Dienstag, 16. April 2024

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Vor Unterhaus-Abstimmung
Brexit-Befürworter und Gegner unter Hochdruck

Vor der Abstimmung im britischen Unterhaus mobilisieren Brexit-Gegner ihre Anhänger auf den Straßen. Ihr Ziel: ein zweites Referendum. Währenddessen machen Befürworter des No-Deal-Brexits Stimmung gegen Premierministerin Theresa May. Ihretwegen würden alle das Austrittsabkommen hassen, sagen sie.

Von Ralph Günther | 12.03.2019
Ein Mann hält einen Flyer der Bewegung "People's Vote" in der Hand
Hinter der Kampagne "People's Vote" stecken Parlamentsabgeordnete, Prominente und viele Bürgerinnen und Bürger. Ihr Ziel: ein zweites Referendum. (Deutschlandradio / Ralph Günther)
Sonntagmittag auf dem Columbia Road Blumenmarkt im Londoner Osten. Die Händler preisen ihre Mimosen für einen Fiver, einen Fünfer an. Mitten im Gedränge aus Touristen und Londonern, die Blumen kaufen - drei Mitglieder der Bewegung "People’s Vote". Sie verteilen Flugblätter an die Passanten.
"Good morning, march for a Brexit Deal for the people."
Ian McDonald von "People's Vote" trägt ein blaues Cappy mit gelben EU-Sternen und Europa-Schriftzug. Die Umhängetasche voll mit Flyern für die nächste Groß-Demo am 23. März.
Das Ziel: ein zweites Referendum
Hinter der Kampagne stecken Parlamentsabgeordnete, Prominente und viele Bürgerinnen und Bürger. Ihr Ziel: ein zweites Referendum. Eine Entscheidung des Volkes zwischen dem ausgehandelten Deal und einer kompletten Absage des Brexits.
"Unsere Kampagne ist für eine Volksabstimmung über den Brexit-Deal." - "Wir finden, jetzt, wo wir eine Idee haben, wie der Ausstiegsvertrag mit der EU aussehen kann, dass die Menschen im Vereinigten Königreich ein Recht darauf haben, diesen Vertrag zu befürworten oder zu sagen: wir bleiben lieber in der Europäischen Union."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen)
Die "People’s Vote"-Mitglieder haben es heute einfach. Shoreditch und Bethnal Green im Osten Londons sind junge Hipster-Stadtteile. Die Passanten nehmen die Flugblätter gerne mit - hier haben viele für den Verbleib in der EU gestimmt. Sandy Crichley und ihr Mann John, beide über 70, halten freundlich und britisch-zurückhaltend den Menschen die Flyer hin und stoßen dabei selten auf Ablehnung.
Ian McDonald von "People’s Vote" verteilt Flyer
Ian McDonald von “People’s Vote” (Deutschlandradio / Ralph Günther)
"Wir hatten bisher sehr wenig Widerspruch. Die meisten sagen: Danke, wir werden kommen. Manche ignorieren uns, aber sehr wenige sind aggressiv. Einer sagte heute zu mir, er würde zum Pro-Brexit-Marsch gehen und nicht zu unserem."
"People’s Vote" hatte im Oktober 2018 bereits Hunderttausende mobilisiert, in London auf die Straßen zu gehen. Und auch für die nächste Demo hoffen sie, möglichst viele Menschen für ein zweites Referendum zu begeistern.
"Ich war in der Vergangenheit nicht unbedingt politisch interessiert. Aber dass Großbritannien aus der EU aussteigt, ist so dumm. Wir sollten weniger Grenzen zwischen den Ländern haben und nicht mehr. Also engagiere ich mich jetzt in der "People’s Vote"-Kampagne.
Fast drei Jahre nach dem Brexit-Referendum im Sommer 2016 ist klar, dass ein Austritt aus der Europäischen Union schwieriger ist, als sich dass die Meisten vorstellen konnten. Ian McDonald von "People’s Vote" vergleicht den Brexit mit Legosteinen:
"Ein Kind hatte sich diese schöne Analogie einfallen lassen: es ist, als hättest Du in den vergangenen 10 Jahren mit Deinen Klassenkameradinnen und Kameraden ein Legohaus gebaut. Deine Steine sind überall in den Hauswänden verteilt, und jetzt will einer gehen und seine Steine zurückhaben, die Gelben! Das ist natürlich kompliziert!"
Brexit-Gegner: UK wird nach dem Ausstieg schlecht dastehen
Das Vereinigte Königreich wird nach dem Brexit schlechter dastehen als davor - dessen sind sich die Befürworter des zweiten Referendums einig.
"Ich denke, es ist ein so wichtiges Thema und ich bin echt sauer. Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Also müssen wir weitermachen, mit dem Kampf gegen dieses lächerliche Ding, dem wir hier ausgesetzt sind. Und für die, die weiter dafür sind: wenn sie den Brexit bekommen, dann verdienen sie auch nichts anderes!
Was Sandy eigentlich despektierlich gegenüber den Brexitiers meinte, wäre in Westminster beim Treffen der "Bruges Group, einer EU-kritischen Denkfabrik, eher positiv aufgefasst worden.
Brexit-freundliche Experten aus der Wirtschaft haben hier, zum Start in die politisch brisante Woche, zwei Stunden lang über die grenzenlose Freiheit der britischen Wirtschaft nach dem Austritt aus der EU referiert.
"Das ist die Woche, in der das Parlament entscheidet, ob es diesen beschämenden Austrittsvertrag akzeptiert. Es sollte niedergerufen werden!"
Ein holzvertäfelter Saal mit Kronleuchter, zwei Marmor-Kaminen und Gemälden an den Wänden, wenige hundert Meter entfernt vom Westminster Palace, dem Parlamentsgebäude. Im Publikum sitzen mehrheitlich ältere, wahrscheinlich gut situierte Männer. Es riecht nach alter Macht und ein wenig modrig. Das Rednerpult schmückt ein Foto der eisernen Lady, Margaret Thatcher.
Entscheidende Woche im britischen Unterhaus
Als John Redwood, Unterhaus-Abgeordneter der Tories und Brexit-Fanatiker ans Podium kommt, ist die Stimmung aufgeladen.
"Meine Damen und Herren, unsere Brexit-Vision ist die eines unabhängigen Landes, wir wollen unsere Demokratie retten, unsere Vision sieht mehr Wohlstand, eine sehr viel schneller wachsende Wirtschaft, das Geld bleibt bei uns im Land. Und ich muss jetzt gehen, um meine Kolleginnen und Kollegen von dieser Vision zu überzeugen.
Mitglieder der "Bruges Group" sitzen in einem Saals und hören einem Redner zu
Treffen der „Bruges Group" (Deutschlandradio /Ralph Günther)
John Redwood stürmt unter Standing Ovations aus dem Saal. Im Publikum sitzt offenbar niemand, der oder die den von Theresa May ausgehandelten Vertrag mit der EU gutheißt. Die älteren Männer und ein paar Frauen wollen den No-Deal-Brexit.
"Sie hat es geschafft, absolut niemanden glücklich zu machen. Leavers und Remainers sind vereint darin, dass jeder das Austrittsabkommen hasst. Du kannst nicht halb-drin und halb-draußen sein. Und wir haben für "draußen" gestimmt." - "Was Sinn gemacht hätte, wäre zuerst die EU zu verlassen und dann hätte die Europäische Union mit einem Deal an unsere Tür geklopft. Dass wir jetzt 39 Milliarden Pfund beim Austritt zahlen sollen, in der Hoffnung, dass man uns einen guten Handelsvertrag gibt, ist völlig absurd und beleidigend für die britischen Wähler.
Es wird eine entscheidende Woche im britischen Unterhaus. Es scheint, als können Premierminsterin May und die Abgeordneten nur verlieren, was auch immer sie heute und in den kommenden Tagen entschieden. Der Geist ist aus der Flasche.
"The Jeannie is out of the bottle. And it’s not going back in again."