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Vorschein einer besseren Welt

Dreißig Jahre nach dem Tod des 1885 geborenen Philosophen Ernst Bloch sind jetzt bei Suhrkamp zwei Neuerscheinungen auf den Markt gekommen, die an die Biographie und an das Wirken des marxistischen Utopisten erinnern. "Bloch, eine Bildmonographie" ist die eine überschrieben, die vom Ernst Bloch Zentrum herausgegeben wird. "Der unbemerkte Augenblick" lautet der Titel des anderen Bandes, der - so auch der Untertitel -"Feuilletons für die 'Frankfurter Zeitung' aus den Jahren 1916 - 1934" versammelt.

Von Michael Girke |
    Wie der bedeutende Denker Ernst Bloch zum Büchermenschen wurde, das erfährt man aus dieser Artikelsammlung. Nicht in der Schule geschah es, sondern nachts im Jungenzimmer, wo der junge Bloch, den Kontrollblicken von Pädagogen und Erziehungsberechtigten sich entziehend, Winnetous fernen Abenteuern folgte. Die Bewegtheit seiner Kindheit ist in seiner Philosophie wieder zu finden. Bloch schreibt für die Außenseiter der Gesellschaft, die Armen, die ein Buch in die Hand nehmen, um mit ihren Träumen in Verbindung zu bleiben. Bloß geht es nicht um Entkommen und Flucht aus der tristen Wirklichkeit, Blochs Schriften wollen Vorschein einer Zivilisation sein, die endlich den Menschheitstraum verwirklicht, dass alle mit gleichen Chancen und Rechten ausgestattet in Würde leben können.

    Wie ein Prophet bewertet Bloch alles von einer möglichen, besseren Zukunft her; er hat kein wirkliches Interesse an der Gegenwart, ist blind für sie.

    Dies war Siegfried Kracauers Meinung bei Erscheinen von Blochs erstem Buch. Zunächst tief gekränkt, freundete Bloch sich nach und nach mit seinem Kritiker an; später war Kracauer Blochs Redakteur bei der "Frankfurter Zeitung". Der Realismus des Journalisten veränderte die Wahrnehmung des Philosophen.

    Dies zeigt sich im Vergleich. Einige von Blochs Feuilletons finden sich auch in dessen berühmtem Buch "Spuren". Dort sind sie bearbeitet, verdichtet, eher theoretischer Natur. Um Blochs Zeitungstexte zu schätzen, muss man erkennen, was in ihnen möglich ist. Die Worte werden, anders als in wissenschaftlichen Werken, nicht zu fixierender, definierender Bezeichnung verwendet, sondern zu spontanen Momentaufnahmen. Blochs Sprache bewegt sich Alltagsdingen nach, lässt sich mitreißen, gerät ins Stolpern, verliert Überblick und Seriosität:

    Auch haben es die Zuflüsse meist nicht nötig, aus alten Tiefen eines Erdinnern zu quellen, sondern heißen: das Döllen-Fließ, das faule Fließ, der Stintgraben, der Wutzerwitzer Abzugsgraben; wobei es wenig verschlägt, dass auch die Nuthe mit der Nieplitz fließt.

    In diesen Zeitungstexten kommt ein Philosoph wirklich in der modernen Zeit an, weil er, anders als der klassische Denker, nicht idealisierend oder distanzierend über den Dingen steht, sondern unsicher und suchend zwischen ihnen. Mit unerhörter Direktheit macht Bloch erlebbar, was alles in Menschen und Orten steckt, die heute Vergangenheit sind. Texte als Zeitreise. In deutsche Landschaften geht es, zum Rheinfall, in den Harz, auf den Spuren Fontanes durch Brandenburg. Das lädt ein zur Beschaulichkeit. Bloch aber macht mitten in der märkischen Naturlandschaft die Großstadt Berlin aus, gerade dabei, sich in eine alle gewachsenen Traditionen in Frage stellende oder zerstörende Moderne zu stürzen.

    Was man Bloch lesend lernt: Die legendären 1920er-Jahre sind wenig glanzvoll, vielmehr von der Willkür des Kapitals und von sozialen Konflikten geprägt. Jeder winzige Fortschritt muss gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden. Blochs Bericht über eine Harzreise führt hinein in die Gemütsverfassung jener Jahre. In den dichten Wäldern um den Brocken ist eine düstere, von Teufelsglauben, Spuk, Hexenjagd bestimmte Vergangenheit noch zu spüren. Für Bloch ist der Fremdenverkehr, sind die Wallfahrten zahlloser Menschen in diese Gegend ein Beweis, dass die bürgerliche Aufklärung sich in Deutschland nicht durchgesetzt hat. Zugespitzt gesagt: Deutschland ist zwar hoch technologisiert, aber die Decke der Zivilisation ist hier dünn, zeigt Risse, durch die kann ein unheimlicher Untergrund jederzeit nach oben kommen.

    Das Dritte Reich zieht herauf. Hitlers Partei versteht es, mit archaischer Folklore die Gefühle der Massen zu bannen.

    In mehreren Texten wirft Bloch der Linken wie den Akademikern vor, sie verleugneten die seelischen Bedürfnisse der Menschen; weil sie sich alleine an abstrakter wissenschaftlicher Rationalität orientierten, hätten sie keine geeignete Strategie gegen den Faschismus. Blochs Vorstellung eines wirklich aufgeklärten Vernunftgebrauchs in Wissenschaft, Gesellschaft, Kunst: innere wie äußere Konflikte der Menschen ernst nehmen, zugleich individuelle wie gesellschaftliche Verdrängungsprozesse bewusst machen und so die mythische Denkweise überwinden.

    Man hört, derzeit erlebe die Religion ein Wiederaufleben im säkularen Westen; wahrscheinlicher ist, dass sie nie wirklich verschwunden war. Verunsicherung, Ungenügen am herrschenden Realitätsprinzip, Hoffnungsleere oder Haltsuche, all diese Phänomene, die bei der Erklärung einer angeblichen Renaissance der Religion genannt werden, scheinen konstante Folgen eines ausschließlich von naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung und ökonomischer Effizienz bestimmten Zeitalters zu sein. Ein Umstand, der Blochs vor 80 Jahren entstandene, Lebens- und Seelenlagen der Menschen am Beginn der Moderne erkundende Kulturanalysen dem heutigen Leser erstaunlich nahe rückt.

    Ralf Becker (Hg.): Ernst Bloch. Der unbemerkte Augenblick. Feuilletons für die "Frankfurter Zeitung" 1916-1934
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007, 398 Seiten, Euro 28