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Vor und nach der Kamera

Als 1839 dem französischen Kunstmaler Daguerre die Erfindung technisch erzeugter Bilder auf Metallplatten gelungen war, rief sein Kollege Paul Delaroche: "Die Malerei ist tot, es lebe die Fotografie!" Das sollte so klingen, als hätte es einen Wechsel an der Spitze der Monarchie gegeben. Weil aber Totgesagte länger leben, hat der alte König bekanntlich munter weiterregiert. Ja, er ist kurioserweise mit Hilfe des machtgierigen Nachfolgers erst richtig in Fahrt gekommen. So konnte der Maler David Hill nur vier Jahre nach dem Start des revolutionären Mediums das größte Gruppenporträt aller Zeiten in Angriff nehmen. Es galt, die 474 Mitglieder der schottischen Freikirche auf eine monumentale Leinwand zu bannen, was dank der Mitarbeit des Fotografen Robert Adamson auch tatsächlich gelang.

Von Wolf Schön |
    Die Ausstellung in der Münchner Hypo-Kunsthalle verschont das Publikum mit dem in Öl gepinselten Zahlenrekord. Interessanter sind in der Tat andere Beispiele für die Wechselbeziehung zwischen den bald kooperierenden, bald rivalisierenden Bildgattungen in den zentralen fünf Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. So zum Beispiel das effektvolle Salongemälde, das die Ankunft des zu Tode erschöpften Marathonläufers auf dem Athener Markplatz zeigt. Die wild gestikulierenden Stadtväter sind außer sich vor Erregung. Doch dass ihre Gesichter so ungefiltert leidenschaftliche Gefühle spiegeln, verdanken sie weniger dem aufwühlenden Ereignis als vielmehr den Fotosequenzen des Ausdrucksforschers Guillaume Duchnenne de Boulogne. Der hatte seine Versuchspersonen mit Elektroschocks traktiert, um extreme Emotionen wirklichkeitsgetreuer als die phantasierenden Maler dokumentieren zu können.
    Die Kamera als Dienerin und zugleich als überlegene Lehrmeisterin der Kunst: Das ist das Thema der widersprüchlich erscheinenden, aber historisch korrekten und deshalb faszinierenden Schau. Den zweihundertsechzig fotografischen Antiquitäten sind nur rund vierzig künstlerische Handarbeiten gegenübergestellt, damit es nicht ständig zu motivischen Paarbildungen kommt. Dergleichen hatte die Pionierausstellung "Malerei nach Fotografie" des Münchner Stadtmuseums 1970 gezeigt, damals eine skandalöse Enthüllung. Als öffentlich wurde, dass der als Erbe von Tizian und Rubens registrierte Malerfürst Lenbach 12.000 Aufnahmen auf Glasplatten in seinem Depot hatte, reagierte die konservative Kunsthistorikerzunft mit Empörung und Boykott. Gültigkeit hatte noch Baudelaires Verdikt, der die Kameratechnik als unschöpferische "Abspiegelung" der Natur gegeißelt hatte. Doch schon Kaulbach, der zeitgenössische Nebenbuhler, verhöhnte die fabrikmäßige Produktion massenhafter Porträtgemälde des erfolgreichen Mitbewerbers.

    Um solch schamhaft verheimlichte Liebesbeziehungen unter Niveau geht es heute nicht mehr. Vielmehr will die von Ulrich Pohlmann kuratierte Darstellung die Hervorbringung eigener Ästhetiken und Weltaneignungen durch die Fotografen vor Augen führen. Man sieht, dass durch den gläsernen Blick des Objektivs, das als das Auge der Natur begriffen wurde, riesige Komplexe der Realität bildwürdig wurden, denen die akademisch orientierte Kunst keine Beachtung geschenkt hatte. Dazu gehören die in Nahaufnahmen festgehaltenen Ausschnitte von Feld und Flur, die endlich fassbar gewordenen flüchtigen Naturereignisse wie Meeresbrandung, Wolkenbildung und blitzende Gewitter, auch die Eroberung eisiger Gletscherlandschaften in der Hochalpenregion. Andere Fotoexpeditionen hatten exotische Kulturen zum Ziel, vor allem aber begriffen sich die Fotografen als Begleiter des technischen Fortschritts und hielten den Bau von Fabriken, Eisenbahnen und spektakulären Architekturen in den rasant wachsenden Städten im Bild fest. Generell neu waren die Liebe zum vermeintlich unscheinbaren Detail, die ungeschminkte Wahrheit des Alltags, der Zufallsausschnitt anstelle einer geplanten Komposition.
    Mit einer nie besänftigten Hassliebe beäugten die etablierten Künstler das Treiben der fotografierenden Konkurrenz. Das seelenlose Massenmedium erschien ihnen banal und vulgär. Dabei nutzten sie Fotos von fremder und eigener Hand eifrig als Gedächtnisstütze und Modellersatz. Und fast jede frühe Fotosammlung ging aus einem verborgenen Künsterfundus hervor, angefüllt mit jenen "kleinlichen Geschichten", die der hochmütige Malerstar Böcklin von Herzen verachtete und die jetzt eine versunkene Zeit so facettenreich wieder zum Leben erwecken.