Gauck Ja, natürlich konnte ich nicht so weit denken, dass wir alsbald die deutsche Einheit haben würden. Aber ich konnte schon an Freiheit und Demokratisierung und an Menschenrechte denken, an den Verlust der Macht oder das Teilen der Macht derer mit uns, die uns so lange beherrscht hatten. Das Wichtigste damals war aber, und das vergisst man immer über diesen Bildern, die so zum Jubiläum eingespielt werden – da sehen wir immer den Mauerfall, dieses die Deutschen so verbindende Ereignis. Und ich denke aber immer wieder, was davor war, und dass vor der Einheit die Freiheit kam. Und vor der Freiheit mussten wir unsere Angst verlieren und unserer Ohnmacht irgendwie den Abschied geben und auf die Straßen gehen. Und das war doch schwer, besonders, wenn man nun unter Norddeutschen agiert, die nicht so behende sind wie die Sachsen. Wir haben dann im September und Oktober doch mit großen Augen nach Sachsen geschaut, was sich da schon alles tat, und sind dann in meiner Heimat Rostock – sagen wir mal – mit 14 Tagen Verspätung dann auch auf die Straße gekommen. Und dieser Übergang von diesem Gefühl der Ohnmacht, dass man nichts machen kann, mit dieser Ängstlichkeit in dieses Stadium des sich etwas Zutrauens – später sagte ich zu dieser Phase immer 'Ermächtigung', zu dieser Ermächtigung des Einzelnen –, das wird mir unvergessen bleiben. Und so gesehen ist eigentlich für mich die Phase der Befreiung die eigentlich wesentliche Phase in meinem Leben. Ich war ja schon fast fünfzig Jahre alt und hatte nun ein ganzes Leben unter Leuten gelebt, die mich nicht wählen ließen, wer regiert, und die mir meine Rechte zuteilten, die mich einsperrten und ähnliches. Und deshalb ist für alle, die damals aktiv waren, dieses Aufbrechen und Aufstehen so ein unglaubliches emotionales und geistiges Ereignis gewesen.
Hellmich: Dieses Neue Forum, zumal in Rostock, sollte das einmal eine richtige Partei werden? Hatten Sie die Vorstellung so von einem parlamentarischen System, dass Sie da irgendwie . . .
Gauck . . . nein, die hatten wir damals noch nicht. Das war eine Bürgerbewegung, deshalb war sie auch breit angelegt. Das, was eine Partei ausmacht, ist ja, dass sie sich konzentriert auf Leitlinien ihrer Inhalte, ihrer Wertvorstellungen. Und im Grunde waren wir linke konservative liberale Reformer, die eigentlich in der ganzen Breite nachholen wollten, was das europäische Demokratieprojekt in anderen Ländern oft schon seit Jahrzehnten installiert hatte. Generell war uns ein großes Unbehagen gegenüber Parteien allen zu eigen, und es hat dann große Auseinandersetzungen gegeben, speziell im Neuen Forum, aber auch in den anderen Bürgerbewegungen, ob wir uns zur Partei umgestalten sollten. Es kam dann nachher dazu, dass die Mehrheit das Bündnis 90 gründete als eine Partei. Aber wir haben damals schon viele unserer Mitstreiter verloren – 'nein, wir bleiben Bürgerbewegung'. Und es zeigte sich, dass die Demokratiebewegung sehr weit war, vom spontanen Engagement einzelner reichte bis zu einem lockeren Organisationsgrad von Leuten, die Veränderungen wollten und bis hin zu Menschen, die schon weiter blickten und speziell die Leute um die SPD-Gründer Gutzeit und Meckel, die wussten: Ohne diese Parteienstruktur geht es nicht. Die wussten das ein bisschen früher als wir im Neuen Forum.
Hellmich: Diese Bürgerrechtler standen damals für die Veränderung in der DDR. Und heute 2004 steht die PDS im Grunde genommen als Interessenvertreterin der Ostdeutschen in der Öffentlichkeit. Dass das ausgerechnet eben die Nachfolgeorganisation der SED ist, ist doch eigentlich eigenartig?
Gauck Ja, das ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn wir es nur politisch beurteilen. Wenn wir aber eine andere Basis für unser Urteil finden wollen – eine zusätzliche einmal – und gehen von der Mentalität der Menschen aus, dann erscheint uns das plötzlich wieder normal. Denn Menschen können sich nach einem Umbruch – fundamentalen Umbruch – nicht sofort gänzlich ändern. Sie schaffen es zwar, die neuen Lehren, die neuen Botschaften nachzusprechen und sie haben sie auch zum Teil verinnerlicht. Aber wir sind nicht nur das, was wir denken und sprechen, sondern wir sind auch die Art, wie wir leben. Und die Haltungen und unsere Erinnerungen – die Mentalität eben der Menschen – prägt sie viel stärker, als wir, die wir im politischen Leben stehen, oft denken. Und nun ist es so gekommen, dass die PDS natürlich auch aus politischen Gründen für die, die zu diesem System noch gehören, die so ein bisschen rückwärts gewendet diesen staatssozialistischen Idealen anhängen, die gibt es ja, aber das würde die Partei nicht so stark machen. Es sind viele, die auf diesem Weg von der Diktatur in die Demokratie so in einem Unterwegsstadium sind, in einem Zwischenstadium. Und die halten sich an die PDS, weil ihnen dieses Milieu, diese Menschen vertraut sind. Und aus Vertrautheit mit diesem Alten neigen sie dazu, die – jedenfalls eine gewisse Zeit lang, das ist bei einzelnen Leuten unterschiedlich lang – mit ihrer Stimme zu begünstigen.
Hellmich: Herr Gauck, die Bürgerrechtler – also Bündnis 90/Die Grünen – spielen ja auf der anderen Seite kaum noch eine Rolle. Sie versuchen es immer wieder, wir haben es ja wieder bei den Landtagswahlen gesehen – es ist furchtbar schwierig, da einen Fuß auf den Boden zu kriegen.
Gauck Das hängt auch damit zusammen, dass sie sich mit den Grünen zusammengetan haben. Die grüne Bewegung ist all über all hervorgegangen aus zivilgesellschaftlichen Strukturen, die Grünen sind ein Produkt von erwachsenen Demokratien. Und das haben wir nun im Osten nicht, sondern wir haben immer noch – und das werden wir noch eine Zeit lang haben – eine gesellschaftliche Struktur einer Übergangsgesellschaft. Und das, was für viele in einer Zivilgesellschaft selbstverständlich ist, zum Beispiel die eigene Verantwortung zu bejahen, nicht alles vom Staat zu erwarten oder sich auch als einzelner oder als Gruppe in Bürgerinitiativen und Vereinen solchen Anliegen zuzuwenden, die jetzt obenauf sind wie etwa Ökologie, das kennzeichnet doch eine erwachsenere Gesellschaft. Und in diesen Übergangsgesellschaften oder auch in den Diktaturen sind es nur Minderheiten, die diese Themen betreiben und voranbringen – sagen wir mal aufgeklärte Inseln, die in einem Meer von Gleichschaltung und Anpassung aktuelle Demokratie und Entwicklungsthemen für sich selber entdecken und egal, was die da oben sagen, diese Themen besetzen. Die gibt es. Und das ist eine Minderheit. Und die Bürgerbewegung hat es nicht verstanden, sie hat sich auch 1990 – Anfang 90 – überschätzt. Sie hat gedacht, alle die da die DDR ins Grab gebracht haben – Gott sei Dank –, das sei die Bürgerbewegung gewesen. Ja aber das ist falsch. Es gab diese bürgerbewegten Kerne, und die haben eben im Herbst 89 bis in den Winter hinein Anschluss gefunden an breite Bevölkerungsschichten. Wir sollten also über die Rolle von Bürgerbewegung und Bürgerbewegten sprechen – viele Dissidenten unter ihnen –, und von der Rolle der Demokratiebewegung. Das ist jene Bewegung, die dann zu einer Massenbasis wird, die realistischer ist, die weniger idealistisch denkt und die im Grunde pragmatisch die nächste Politikentscheidung sucht, die einen schnelleren Fortschritt bringt.
Hellmich: Was Sie beschrieben haben, hört sich ja fast so an, als hätten wir heute noch in Ost und West zwei unterschiedliche politische Kulturen.
Gauck Das ist richtig. Und es ist gut, dass Sie den Westen mit einbeziehen. Am Osten sehen die Westdeutschen das nun sehr deutlich. Sie neigen im Moment dazu, die Ossis für bekloppt und hinterwäldlerisch zu halten. Sie wählen also die Rechtsradikalen – ich meine das tun also zwischen fünf und zehn Prozent, oder sie wählen die PDS, gut das tun also zwischen 15 und 30 Prozent. Aber das sind ja nicht die Ossis. Im Osten wird, wenn man genau hinschaut, ganz klar, dass die Gesellschaft, dass die Öffentlichkeit gespalten ist. Die größere Hälfte ist angekommen. Über den Teil sprechen wir aber nicht, weil - in der medialen Übermittlung von Sachen gelten ja immer die schlechten Dinge als die interessanten. Ich deute das so, dass viele Menschen im Westen die große Chance einer Definition als Bürger eines Subjektes in der Gesellschaft gar nicht schätzt. Sie tun so, als seien sie hauptsächlich nicht Bürger, sondern Konsumenten. Also ein Betrachter, der von fernen Welten zu uns käme in die freie Welt, der würde sehen, dass viele Menschen gar nicht zur Wahl gehen, dass ihnen die Existenz als Bürger, der seine Bürgerrechte kennt, sie verteidigt und sie durch Wählen oder Aktivitäten in Parteien oder Initiativen oder in einem Verein betreibt. Das ist die Hälfte vielleicht, vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger, so dass wir eigentlich im Osten eine Problematik deutlicher sehen, die es verdeckter auch im Westen gibt. Das ist genau wie mit dem Jammern. Der Ossi gilt als ‚Jammer-Ossi‘, und wenn wir genau hinschauen, dann wissen wir, dass das Jammern im Westen ja auch weit verbreitet ist, nur – die jammern anders.
Hellmich: Ja, nehmen wir doch beispielsweise diese Proteste gegen Hartz IV, die dann im Osten natürlich liefen als 'Montagsdemonstrationen' – auch noch in Aufnahme der Tradition von 89.
Gauck Ja, ich empfand das als falsches Etikett und habe das auch öffentlich gesagt und stehe weiter dazu. Die Montagsdemonstrationen waren etwas ganz Besonderes in der deutschen Politik und Nationalgeschichte. Sie waren ein Stück Ermächtigung der Untertanen und der Beginn eines revolutionären Umbruchs. Davon haben wir nicht viele in unserer Geschichte. Und so ein kostbares Gut einer Freiheitsrevolution nun im Grunde gleichzusetzen mit einem aktuellen Protest gegen eine bestimmte Linie von Regierungsentscheidung, das ist doch wohl etwas dürftig. Und es ist auch falsch. Deshalb habe ich mich dagegen ausgesprochen.
Hellmich: Aber warum findet dieser Protest im Osten mehr Anklang als im Westen? Nur, weil die Arbeitslosenquote dort höher ist?
Gauck Nein, nicht nur. Es bündeln sich verschiedene Gründe des Ostfrustes hier in Aktionen. Aber was nun im Osten die Dynamik hervorgebracht hat, die nun inzwischen ja allerdings auch abgeebbt ist, ist dieses allgemeine Schlechtfühlen des Ostens. Der Osten ist eben – und das war eine Folge der schnellen Einheit, die wir alle wollten im Osten, wir haben ja dem Kohl damals Druck gemacht, und nicht der Kohl uns. Sondern die Bevölkerung wollte die schnelle Einheit, sie wollte das Geld und sie wollte die neuen anderen freiheitlichen Lebensverhältnisse, so. Und nun haben sie aber gemerkt: Was also politisch und ökonomisch richtig war, war für die Psychen ein Riesenproblem. Wir wollen ganz schnell Wessis sein, das konnten wir natürlich nicht, und nun kommt der Oberamtsrat aus Neustadt am Rübenberge, aus Traunstein und Saarlouis und erklärt dem Ossi-Menschen, wie das nun funktioniert. Und zwar kommen sie alle. Es kommen die Schulmenschen – Gott sei Dank, es kommen die Leute, die das Recht in Gerichten exekutieren, ausführen – Gott sei Dank, es kommen die, die Ökologie kennen – Gott sei Dank, und es kommen die, die wissen, was ein Grundbuch ist. Es kommen die Theatermenschen, es kommen die Zeitungsmenschen, die Rundfunk- und Fernsehmenschen. Und der Ossi, der eben noch Sieger der Geschichte war, ist jetzt ein Lehrling. Und dann entsteht so ein Gefühl des Hinterherlaufens oder der zweiten Ohnmacht. Es ist keine richtige Ohnmacht, aber sie haben das Gefühl, von nachrangiger Bedeutung zu sein. Und deshalb sind viele im Grunde in einen Westfrust geraten, die eigentlich aber angekommen waren. Und bei den Montagsdemos – also ich kenne ja meine Leute, die da rumlaufen, die haben auch nicht alle Geld verloren. Viele haben aber Bedeutung verloren. In der PDS, die diesen Protest ganz stark trägt, sind sehr viele Menschen sehr gut angekommen, sie sind gut am verdienen, aber eines haben sie nicht: Sie sind nicht mehr Teil der Führungsschicht, wir müssen nicht mehr den Hut abnehmen vor ihnen. Und sie haben eine Rolle, eine Stellung, eine Bedeutung verloren, da sind sie recht betrübt drüber. Nun wollen wir unsere Landsleute mal erinnern, dass wir Revolution machen, dass die Oberschicht hinterher betrübt ist. Also, das ist nicht so tragisch, nur: Sie empfinden das als einen Verlust, ihre Lebenspläne sind durcheinander, sie haben nicht mehr die Anerkennung, die sie hatten. Und deshalb bündelt sich ein aus finanziellen Nöten oder Ängsten gespeister Verlust mit einem Verlust an Rollensicherheit. Und sie meinen dann, das ist ja gar nicht mehr so richtig ihr Land, deshalb auch diese Sehnsucht nach Sozialismus irgendwie – nicht so direkt DDR. Und da kommt also vieles zusammen.
Hellmich: Wirkt da nicht vielleicht auch noch so 40 Jahre DDR-Sozialisation nach? Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich so auch das Wertesystem ein bisschen unterscheidet. Wenn wir also mal so die Werte unserer bürgerlichen Revolution von 1789 nehmen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, dann kann ich mir vorstellen, dass in Ost und West die Sache mit der Brüderlichkeit noch so einigermaßen einhergeht. Ich glaube aber, mit der Gleichheit und der Freiheit, das wird durchaus unterschiedlich bewertet.
Gauck Ja. Also bei der Gleichheit sind sie natürlich ganz groß. Und das, was Ihr Eindruck ist, ist nicht nur Ihr Eindruck und meiner, sondern das lässt sich auch statistisch erheben. In allen relevanten Umfragen findet etwa der Wert der Freiheit oder die Rolle des Rechtsstaates oder aber die Fähigkeit unseres Gesellschaftssystems, die Probleme zu lösen, im Osten eine signifikant niedrigere Zustimmung als das im Westen ist. Auch im Westen muss man ein bisschen skeptisch sein bezüglich etwa der Zustimmungsrate zum Grundwert Freiheit. Aber es ist deutlich höher als im Osten. Und deshalb fällt uns bei den Ossis etwas auf, was wir Deutschen alle gut können. Das ist das Angst haben. Diese durch ihre eigene Hybris gebrochene Nation liebt fast die Angst. Oder sagen wir: Sie hat eine fatale Neigung zur Angst. Fatal deshalb, weil Angst entmächtigt und man sie nicht gut heißen kann. Aber das merken Sie auch bei unpolitischen Themen, die eine riesige Akzeptanz haben: Wenn Kampfhunde plötzlich Deutschland bedrohen oder eine bestimmte Seuche, das wird in einer Weise hochgezogen von bestimmten Medien – warum tun die das? Weil sie das Bedürfnis der Menschen befriedigen. Das verkauft sich gut. Und das heißt, an den Ossis sehen wir nun, dass dieses Angstpotential, was in der ganzen Nation steckt, noch besonders verfestigt ist. Und wir müssten einmal die Rolle von Angst in der Diktatur anschauen. Das ist ja so etwas wie ein Signalgeber. Die Angst lehrt dich, zu schweigen, wenn du eigentlich reden müsstest, zu schweigen wegen deiner eigenen Sicherheit, wegen deiner Karrierewünsche. Wir könnten sagen: Wer in der Diktatur lebt – und die Ossis haben hier den entscheidenden Unterschied, sie haben 56 Jahre unter Diktatur gelebt, der Wessi 12 Jahre. Der Wessi konnte nun im Grunde – in der Schule mit Klassensprechern, Schülerzeitungen, im Betrieb mit richtigen Gewerkschaften und Personalvertretungen, in den Medien mit freiem Meinungsaustausch und auch Streit – konnte eine andere Art von Bürgersein entwickeln. Er hat ermächtigende Einzelerfahrungen in seiner Gesellschaft hinter sich und das schafft den Typus 'Bürger'. Und der Ossi, der ist im Grunde sein Leben lang mit einem Angstanpassungssyndrom ausgestattet worden. Und bei ihm hat forcierter Gehorsam forcierten Aufstieg gebracht, und ein bisschen Gehorsam ein bisschen Aufstieg. Und deshalb sind die Karrieremuster so unterschiedlich. Wenn wir mal übertrieben sagen: Wenn wir mal die unangenehmen Typen der beiden Gesellschaften metaphorisch charakterisieren wollen, dann hat der Wessi seine Hornhaut an den Ellenbogen und der Ossi auf den Knien. Und beides ist unangenehm, weil das Karrieremuster sind, die wir nicht mögen. Und wenn wir jetzt diese Übertreibungen weg ziehen, dann bleibt ein kultureller Unterschied der andauernden politischen Ohnmacht und der Antistrategien gegen Ohnmacht: Das Leben in Nischen, den Doppelsprech, die Spaltung innerhalb der Personen als gesellschaftliches Grundphänomen und das mangelnde Zutrauen zur eigenen Kraft und Verantwortung und die hohe Erwartung gegenüber denen da oben. Und indem ich das alles aufzähle, spüren Sie, dass, mag der Westen unvollkommen sein wie er will, aber dass doch entscheidende kulturelle Unterschiede gewachsen sind.
Hellmich: Sie sprechen immer so von den 'Ossis'. Sind Sie eigentlich heute noch ein Ossi oder sind Sie ein Wessi?
Gauck Ich bin vom Denken her sicher ein Wessi. Von meinen Lebensgefühlen kann ich gar nicht anders als ein Ossi sein. 50 Jahre habe ich mich verhalten müssen wie viele meiner Landsleute. Ich hatte noch Glück. Ich hatte eine Nische gefunden mit meiner Tätigkeit in der Kirche. Ich konnte, anders als ein Lehrer, ein Hochschullehrer, konnte viel stärker sagen und leben, was meine eigenen Werte sind, konnte auch eine Gewissensentscheidung wagen. Gut, das haben andere Leute auch getan, aber wir in der Kirche haben da im Grunde schon Dinge trainiert, die sich andere noch versagt haben. Und auch als Lebenshaltung – ich würde mich nicht so ohnmächtig bezeichnen damals. Politisch gesehen war ich genau so ohnmächtig wie alle anderen auch. Das ist ja klar.
Hellmich: Die "Ostidentität" – in Anführungsstrichen – wird ja vielfach auch als bewahrenswert angesehen. Ist sie das wirklich?
Gauck Nein, das ist Unfug. Das ist die verhinderte Trauer von Menschen, die sich nicht heran wagen an das Lebensthema einer langen Lebenszeit in einem Gesellschaftsmodell, das nichts Bewahrenswertes an sich hat. Der Kommunismus als Herrschaftsform – nicht als Idee, als Herrschaftsform – hat sich in die Welt begeben nur als Rückschritt der Politikgeschichte. Er enthält nichts Bewahrenswertes. Bewahrenswert empfinden die Menschen ihre Strategien der Solidarität. Und oft denken Sie, das habe etwas mit dem anderen, nichtkapitalistischen System zu tun gehabt. Das ist ein schwerer Irrtum. Diese solidarische Haltung, die viele Menschen heute so schmerzlich vermissen, ist eine Not- und Gegenstrategie von Ohnmächtigen und Unterdrückten. Auch von Menschen, die sich versorgen wollten. Die DDR war ja immer eine Mangelgesellschaft. Und natürlich hatte eine Person, die Klempnermeister war, oder die mit Autoersatzteilen handelte oder Autoreifen, die hatte einen unglaublichen Freundeskreis. Auch jemand, der Aale noch kannte oder mit Blumen oder Pullovern handelte, die hatten alle Freundeskreise. Und man musste sich helfen beim Hausbau, man musste den Zement besorgen. Man ging nicht in den Baumarkt. "Kennst du den?" ja - und "Wann gibt es Zement?" – und dann musste man sich helfen beim Bauen. So sind viele Lebenserfahrungen als Gemeinschaftserfahrungen eingebunkert in dem Gedächtnis. Und viele Menschen merken nicht, dass ihre Art der Beheimatung in diesem Gemeinschaftsgefühl große Ähnlichkeit hat mit einem anderen Phänomen, das die Älteren kennen. Die Weltkriegsteilnehmer I und II, wenn die hinterher nach dem Krieg zusammen saßen, noch viele Jahre danach, mit ihresgleichen, dann war immer wieder der Krieg Thema. Nie in ihrem ganzen Leben waren sie dem Tod so nah, hatten ihn gesehen und angefasst und geschmeckt, und vielleicht der Rettung, dem Überleben. Und diese Kameradschaft, die sie dort erlebt haben, die halten sie ihr ganzes Leben lang für etwas Besonderes, auch wenn sie Krieg eigentlich hassen.
Hellmich: Henning Voscherau hat einmal gesagt, ich glaube, das muss so um den 3. Oktober 1990 herum gewesen sein: Es wird wohl 40 Jahre dauern, bis die Einheit wirklich vollendet ist. Also so lange die DDR gebraucht hat . . .
Gauck Ja, das haben wohl einige gesagt. Ich möchte mich dazu rechnen. Wir haben in Rostock ein Jahr nach der Revolution einen Gedenkgottesdienst gemacht mit anschließendem Umzug. Und mir ist dabei eingefallen, dass ich in der Bibel, im älteren Teil der Bibel, eine Geschichte finde, wie Mose und die Israeliten aus dem Sklavenhause Ägypten ausziehen, aus der Gefangenschaft und Unterdrückung also und sich aufmachen, um nach Israel zu gelangen. 40 Jahre dauert die Wüstenwanderung. Selbst, wenn man langsam und zu Fuß geht, braucht man keine 40 Jahre von Ägypten nach Israel. Diese Zahl hat schon etwas Magisches insofern, als sie zwei Generationen beschreibt. Und ich hatte vorhin ein Beispiel genannt der Andersartigkeit der Ossis. Es macht einen Unterschied, ob eine ganze Schulzeit lang eine Klassensprecherin gewählt wird oder ein FDJ-Sekretär oder Pionier-Sekretär. Dadurch entstehen andere Schülertypen, und später in der Gesellschaft ist das auch so. Und wenn erst mal alle diese Prägung einer demokratischen offenen Gesellschaft auch in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hat, dann ähneln sich die Landsleute. Und das dauert eben diese Zeit, die Sie angesprochen haben.
Hellmich: Dann haben wir ja noch 26 Jahre vor uns. Muss man da in der Zeit irgend etwas tun, um diesen Prozess anzuschieben, oder kann man sich zurück lehnen und einfach abwarten?
Gauck Na ja, das machen viele. Aber das würde ich natürlich niemandem empfehlen. Alles kann man nicht tun. Auch eine noch so gute Vereinigungspolitik hätte die Unterschiede Ost und West aus den Gründen, die wir hier besprochen haben, nicht wegwischen können. Das ist eine große Illusion, auch wenn alle in Arbeit gewesen wären. Aber eines ist doch feststellbar: Die Änderung der Westdeutschen nach dem Krieg – da war ja auch so eine Übergangssituation – sah zunächst auch sehr schwierig aus. Unmittelbar in den ersten drei Nachkriegsjahren reden die Leute wie die Ossis jetzt: Es war auch nicht alles schlecht früher. Damals hieß es dann immer: Autobahnen, Vollbeschäftigung, keine Kriminalität – so, wie die Ossis jetzt auch reden. Dann ändert sich das – das ist statistisch auch belegbar – mit dem Greifen des Wirtschaftswunders. Und wenn wir uns nun fragen: "Was haben wir denn in den 90ern erlebt im Osten, war das nicht auch ein Wirtschaftswunder?", dann müssen wir ehrlicherweise antworten: "Ja, für die Hälfte". Wenn es uns gelänge oder gelungen wäre, etwa so wie die Dohnany-Kommission es ich jetzt überlegt hatte, den selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung im Osten zu organisieren, das hilft, das gibt Menschen einen Ort, gibt ihnen eine Sicherheit. Und man darf diese Sicherheit durch Tätigkeit nicht unterschätzen. Wir brauchen im Grunde durch erfahrbare Arbeitsleistung und Erfolge ein grundsätzliches Ja. Dies ermächtigt uns dann zum Vertrauen in die Gesellschaft. Und dann kommen diese positiven Entwicklungen in Gange. Und wenn die eben ausbleiben und wenn man den Osten als eine "Ach Gott, eine Nebensache, sind ja nur 20 Prozent, die da wohnen, und das können wir wirtschaftlich schon alles reißen", wenn wir das so sehen, dann dauern diese Wandlungsprozesse viel länger und Leute wie Wechselwähler und PDS-Anhänger, die haben dann ein längeres Leben.
Hellmich: Dieses Neue Forum, zumal in Rostock, sollte das einmal eine richtige Partei werden? Hatten Sie die Vorstellung so von einem parlamentarischen System, dass Sie da irgendwie . . .
Gauck . . . nein, die hatten wir damals noch nicht. Das war eine Bürgerbewegung, deshalb war sie auch breit angelegt. Das, was eine Partei ausmacht, ist ja, dass sie sich konzentriert auf Leitlinien ihrer Inhalte, ihrer Wertvorstellungen. Und im Grunde waren wir linke konservative liberale Reformer, die eigentlich in der ganzen Breite nachholen wollten, was das europäische Demokratieprojekt in anderen Ländern oft schon seit Jahrzehnten installiert hatte. Generell war uns ein großes Unbehagen gegenüber Parteien allen zu eigen, und es hat dann große Auseinandersetzungen gegeben, speziell im Neuen Forum, aber auch in den anderen Bürgerbewegungen, ob wir uns zur Partei umgestalten sollten. Es kam dann nachher dazu, dass die Mehrheit das Bündnis 90 gründete als eine Partei. Aber wir haben damals schon viele unserer Mitstreiter verloren – 'nein, wir bleiben Bürgerbewegung'. Und es zeigte sich, dass die Demokratiebewegung sehr weit war, vom spontanen Engagement einzelner reichte bis zu einem lockeren Organisationsgrad von Leuten, die Veränderungen wollten und bis hin zu Menschen, die schon weiter blickten und speziell die Leute um die SPD-Gründer Gutzeit und Meckel, die wussten: Ohne diese Parteienstruktur geht es nicht. Die wussten das ein bisschen früher als wir im Neuen Forum.
Hellmich: Diese Bürgerrechtler standen damals für die Veränderung in der DDR. Und heute 2004 steht die PDS im Grunde genommen als Interessenvertreterin der Ostdeutschen in der Öffentlichkeit. Dass das ausgerechnet eben die Nachfolgeorganisation der SED ist, ist doch eigentlich eigenartig?
Gauck Ja, das ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn wir es nur politisch beurteilen. Wenn wir aber eine andere Basis für unser Urteil finden wollen – eine zusätzliche einmal – und gehen von der Mentalität der Menschen aus, dann erscheint uns das plötzlich wieder normal. Denn Menschen können sich nach einem Umbruch – fundamentalen Umbruch – nicht sofort gänzlich ändern. Sie schaffen es zwar, die neuen Lehren, die neuen Botschaften nachzusprechen und sie haben sie auch zum Teil verinnerlicht. Aber wir sind nicht nur das, was wir denken und sprechen, sondern wir sind auch die Art, wie wir leben. Und die Haltungen und unsere Erinnerungen – die Mentalität eben der Menschen – prägt sie viel stärker, als wir, die wir im politischen Leben stehen, oft denken. Und nun ist es so gekommen, dass die PDS natürlich auch aus politischen Gründen für die, die zu diesem System noch gehören, die so ein bisschen rückwärts gewendet diesen staatssozialistischen Idealen anhängen, die gibt es ja, aber das würde die Partei nicht so stark machen. Es sind viele, die auf diesem Weg von der Diktatur in die Demokratie so in einem Unterwegsstadium sind, in einem Zwischenstadium. Und die halten sich an die PDS, weil ihnen dieses Milieu, diese Menschen vertraut sind. Und aus Vertrautheit mit diesem Alten neigen sie dazu, die – jedenfalls eine gewisse Zeit lang, das ist bei einzelnen Leuten unterschiedlich lang – mit ihrer Stimme zu begünstigen.
Hellmich: Herr Gauck, die Bürgerrechtler – also Bündnis 90/Die Grünen – spielen ja auf der anderen Seite kaum noch eine Rolle. Sie versuchen es immer wieder, wir haben es ja wieder bei den Landtagswahlen gesehen – es ist furchtbar schwierig, da einen Fuß auf den Boden zu kriegen.
Gauck Das hängt auch damit zusammen, dass sie sich mit den Grünen zusammengetan haben. Die grüne Bewegung ist all über all hervorgegangen aus zivilgesellschaftlichen Strukturen, die Grünen sind ein Produkt von erwachsenen Demokratien. Und das haben wir nun im Osten nicht, sondern wir haben immer noch – und das werden wir noch eine Zeit lang haben – eine gesellschaftliche Struktur einer Übergangsgesellschaft. Und das, was für viele in einer Zivilgesellschaft selbstverständlich ist, zum Beispiel die eigene Verantwortung zu bejahen, nicht alles vom Staat zu erwarten oder sich auch als einzelner oder als Gruppe in Bürgerinitiativen und Vereinen solchen Anliegen zuzuwenden, die jetzt obenauf sind wie etwa Ökologie, das kennzeichnet doch eine erwachsenere Gesellschaft. Und in diesen Übergangsgesellschaften oder auch in den Diktaturen sind es nur Minderheiten, die diese Themen betreiben und voranbringen – sagen wir mal aufgeklärte Inseln, die in einem Meer von Gleichschaltung und Anpassung aktuelle Demokratie und Entwicklungsthemen für sich selber entdecken und egal, was die da oben sagen, diese Themen besetzen. Die gibt es. Und das ist eine Minderheit. Und die Bürgerbewegung hat es nicht verstanden, sie hat sich auch 1990 – Anfang 90 – überschätzt. Sie hat gedacht, alle die da die DDR ins Grab gebracht haben – Gott sei Dank –, das sei die Bürgerbewegung gewesen. Ja aber das ist falsch. Es gab diese bürgerbewegten Kerne, und die haben eben im Herbst 89 bis in den Winter hinein Anschluss gefunden an breite Bevölkerungsschichten. Wir sollten also über die Rolle von Bürgerbewegung und Bürgerbewegten sprechen – viele Dissidenten unter ihnen –, und von der Rolle der Demokratiebewegung. Das ist jene Bewegung, die dann zu einer Massenbasis wird, die realistischer ist, die weniger idealistisch denkt und die im Grunde pragmatisch die nächste Politikentscheidung sucht, die einen schnelleren Fortschritt bringt.
Hellmich: Was Sie beschrieben haben, hört sich ja fast so an, als hätten wir heute noch in Ost und West zwei unterschiedliche politische Kulturen.
Gauck Das ist richtig. Und es ist gut, dass Sie den Westen mit einbeziehen. Am Osten sehen die Westdeutschen das nun sehr deutlich. Sie neigen im Moment dazu, die Ossis für bekloppt und hinterwäldlerisch zu halten. Sie wählen also die Rechtsradikalen – ich meine das tun also zwischen fünf und zehn Prozent, oder sie wählen die PDS, gut das tun also zwischen 15 und 30 Prozent. Aber das sind ja nicht die Ossis. Im Osten wird, wenn man genau hinschaut, ganz klar, dass die Gesellschaft, dass die Öffentlichkeit gespalten ist. Die größere Hälfte ist angekommen. Über den Teil sprechen wir aber nicht, weil - in der medialen Übermittlung von Sachen gelten ja immer die schlechten Dinge als die interessanten. Ich deute das so, dass viele Menschen im Westen die große Chance einer Definition als Bürger eines Subjektes in der Gesellschaft gar nicht schätzt. Sie tun so, als seien sie hauptsächlich nicht Bürger, sondern Konsumenten. Also ein Betrachter, der von fernen Welten zu uns käme in die freie Welt, der würde sehen, dass viele Menschen gar nicht zur Wahl gehen, dass ihnen die Existenz als Bürger, der seine Bürgerrechte kennt, sie verteidigt und sie durch Wählen oder Aktivitäten in Parteien oder Initiativen oder in einem Verein betreibt. Das ist die Hälfte vielleicht, vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger, so dass wir eigentlich im Osten eine Problematik deutlicher sehen, die es verdeckter auch im Westen gibt. Das ist genau wie mit dem Jammern. Der Ossi gilt als ‚Jammer-Ossi‘, und wenn wir genau hinschauen, dann wissen wir, dass das Jammern im Westen ja auch weit verbreitet ist, nur – die jammern anders.
Hellmich: Ja, nehmen wir doch beispielsweise diese Proteste gegen Hartz IV, die dann im Osten natürlich liefen als 'Montagsdemonstrationen' – auch noch in Aufnahme der Tradition von 89.
Gauck Ja, ich empfand das als falsches Etikett und habe das auch öffentlich gesagt und stehe weiter dazu. Die Montagsdemonstrationen waren etwas ganz Besonderes in der deutschen Politik und Nationalgeschichte. Sie waren ein Stück Ermächtigung der Untertanen und der Beginn eines revolutionären Umbruchs. Davon haben wir nicht viele in unserer Geschichte. Und so ein kostbares Gut einer Freiheitsrevolution nun im Grunde gleichzusetzen mit einem aktuellen Protest gegen eine bestimmte Linie von Regierungsentscheidung, das ist doch wohl etwas dürftig. Und es ist auch falsch. Deshalb habe ich mich dagegen ausgesprochen.
Hellmich: Aber warum findet dieser Protest im Osten mehr Anklang als im Westen? Nur, weil die Arbeitslosenquote dort höher ist?
Gauck Nein, nicht nur. Es bündeln sich verschiedene Gründe des Ostfrustes hier in Aktionen. Aber was nun im Osten die Dynamik hervorgebracht hat, die nun inzwischen ja allerdings auch abgeebbt ist, ist dieses allgemeine Schlechtfühlen des Ostens. Der Osten ist eben – und das war eine Folge der schnellen Einheit, die wir alle wollten im Osten, wir haben ja dem Kohl damals Druck gemacht, und nicht der Kohl uns. Sondern die Bevölkerung wollte die schnelle Einheit, sie wollte das Geld und sie wollte die neuen anderen freiheitlichen Lebensverhältnisse, so. Und nun haben sie aber gemerkt: Was also politisch und ökonomisch richtig war, war für die Psychen ein Riesenproblem. Wir wollen ganz schnell Wessis sein, das konnten wir natürlich nicht, und nun kommt der Oberamtsrat aus Neustadt am Rübenberge, aus Traunstein und Saarlouis und erklärt dem Ossi-Menschen, wie das nun funktioniert. Und zwar kommen sie alle. Es kommen die Schulmenschen – Gott sei Dank, es kommen die Leute, die das Recht in Gerichten exekutieren, ausführen – Gott sei Dank, es kommen die, die Ökologie kennen – Gott sei Dank, und es kommen die, die wissen, was ein Grundbuch ist. Es kommen die Theatermenschen, es kommen die Zeitungsmenschen, die Rundfunk- und Fernsehmenschen. Und der Ossi, der eben noch Sieger der Geschichte war, ist jetzt ein Lehrling. Und dann entsteht so ein Gefühl des Hinterherlaufens oder der zweiten Ohnmacht. Es ist keine richtige Ohnmacht, aber sie haben das Gefühl, von nachrangiger Bedeutung zu sein. Und deshalb sind viele im Grunde in einen Westfrust geraten, die eigentlich aber angekommen waren. Und bei den Montagsdemos – also ich kenne ja meine Leute, die da rumlaufen, die haben auch nicht alle Geld verloren. Viele haben aber Bedeutung verloren. In der PDS, die diesen Protest ganz stark trägt, sind sehr viele Menschen sehr gut angekommen, sie sind gut am verdienen, aber eines haben sie nicht: Sie sind nicht mehr Teil der Führungsschicht, wir müssen nicht mehr den Hut abnehmen vor ihnen. Und sie haben eine Rolle, eine Stellung, eine Bedeutung verloren, da sind sie recht betrübt drüber. Nun wollen wir unsere Landsleute mal erinnern, dass wir Revolution machen, dass die Oberschicht hinterher betrübt ist. Also, das ist nicht so tragisch, nur: Sie empfinden das als einen Verlust, ihre Lebenspläne sind durcheinander, sie haben nicht mehr die Anerkennung, die sie hatten. Und deshalb bündelt sich ein aus finanziellen Nöten oder Ängsten gespeister Verlust mit einem Verlust an Rollensicherheit. Und sie meinen dann, das ist ja gar nicht mehr so richtig ihr Land, deshalb auch diese Sehnsucht nach Sozialismus irgendwie – nicht so direkt DDR. Und da kommt also vieles zusammen.
Hellmich: Wirkt da nicht vielleicht auch noch so 40 Jahre DDR-Sozialisation nach? Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich so auch das Wertesystem ein bisschen unterscheidet. Wenn wir also mal so die Werte unserer bürgerlichen Revolution von 1789 nehmen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, dann kann ich mir vorstellen, dass in Ost und West die Sache mit der Brüderlichkeit noch so einigermaßen einhergeht. Ich glaube aber, mit der Gleichheit und der Freiheit, das wird durchaus unterschiedlich bewertet.
Gauck Ja. Also bei der Gleichheit sind sie natürlich ganz groß. Und das, was Ihr Eindruck ist, ist nicht nur Ihr Eindruck und meiner, sondern das lässt sich auch statistisch erheben. In allen relevanten Umfragen findet etwa der Wert der Freiheit oder die Rolle des Rechtsstaates oder aber die Fähigkeit unseres Gesellschaftssystems, die Probleme zu lösen, im Osten eine signifikant niedrigere Zustimmung als das im Westen ist. Auch im Westen muss man ein bisschen skeptisch sein bezüglich etwa der Zustimmungsrate zum Grundwert Freiheit. Aber es ist deutlich höher als im Osten. Und deshalb fällt uns bei den Ossis etwas auf, was wir Deutschen alle gut können. Das ist das Angst haben. Diese durch ihre eigene Hybris gebrochene Nation liebt fast die Angst. Oder sagen wir: Sie hat eine fatale Neigung zur Angst. Fatal deshalb, weil Angst entmächtigt und man sie nicht gut heißen kann. Aber das merken Sie auch bei unpolitischen Themen, die eine riesige Akzeptanz haben: Wenn Kampfhunde plötzlich Deutschland bedrohen oder eine bestimmte Seuche, das wird in einer Weise hochgezogen von bestimmten Medien – warum tun die das? Weil sie das Bedürfnis der Menschen befriedigen. Das verkauft sich gut. Und das heißt, an den Ossis sehen wir nun, dass dieses Angstpotential, was in der ganzen Nation steckt, noch besonders verfestigt ist. Und wir müssten einmal die Rolle von Angst in der Diktatur anschauen. Das ist ja so etwas wie ein Signalgeber. Die Angst lehrt dich, zu schweigen, wenn du eigentlich reden müsstest, zu schweigen wegen deiner eigenen Sicherheit, wegen deiner Karrierewünsche. Wir könnten sagen: Wer in der Diktatur lebt – und die Ossis haben hier den entscheidenden Unterschied, sie haben 56 Jahre unter Diktatur gelebt, der Wessi 12 Jahre. Der Wessi konnte nun im Grunde – in der Schule mit Klassensprechern, Schülerzeitungen, im Betrieb mit richtigen Gewerkschaften und Personalvertretungen, in den Medien mit freiem Meinungsaustausch und auch Streit – konnte eine andere Art von Bürgersein entwickeln. Er hat ermächtigende Einzelerfahrungen in seiner Gesellschaft hinter sich und das schafft den Typus 'Bürger'. Und der Ossi, der ist im Grunde sein Leben lang mit einem Angstanpassungssyndrom ausgestattet worden. Und bei ihm hat forcierter Gehorsam forcierten Aufstieg gebracht, und ein bisschen Gehorsam ein bisschen Aufstieg. Und deshalb sind die Karrieremuster so unterschiedlich. Wenn wir mal übertrieben sagen: Wenn wir mal die unangenehmen Typen der beiden Gesellschaften metaphorisch charakterisieren wollen, dann hat der Wessi seine Hornhaut an den Ellenbogen und der Ossi auf den Knien. Und beides ist unangenehm, weil das Karrieremuster sind, die wir nicht mögen. Und wenn wir jetzt diese Übertreibungen weg ziehen, dann bleibt ein kultureller Unterschied der andauernden politischen Ohnmacht und der Antistrategien gegen Ohnmacht: Das Leben in Nischen, den Doppelsprech, die Spaltung innerhalb der Personen als gesellschaftliches Grundphänomen und das mangelnde Zutrauen zur eigenen Kraft und Verantwortung und die hohe Erwartung gegenüber denen da oben. Und indem ich das alles aufzähle, spüren Sie, dass, mag der Westen unvollkommen sein wie er will, aber dass doch entscheidende kulturelle Unterschiede gewachsen sind.
Hellmich: Sie sprechen immer so von den 'Ossis'. Sind Sie eigentlich heute noch ein Ossi oder sind Sie ein Wessi?
Gauck Ich bin vom Denken her sicher ein Wessi. Von meinen Lebensgefühlen kann ich gar nicht anders als ein Ossi sein. 50 Jahre habe ich mich verhalten müssen wie viele meiner Landsleute. Ich hatte noch Glück. Ich hatte eine Nische gefunden mit meiner Tätigkeit in der Kirche. Ich konnte, anders als ein Lehrer, ein Hochschullehrer, konnte viel stärker sagen und leben, was meine eigenen Werte sind, konnte auch eine Gewissensentscheidung wagen. Gut, das haben andere Leute auch getan, aber wir in der Kirche haben da im Grunde schon Dinge trainiert, die sich andere noch versagt haben. Und auch als Lebenshaltung – ich würde mich nicht so ohnmächtig bezeichnen damals. Politisch gesehen war ich genau so ohnmächtig wie alle anderen auch. Das ist ja klar.
Hellmich: Die "Ostidentität" – in Anführungsstrichen – wird ja vielfach auch als bewahrenswert angesehen. Ist sie das wirklich?
Gauck Nein, das ist Unfug. Das ist die verhinderte Trauer von Menschen, die sich nicht heran wagen an das Lebensthema einer langen Lebenszeit in einem Gesellschaftsmodell, das nichts Bewahrenswertes an sich hat. Der Kommunismus als Herrschaftsform – nicht als Idee, als Herrschaftsform – hat sich in die Welt begeben nur als Rückschritt der Politikgeschichte. Er enthält nichts Bewahrenswertes. Bewahrenswert empfinden die Menschen ihre Strategien der Solidarität. Und oft denken Sie, das habe etwas mit dem anderen, nichtkapitalistischen System zu tun gehabt. Das ist ein schwerer Irrtum. Diese solidarische Haltung, die viele Menschen heute so schmerzlich vermissen, ist eine Not- und Gegenstrategie von Ohnmächtigen und Unterdrückten. Auch von Menschen, die sich versorgen wollten. Die DDR war ja immer eine Mangelgesellschaft. Und natürlich hatte eine Person, die Klempnermeister war, oder die mit Autoersatzteilen handelte oder Autoreifen, die hatte einen unglaublichen Freundeskreis. Auch jemand, der Aale noch kannte oder mit Blumen oder Pullovern handelte, die hatten alle Freundeskreise. Und man musste sich helfen beim Hausbau, man musste den Zement besorgen. Man ging nicht in den Baumarkt. "Kennst du den?" ja - und "Wann gibt es Zement?" – und dann musste man sich helfen beim Bauen. So sind viele Lebenserfahrungen als Gemeinschaftserfahrungen eingebunkert in dem Gedächtnis. Und viele Menschen merken nicht, dass ihre Art der Beheimatung in diesem Gemeinschaftsgefühl große Ähnlichkeit hat mit einem anderen Phänomen, das die Älteren kennen. Die Weltkriegsteilnehmer I und II, wenn die hinterher nach dem Krieg zusammen saßen, noch viele Jahre danach, mit ihresgleichen, dann war immer wieder der Krieg Thema. Nie in ihrem ganzen Leben waren sie dem Tod so nah, hatten ihn gesehen und angefasst und geschmeckt, und vielleicht der Rettung, dem Überleben. Und diese Kameradschaft, die sie dort erlebt haben, die halten sie ihr ganzes Leben lang für etwas Besonderes, auch wenn sie Krieg eigentlich hassen.
Hellmich: Henning Voscherau hat einmal gesagt, ich glaube, das muss so um den 3. Oktober 1990 herum gewesen sein: Es wird wohl 40 Jahre dauern, bis die Einheit wirklich vollendet ist. Also so lange die DDR gebraucht hat . . .
Gauck Ja, das haben wohl einige gesagt. Ich möchte mich dazu rechnen. Wir haben in Rostock ein Jahr nach der Revolution einen Gedenkgottesdienst gemacht mit anschließendem Umzug. Und mir ist dabei eingefallen, dass ich in der Bibel, im älteren Teil der Bibel, eine Geschichte finde, wie Mose und die Israeliten aus dem Sklavenhause Ägypten ausziehen, aus der Gefangenschaft und Unterdrückung also und sich aufmachen, um nach Israel zu gelangen. 40 Jahre dauert die Wüstenwanderung. Selbst, wenn man langsam und zu Fuß geht, braucht man keine 40 Jahre von Ägypten nach Israel. Diese Zahl hat schon etwas Magisches insofern, als sie zwei Generationen beschreibt. Und ich hatte vorhin ein Beispiel genannt der Andersartigkeit der Ossis. Es macht einen Unterschied, ob eine ganze Schulzeit lang eine Klassensprecherin gewählt wird oder ein FDJ-Sekretär oder Pionier-Sekretär. Dadurch entstehen andere Schülertypen, und später in der Gesellschaft ist das auch so. Und wenn erst mal alle diese Prägung einer demokratischen offenen Gesellschaft auch in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hat, dann ähneln sich die Landsleute. Und das dauert eben diese Zeit, die Sie angesprochen haben.
Hellmich: Dann haben wir ja noch 26 Jahre vor uns. Muss man da in der Zeit irgend etwas tun, um diesen Prozess anzuschieben, oder kann man sich zurück lehnen und einfach abwarten?
Gauck Na ja, das machen viele. Aber das würde ich natürlich niemandem empfehlen. Alles kann man nicht tun. Auch eine noch so gute Vereinigungspolitik hätte die Unterschiede Ost und West aus den Gründen, die wir hier besprochen haben, nicht wegwischen können. Das ist eine große Illusion, auch wenn alle in Arbeit gewesen wären. Aber eines ist doch feststellbar: Die Änderung der Westdeutschen nach dem Krieg – da war ja auch so eine Übergangssituation – sah zunächst auch sehr schwierig aus. Unmittelbar in den ersten drei Nachkriegsjahren reden die Leute wie die Ossis jetzt: Es war auch nicht alles schlecht früher. Damals hieß es dann immer: Autobahnen, Vollbeschäftigung, keine Kriminalität – so, wie die Ossis jetzt auch reden. Dann ändert sich das – das ist statistisch auch belegbar – mit dem Greifen des Wirtschaftswunders. Und wenn wir uns nun fragen: "Was haben wir denn in den 90ern erlebt im Osten, war das nicht auch ein Wirtschaftswunder?", dann müssen wir ehrlicherweise antworten: "Ja, für die Hälfte". Wenn es uns gelänge oder gelungen wäre, etwa so wie die Dohnany-Kommission es ich jetzt überlegt hatte, den selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung im Osten zu organisieren, das hilft, das gibt Menschen einen Ort, gibt ihnen eine Sicherheit. Und man darf diese Sicherheit durch Tätigkeit nicht unterschätzen. Wir brauchen im Grunde durch erfahrbare Arbeitsleistung und Erfolge ein grundsätzliches Ja. Dies ermächtigt uns dann zum Vertrauen in die Gesellschaft. Und dann kommen diese positiven Entwicklungen in Gange. Und wenn die eben ausbleiben und wenn man den Osten als eine "Ach Gott, eine Nebensache, sind ja nur 20 Prozent, die da wohnen, und das können wir wirtschaftlich schon alles reißen", wenn wir das so sehen, dann dauern diese Wandlungsprozesse viel länger und Leute wie Wechselwähler und PDS-Anhänger, die haben dann ein längeres Leben.


