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Vorliebe für Riesen-Big-Bands

Die Kritiker mochten seine Musik nicht, doch ein großes Publikum hielt Stan Kenton über 40 Jahre lang die Treue. Der amerikanische Big-Band-Leiter und Arrangeur blieb mit seinen Sounds selbst dann noch populär, als die Zeiten es mit den Jazzorchestern nicht mehr so gut meinten.

Von Günther Huesmann |
    Seine Karriere begann 1943, als sich die Swing-Ära dem Ende zuneigte und die Big Bands noch überwiegend Programme spielten, die fürs Tanzvergnügen bestimmt waren. Stan Kenton aber wollte es anders. Seine Big-Band-Musik sollte große Kunst sein.

    "Wir machten eine Musik, zu der man überhaupt nicht tanzen konnte. Es war Musik zum Zuhören. Als wir mit diesen avancierten Kompositionen anfingen, fragten die Leute: Welche Art von Musik spielen Sie denn? Worauf ich antwortete: Wir spielen 'Progressive Jazz'."

    Stan Kenton war ein Gigantomane. In dem Bestreben den Jazz von der Tanzfläche auf die Konzertbühne zu heben, bildete er Riesen-Big-Bands wie das 36-köpfige "Innovation in Modern Music Orchestra". Er ließ eigens für seine Big Band ein neues Instrument erfinden - das "Mellophonium", eine Kreuzung aus Trompete und Waldhorn. Der Kenton-Sound war machtvoll und aufwandreich, er bestand aus einer massierten Fülle gewaltiger Akkorde und übereinander geschichteter Klangmassen.

    Kenton engagierte hochkarätige Arrangeure wie Pete Rugolo, Gerry Mulligan und Bill Holman, um in musikalisches Neuland vorzustoßen. Niemand konnte die Aufregung, die mit Blechbläsersätzen im orchestralen Jazz verbunden ist, besser in Szene setzen als er.

    "Selbst als wir populär waren, suchten wir ständig nach neuen musikalischen Ausdrucksformen, die universell sind. Damit aufzuhören hätte bedeutet, mit dem Wachsen aufzuhören. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Organismus nur lebendig bleibt durch Wachstum und Entfaltung.”

    Stan Kenton wurde am 15. Dezember 1911 in Wichita, Kansas geboren. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf und zeigte am Klavier zunächst keine besonderen musikalischen Neigungen. Bis er zufällig in einer Amateur-Big-Band mitspielte und begann, sich für die Platten von Louis Armstrong zu begeistern.

    Als er 23 war, bot ihm Everett Hoagland, ein populärer Big-Band-Leiter in Los Angeles, den Klavierstuhl in seinem Orchester an. Dort leitete Kenton auch die Proben und schrieb Arrangements.

    Wenig erfolgreich waren dagegen seine ersten Versuche, eigene Kompositionen auf den Markt zu bringen. Frustriert zog sich Kenton in die Berge von San Jacinto zurück, wo ihm 1941 die zündende Idee kam: die Ausdrucksformen der klassischen Konzertmusik mit Jazz zu verbinden. Dort, in den Mountains, entstand auch jenes Stück, mit dem er 1943 seinen ersten überragenden Erfolg feierte: "Artistry in Rhythm". Es sollte die Erkennungsmelodie seiner frisch gegründeten eigenen Big-Band werden, die er über 40 Jahre lang leiten sollte.

    Seit 1955 engagierte er sich immer stärker an den amerikanischen Universitäten und Colleges. Er richtete seine sogenannten Kenton Clinics ein, auf denen er tausende junger Studenten mit der Geschichte der improvisierten Musik bekannt machte. So wurde er zu einem Mitbegründer der Jazzpädagogik.

    "Jazzmusik ist gleichsam volljährig geworden. Sie ist gereift. Sie ist kein Kind mehr, sondern ein erwachsener Mensch. Und sie wird sich weiter entwickeln."

    Kenton war ein begnadeter Bandleader, mit einem überragenden Ohr für neue Talente. Er hatte die Fähigkeit, das Beste aus den Musikern herauszuholen, war beliebt bei seinen Spielern, weil er ihnen viel Raum zur Improvisation gab.

    Doch das Image des "Gentleman of Music", wie er genannt wurde, bröckelte 2010, als Kentons Tochter Leslie in einer Autobiografie schrieb, ihr Vater habe sie als Kind sexuell missbraucht. Kenton selbst konnte sich zu diesen Vorwürfen nicht mehr öffentlich äußern. Er starb am 25. August 1979 an den Folgen seiner Alkoholsucht.