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Vorgeheiztes Kühlwasser in AKWs
"Die Kühlfähigkeit ist noch voll gewährleistet"

In 18 europäischen Reaktoren wird Notkühlwasser für Druckbehälter vorgeheizt. Im Notfall will man so die spröde werdenden Wände der Druckbehälter schonen. Die Kühlfähigkeit sei dabei zwar voll gewährleistet, erklärte der Experte für Reaktorsicherheit Manfred Mertins im DLF. Doch bei fortgeschrittener Versprödung müssten die Anlagen stillgelegt werden.

Manfred Mertins im Gespräch mit Lennart Pyritz | 24.11.2016
    Der geöffnete Reaktordruckbehälter (rechts), im Atomkraftwerk Isar 2 nahe Essenbach (Niederbayern) während einer Revision
    Der geöffnete Reaktordruckbehälter (rechts), im Atomkraftwerk Isar 2 nahe Essenbach (Niederbayern) während einer Revision (dpa picture alliance / Armin Weigel )
    Lennart Pyritz: Sie bestehen aus Stahl und bilden den Kern eines Atomkraftwerks: die Reaktor-Druckbehälter. Darin befinden sich die Brennstäbe, hier wird Wärme erzeugt. Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung zufolge wird das Notkühlwasser für diese Druckbehälter in 18 aktiven AKW in Tschechien, Belgien, Frankreich, Finnland und der Slowakei vorgeheizt - um die mit der Zeit spröde werdenden Behälter im Notfall zu schonen.
    Was das bedeutet - darüber habe ich vor der Sendung mit Manfred Mertins gesprochen, Professor an der Technischen Hochschule Brandenburg und Experte für Reaktorsicherheit. Meine erste Frage war, in welchen Situationen das Notkühlwasser eingesetzt wird.
    Manfred Mertins: Das Notkühlwasser kommt nur dann zum Einsatz, wenn die Sicherheitssysteme gestartet werden und die Sicherheitssysteme werden nur dann gestartet, wenn ein Störfall eintritt. Also es ist immer verbunden mit einem Störfall, sonst wird das Notkühlwasser nicht eingespeist.
    Pyritz: Und das wird beispielsweise eingesetzt, wenn die Temperatur im Reaktor zu hoch klettert?
    Mertins: Wenn wir zu hohe Temperaturen haben, also wenn Störfall-bedingt Wasserverluste zu beklagen sind - also das ist dann verbunden mit einem Kühlmittelverlust-Störfall - oder wenn eben die Wärmesenke, also die Wärmeabfuhr, über die Dampferzeuger nicht mehr vollständig gewährleistet ist. Dann würde die Temperatur im Reaktordruckbehälter zu heiß und die Sicherheitssysteme greifen ein, die Notkühlsysteme.
    "Man setzt Risse im Reaktordruckbehälter voraus"
    Pyritz: Welche Temperatur hat denn normalerweise dieses Notkühlwasser?
    Mertins: Das Notkühlwasser hat Temperaturen etwa in dem Bereich 15 bis 20 Grad.
    Pyritz: Nach den aktuellen Recherchen von Süddeutscher Zeitung und WDR ist dieses Wasser in 18 europäischen Kernkraftwerken nicht mehr kühl, sondern wird auf ungefähr 60 Grad Celsius vorgeheizt, um den Druckbehälter zu schonen. Was sagt das über die Qualität und den Zustand dieser Druckbehälter aus?
    Mertins: Diese Aufwärm-Notwendigkeit des Kühlwassers hat da folgenden Hintergrund: Über Neutronenbeschuss, der ja im Bereich des Reaktordruckbehälters stattfindet - findet über die Betriebszeit eine Versprödung des Werksstoffs des Reaktordruckbehälters statt.
    Und es gibt da bestimmte Annahmen. Also man setzt Risse im Reaktordruckbehälter voraus und wenn ein bestimmter Versprödungszustand erreicht ist, darf das kalte Kühlwasser nicht mehr die Wand des Reaktordruckbehälters erreichen. Das würde dann zu erheblichen Belastungen führen - bis hin zum Versagen des Reaktordruckbehälters.
    Pyritz: Welche Konsequenzen könnte den der Einsatz - in einem Notfall - von vorgeheiztem Kühlwasser haben?
    Mertins: Die Diskussion um höhere Temperaturen des Notkühlwassers, also im Bereich von bis zu 50 Grad, was ja hier Stand ist, ist in Bezug auf die Wärmeabfuhr nicht von Bedeutung. Die Kühlfähigkeit ist also damit noch voll gewährleistet.
    "Den Druckbehälter kann man im Grunde nicht ersetzen"
    Pyritz: Das eigentlich Bedenkliche ist also der Hinweis auf die Qualität, also die Versprödung der Reaktoren, die dahinter steht, die es notwendig macht, das Kühlwasser überhaupt vorzuwärmen.
    Mertins: Richtig, richtig. Absolut. Das hat Vorrang und ist auch das maßgebliche Problem bei der ganzen Angelegenheit.
    Pyritz: Was müsste getan werden, um dieses Problem grundsätzlich zu beheben? Geht es da um eine regelmäßige Generalüberholung dieses Druckbehälters oder sogar um einen Ersatz?
    Mertins: Ja also man kann alles ersetzen, aber beim Druckbehälter rechnet sich das wirtschaftlich nicht. Den Druckbehälter kann man im Grunde nicht ersetzen. Wenn also der Versprödungszustand einen Stand erreicht hat, wo auch durch die begleitenden Maßnahmen wie aufwärmen des Notkühlwassers, nicht mehr möglich ist, die Anlage weiter zu betreiben, dann muss die Anlage auch stillgelegt werden.
    Mann hat da natürlich noch weitere Möglichkeiten, um die Neutronenversprödung - also das sind ja Änderungen im Kristallgitter des Materials - durch Wärmebehandlung etwas zurückzuführen in das, was ursprünglich bei der Auslegung der Anlage nicht vorgesehen war.