Armenien bisher NICHT offen erklärt, sich um eine NATO-Mitgliedschaft bewerben zu wollen. Statt dessen hat es 1997 gegenseitige Militärhilfe mit Russland vereinbart. Armenien versucht trotzdem, sich alle Optionen offenzuhalten. "Komplementäre Politik" nennt der stellvertretende Außenminister Armeniens, Ruben Schugarjan, diesen Spagat.
Die Frage Entweder-Oder existiert für uns nicht. Wir müssen eine Außenpolitik machen, die mehrere Richtungen vereint. Georgien hat erklärt, dass es keine russischen Militärbasen mehr auf seinem Gebiet haben möchte und damit seine Beziehungen zu Russland erheblich verschlechtert. Gleichzeitig hat Georgien erklärt, sobald wie möglich eine Mitgliedschaft in der NATO beantragen zu wollen - und ist damit in einer misslichen Situation: Es ist aus dem einen Sicherheitssystem fast raus, aber im nächsten noch nicht drin. Auch Aserbaidschan hat nur noch wenige Elemente des alten Sicherheitssystems, und das neue funktioniert noch nicht. Wir dagegen befinden uns noch im alten Sicherheitssystem und bereichern es mit neuen Elementen.
Doch diese "neuen Elemente" stellen Armenien vor Probleme. Wie Russland und die meisten GUS-Staaten, beteiligt sich auch Armenien an gemeinsamen Manövern mit der NATO im Rahmen der "Partnerschaft für Frieden", PfP. Für den kommenden Sommer ist im Rahmen von PfP sogar eine Übung in Armenien geplant, voraussichtlich unter Beteiligung türkischer Truppen. Schon diese Ankündigung führte in Armenien zu heftigen Protesten. Vor kurzem stellte der Präsident Armeniens, Robert Kotscharjan, in einer Sendung des russischen Staatsfernsehen klar, er stehe zu der langfristigen militärischen Zusammenarbeit mit Russland. Armenien habe gar kein Interesse an einer NATO-Mitgliedschaft.
Das aber führt die Erklärungen armenischer Regierungspolitiker über den angeblich gewollten strategischen Spagat zwischen den Militärbündnissen ad absurdum. In Armenien geschehe nichts ohne das Einverständnis Russlands, kritisiert Borís Navasardján vom Jerewaner Presseklub. Wenn Armenien sich mit seinen Nachbarn aussöhnen und zu einem stabilen Südkaukasus beitragen wolle, müsse es zwangsläufig die russischen Militärbasen schliessen.
In unserer Region mit all ihren eingefrorenen Konflikten spielt die Anwesenheit des Militärs eine gewaltige Rolle, auch innenpolitisch. Das russische Militär nach Hause zu schicken, würde sehr viel Mut von der armenischen Regierung erfordern. Wenn wir Fortschritt wollen, dann müssen wir diesen entscheidenden Schritt tun.
Diesen Mut sieht Navasardjan bei der derzeitigen Regierung in Jerewan allerdings nicht. Im Gegenteil.
Wir haben jetzt Präsidentenwahlen. Die vergangenen Wahlen haben gezeigt, dass in Armenien nur gewählt werden kann, wer die Unterstützung Moskaus hat. Wenn Russland nur mit einer Andeutung zu verstehen gibt, dass dieser oder jener Kandidat Moskau nicht genehm ist, dann hat er praktisch keine Chance.