Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Vorbilder tragen keine Waffen in unserer Gesellschaft"

Lehrer zu bewaffnen, sei eine "völlig falsche Lösung", sagt Sven Kubick, Leiter der Albertville-Realschule in Winnenden. Zentral sei für ihn die Gewaltprävention. Seit dem Amoklauf an seiner Schule 2009 werden Schüler daher zu Streitschlichtern ausgebildet.

Friedbert Meurer im Gespräch mit Sven Kubick | 18.12.2012
    Friedbert Meurer: 27 Menschen starben am Freitag in Newtown in einer Grundschule in den USA im Kugelhagel, 16 wurden vor knapp vier Jahren in Winnenden hier bei uns in Deutschland erschossen - Meldungen wie aus dem Krieg. In Deutschland wird der jüngste Amoklauf in den USA wohl auch deswegen so intensiv diskutiert, weil wir hier längst nicht mehr ausschließen können, dass es irgendwann nicht wieder zu einer so furchtbaren Tat kommen könnte.
    Gut dreieinhalb Jahre ist der schreckliche Amoklauf von Winnenden jetzt her. Die Albertville-Realschule wurde komplett renoviert. Viele Schülerinnen und Schüler, deren Klassenkameraden erschossen wurden, haben inzwischen die mittlere Reife und die Schule verlassen. Und es gibt auch einen neuen Schulleiter: Er heißt Sven Kubick. Guten Morgen, Herr Kubick.

    Sven Kubick: Guten Morgen!

    Meurer: Diskutieren Ihre Schüler, die Lehrer bei Ihnen an der Schule über den Amoklauf von Freitag in den USA?

    Kubick: Ich denke, das ist selbstverständlich, dass das bei uns auch ein ganz großes Thema an der Schule ist. Wir haben auch Kolleginnen und Kollegen darauf hingewiesen, dass diese Themen auch Vorrang haben vor Unterrichtsthemen. Wenn Schülerinnen und Schüler also mit Fragen auf die Lehrer zukommen, sollen sie auch Antworten bekommen.

    Meurer: Regen Sie gezielt auch das Kollegium an, das Thema anzusprechen, oder wollen Sie das den Schülern und Lehrern eher ersparen?

    Kubick: Ich mache das nicht so, dass ich die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrer verpflichte dazu, dieses Thema zu behandeln. Das finde ich, das ist der falsche Weg, und ich möchte auch die Kolleginnen und Kollegen nicht ständig retraumatisieren, was bei uns natürlich auch ein Thema ist, sondern es geht darum, einfach auf die offenen Fragen der Schülerinnen und Schüler in der Situation dann einzugehen, wenn es nötig sein sollte.

    Meurer: Was sind zum Beispiel offene Fragen im Moment?

    Kubick: Da gibt es sehr unterschiedliche Fragen. Ich denke, insbesondere die Klassen neun und zehn hier im Hause, die den Amoklauf hier an der Schule noch miterleben mussten, haben natürlich Fragen: Wie kann so was wieder geschehen, wie kann man so etwas verhindern, dass wieder ein Amoklauf geschieht. Das sind Fragen von Schülern, die, glaube ich, auch Erwachsene haben und wo es manchmal einfach schwerfällt, Antworten zu finden, zumindest ad hoc, wo man tatsächlich sich länger Gedanken drüber machen muss, was sich da verändern muss.

    Meurer: Verändert bei Ihnen an der Albertville-Realschule hat sich die Sicherheitstechnik.

    Kubick: Das ist richtig, ja.

    Meurer: Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie automatische Türverriegelungen, Alarmanlagen und so weiter. Wie muss man sich das vorstellen? Hat der Lehrer unter dem Pult einen Knopf und kann damit automatisch die Tür verriegeln?

    Kubick: Nein, so muss man sich es nicht vorstellen. Es ist so: Die Türen, wenn sie geschlossen sind im Unterricht, sind sie auch zu. Das heißt, ich komme nur mit einem Chip dann in das Klassenzimmer rein und in jedem Klassenzimmer befindet sich sozusagen ein Auslöser für einen Amokalarm. Dazu brauche ich aber auch einen Chip. Es ist nicht so, dass irgendwo Knöpfe sind, oder dass Schüler das dann auch verwenden könnten, sondern das kann nur über den Lehrer dann ausgelöst werden, das Signal.

    Meurer: Und alle Lehrer haben diesen Chip?

    Kubick: Das haben alle Lehrer, richtig. Ich bin auch sehr froh, dass wir hier einen sehr hohen Sicherheitsstandard haben. Allerdings muss ich immer sagen: Der Sicherheitsstandard bezüglich der Verschließung von Türen oder Alarmanlagen, das ist die eine Seite. Die andere Seite, die uns auch am Herzen liegt, das ist die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern, die Prävention, die Gewaltprävention, die auch ein zentrales Thema ist.

    Meurer: Noch kurz eine Frage: In den USA würde man Sie jetzt fragen - Sie sind im Moment in Ihrem Büro an der Albertville-Realschule: Haben Sie eine Waffe?

    Kubick: Nein, natürlich nicht. Ich halte das für eine völlig falsche Lösung, eine völlig überzogene Lösung, Lehrer zu bewaffnen. Ich denke, das ist genau das falsche Mittel. Wir sollten hier wirklich so wirken, dass wir als Vorbilder gelten, und Vorbilder, denke ich, tragen keine Waffen in unserer Gesellschaft, es sei denn, sie benötigen diese Waffen.

    Meurer: Gibt es Eingangskontrollen für die Schüler, ob die Messer oder andere Waffen dabei haben?

    Kubick: Nein! Also das gibt es auch nicht. Es ist aber so: Wir haben einen sehr transparenten Eingangsbereich. Das heißt, es ist alles aus Glas in diesem Bereich. Man sieht sehr leicht diesen Bereich ein und merkt sehr schnell, ob sich fremde Personen im Gebäude aufhalten. Das heißt, wenn jemand fremd ist, dann wird ein Kollege auch rausgehen und ihn ansprechen, was er im Schulgebäude macht.

    Meurer: Sie haben vorhin gesagt, Prävention, darauf käme es an. Damit meinen Sie vermutlich, dass man im Vorfeld versuchen soll zu erkennen, ob ein Schüler irgendwelche Äußerungen von sich gibt, die danach klingen, als könnte der etwas planen. Gibt es solche Äußerungen?

    Kubick: Das ist immer ein ganz schwieriges Thema. Ich denke jetzt auch nicht ganz gezielt an solche Äußerungen, ich denke nicht daran, dass es jemand androht, und wir wissen ja sehr häufig, wenn Menschen so etwas androhen, dann machen sie es doch nicht, und es sind ganz andere Gründe, warum sie eine Amokdrohung aussprechen. Das ist ein schwieriges Thema. Ich weiß, es gibt hier viele Analyseinstrumente, wo man dann Daten eingibt und sehr schnell vielleicht auf ein Ergebnis kommt, das nicht unbedingt hundertprozentig wasserdicht ist.
    Ich möchte da auch ein bisschen davor warnen, allzu schnell in diese Richtung zu gehen. Bei Prävention denke ich eher an wirklich sinnvolle Projekte mit Schülern, dass Schüler nachmittags auch stärker eingebunden sind in der Schule, dass sie Schule nicht nur als Druck empfinden, sondern wirklich als Lebensort, und dazu benötigen wir - das ist leider so, wie es überall ist - natürlich Ressourcen und Stunden an Schulen.

    Meurer: Will sagen, wenn Schüler sich an ihrer Schule wohlfühlen, das wäre Ihrer Meinung nach die beste Prävention vor Amokläufen?

    Kubick: Selbstverständlich! Und dann muss ich auch immer darauf aufmerksam machen, dass wir als Pädagogen an der Schule nur einen ganz kleinen Teil eines Menschen sehen, der hier zur Schule geht. Das heißt, dieser Mensch, dieser Jugendliche, der ist in seiner Freizeit ganz woanders tätig, der hat vielleicht familiäre Probleme, die wir zum Teil nicht erkennen, wenn das Gespräch nicht regelmäßig mit der Schule stattfindet. Das sind alles Bereiche, die wir nicht einsehen. Wir sehen tatsächlich nur einen gewissen Bereich in der Schule ein. Wenn die Ursachen aber für die Gewalt oder für die innere Gewalt woanders liegen, dann wird es auch für uns schwierig.

    Meurer: Deswegen, wenn die Ursache außerhalb der Schule liegt, halten Sie es für sinnvoll, Schüler aufzufordern, seid bitte aufmerksam und wenn ihr irgendetwas mitbekommt, wenn ihr bei Facebook irgendetwas lest, dann meldet das bitte?

    Kubick: Das ist ganz wichtig, das halte ich für sehr zentral. Das ist die eine Sache und die andere Sache ist die, dass wir Schülerinnen und Schüler auch zu Streitschlichtern ausbilden wollen, damit diese dann auch deeskalierend wirken können in gewissen Situationen, wenn sie merken, da staut sich was an, oder da ist ein Gespräch nötig.

    Meurer: Wie hoch ist die Hemmschwelle bei Schülern, einen anderen Schüler zu melden und zu sagen, also hier ist was nicht in Ordnung?

    Kubick: Natürlich ist das eine gewisse Hemmschwelle. Man denkt da immer an dieses typische Wort Petzen, jemanden verraten oder Ähnliches. Aber ich glaube, bei uns, nach dem, was sich hier ereignet hat, ist es doch ein bisschen anders. Und wenn wir schauen, was sich jetzt in den USA ereignet hat, dann müsste es eigentlich Jugendlichen klar sein, dass sie dann anderen Jugendlichen eher helfen würden, als diese irgendwo zu verraten oder ihnen ans Schienbein zu treten.

    Meurer: Schwierige Frage vielleicht, Herr Kubick, aber wenn Sie jetzt Ihren Kollegen in Newtown in den USA gegenübersitzen würden - die Schulleiterin ist leider ermordet worden, zählt zu den Opfern -, was würden Sie den Kollegen jetzt sagen?

    Kubick: Ich glaube, in dieser Situation ist es noch der falsche Moment, um Ratschläge zu geben. Ich denke, hier muss man erst mal Trost spenden und versuchen, den Blick nach vorne wieder zu richten. Das wäre sicher das Erste, was wichtig ist an dieser Schule. Eine ganz schwierige Situation. Die Kinder brauchen natürlich Unterstützung, es bedarf Psychologen, die sich intensiv mit den Schülern auseinandersetzen, mit den Kollegen auseinandersetzen, die alles hautnah erleben mussten, und das ist sicher ein langer Verarbeitungsprozess. Ich denke, so etwas ist auch nicht abgeschlossen nach zwei Jahren oder drei Jahren. Da gibt es viele Dinge, die dann weiter noch sich auf die Zukunft auswirken. Aber natürlich muss man trotzdem Hoffnung geben und sagen, ihr kommt auch darüber weg, so komisch sich das jetzt vielleicht in der Situation anhört, und auch ihr werdet wieder einen Weg finden, den Blick nach vorne zu richten, dass die Schule weitergeht und dass ihr vielleicht dann anders auch weiter arbeiten wollt oder könnt.

    Meurer: Sven Kubick, der Leiter der Albertville-Realschule in Winnenden. Am 11. März 2009 gab es dort den furchtbaren Amoklauf mit 16 Toten. Danke schön und auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.