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Vorposten der Gulags

Sowjetische Lager in Deutschland - dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte wurde lange verdrängt. Mit dem Abstand von sechs Jahrzehnten geraten die Opfer des Stalin-Terrors nun ins Blickfeld der Forschung. Das Buch von Bettina Greiner wird dabei schon jetzt als Standardwerk gehandelt.

Von Conrad Lay | 03.05.2010
    Bettina Greiner legt eine umfassende und differenzierte Studie der zehn Speziallager des sowjetischen Geheimdienstes vor, die von 1945 bis 1950 in der Sowjetisch Besetzten Zone, kurz SBZ beziehungsweise der späteren DDR bestanden hatten. Das größte Lager befand sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen bei Oranienburg, weitere im ehemaligen KZ Buchenwald beziehungsweise in Bautzen. Bettina Greiner:

    "Erst die Kenntnisnahme und das Wissen um die sowjetischen Speziallager macht verständlich, was es heißt, dass die DDR auf Gewalt gegründet wurde, das ist das Eine. Das Andere ist, dass diese Lager nicht nur Bestandteil, sondern Kristallisationspunkt der deutschen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts sind. Nirgendwo sonst wie in Buchenwald oder Sachsenhausen wird man gewahr, dass diese Geschichte aus Töten und Getötet-Werden besteht."
    Unter den über 150.000 Gefangenen waren zwar zahlreiche nationalsozialistisch Belastete, aber auch viele Jugendliche, die mit dem NS-Regime nichts zu tun hatten, es sei denn als Hitlerjungen. Des weiteren waren darunter Widerständler des 20.Juli, NS-Euthanasieärzte, in Ungnade gefallene Kommunisten, insgesamt also ein Spektrum, wie es vielschichtiger kaum hätte sein könnte. Entscheidend für die Inhaftierung war nicht die mögliche NS-Belastung, sondern die Gefahr, die von ihnen in den Augen der sowjetischen Besatzer ausging. Überzeugend kann die Historikerin nachweisen, dass die Speziallager nicht der Entnazifizierung dienten. Bettina Greiner:

    "Die Speziallager waren kein Bestandteil der sowjetischen Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone, was nicht heißt, dass die Besatzungsmacht kein Strafinteresse an den Deutschen gehabt hätte, und es heißt auch nicht, dass sich in den Lagern niemand befunden hätte, dessen Bestrafung juristisch und moralisch wünschenswert gewesen wäre. Und doch besteht kein funktionaler und auch kein institutioneller Zusammenhang. Das erkennt man schon daran, dass die sowjetische Besatzungsmacht im Februar '48 die Entnazifizierung für erfolgreich beendet erklärte, die Speziallager aber noch bis Anfang 1950 weiterexistierten."
    Ziel der Sowjets war die präventive Herrschaftssicherung ihres Besatzungsregimes, nicht der konkrete Nachweis einer NS-Schuld. Denn sonst hätten die Gefangenen hinsichtlich konkreter Tatvorwürfe befragt werden müssen; dies war aber nicht der Fall, sondern es wurden ihnen in der Regel sogenannte "konterrevolutionäre" Umtriebe vorgeworfen, eine Generalklausel, die den stalinistischen Machthabern im Innern der Sowjetunion ebenso wie in der SBZ dazu diente, mögliche Unruhestifter auszuschalten. Bettina Greiner legt ein Buch vor, das sich wohltuend abhebt von den im Eifer der Grabenkämpfe des Kalten Krieges geschriebenen Büchern wie etwa dem "Schwarzbuch des Kommunismus", das zum Beispiel eine weitaus höhere Häftlingszahl angibt, als dies der Realität entsprach. In der Tat ist 60 Jahre nach Auflösung der Lager und 20 Jahre nach dem Fall der Mauer nun wirklich die Zeit für eine historisch umfassende Einordnung gekommen. Was also waren die Lager der sowjetischen Besatzungsmacht: Internierungslager, wie sie auch die westliche Alliierten eingerichtet hatten? Vorposten des GULAG, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit? Oder Vernichtungslager? Einen Vernichtungswillen, das stellt Bettina Greiner klar, kann man den Sowjets nicht unterstellen:

    "Es hat in diesen Lagern keine Tötungsabsicht gegeben, wiewohl es eine horrende Sterblichkeit unter den Gefangenen gegeben hat. Wir gehen davon aus, dass ein Drittel aller Häftlinge an Hunger, an Krankheiten und an Entkräftung gestorben ist."
    Die Autorin kommt nach sorgfältigem Abwägen zu dem Schluss, die Lager seien am ehesten mit dem GULAG-System in der UdSSR vergleichbar:

    "Auch dort verstarb ein Drittel aller Häftlinge, wiewohl sie dort zu Arbeitszwecken eingesetzt wurden. In den Speziallagern durften die Gefangenen nicht arbeiten. Sie waren zum Nichtstun verdammt."
    Warum das so war, ist letztlich nicht zu klären; viel hing offenbar von der Willkür des Diktators Stalin ab. Was die Erinnerungen der Speziallagerhäftlinge angeht, so zeigt sich auch in diesem Fall, dass Zeitzeugenberichte äußerst subjektiv verfasst sind und von den Historikern relativiert, das heißt in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden müssen. Das Problem dabei ist nicht die mangelnde literarische Qualität, man kann schließlich einen Häftlingsbericht nicht mit dem Werk einer Herta Müller vergleichen, auch wenn beide ein GULAG-Lager zum Thema haben; wohl aber ist auffallend, dass kaum ein Gefangener in der Lage ist, über die Organisation der Speziallager profunde Aussagen zu machen. Die Entlassenen lieferten kaum Belastungsmaterial gegen die sowjetische Besatzungsmacht.

    Besonders hervorzuheben ist der dritte Teil des 500 Seiten starken Bandes. In ihm zeigt die Historikerin, wie die deutsche Öffentlichkeit die Speziallager in den vergangenen sechs Jahrzehnten wahrgenommen hat. So erregten Berichte über die Lager in den 50er-Jahren deshalb Aufmerksamkeit, weil sie in die Kategorien des Kalten Krieges eingepasst werden konnten getreu dem Motto: "Wer bei den Russen eingesperrt ist, muss ein Freund der Amerikaner sein". Die Häftlinge selbst sahen sich als Opfer des Kalten Krieges und ließen sich die Vereinnahmung gerne gefallen, es war für sie - wie die Autorin schreibt - ein "Eintrittsbillet in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, eine Gesellschaft, die sich keinen Diskussionen um kollektive oder individuelle Schuld und Verantwortung an der nationalsozialistischen Vergangenheit stellen wollte." Mit den Umbrüchen der 60er- und 70er-Jahre und der Abkehr vom antikommunistischen Konsens wurden die Speziallager zu einem randständigen Thema. Seitdem betrachten sich die ehemaligen Verfolgten als "Opfer zweiter Klasse", sie sehen sich dem Misstrauen ausgesetzt, zurecht inhaftiert gewesen zu sein. Doch "nur, wenn sie unschuldig gelitten haben" - so die These von Bettina Greiner -, "werden sie von der Gesellschaft wahrgenommen".

    "Aufgrund dieser Nähe zum Nationalsozialismus und eben deshalb, weil sich unter ihnen auch größere oder prominentere NS-Täter befunden haben und auch ganz grundsätzlich die Mehrheit von ihnen als Fußvolk des NS zumindest moralisch in einer Verantwortung steht, sind sie nicht so ganz einfach als unschuldige Opfer zu identifizieren."
    Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Maxime durchgesetzt, so die Historikerin, wonach nur derjenige über die sowjetischen Speziallager sprechen dürfe, der den Nationalsozialismus nicht verschweige. Doch damit tun sich die meisten der ehemaligen Häftlinge schwer. Einige von ihnen isolieren sich selbst, indem sie ihre Lebensgeschichten in rechtsradikalen Verlagen veröffentlichen. Der Mangel an Selbstreflexion hinterlässt gerade bei Verfassern, deren Verstrickung in den Nationalsozialismus evident ist, einen schalen Nachgeschmack. Die Autorin spricht deshalb von einer "nachhaltigen Wagenburgmentalität". Bettina Greiner kann die Hindernisse in der öffentlichen Wahrnehmung der ehemaligen Häftlinge auf psychologisch subtile Weise erklären. Und gerade deshalb warnt sie davor, den "Terror" der Speziallager zu "verdrängen", wie es im Buchtitel heißt. Ihre Studie bietet einen wirklichen Erkenntnisgewinn.

    Conrad Lay besprach den Band von Bettina Greiner: Verdrängter Terror – Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburger Edition, 524 Seiten zum Preis von 35,00 Euro, ISBN: 978-3-86854-217-2.