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Selenskyj im Bundestag
Vorwürfe gegen Deutschland und Bitte um Unterstützung

Der Präsident der Ukraine, Selenskyj, hat Deutschland aufgefordert eine Führungsrolle zum Schutz seines Landes zu übernehmen. In Europa werde ein Volk vernichtet, sagte Selenskyj in einer Videoansprache im Deutschen Bundestag. Es gehe darum, den Krieg zu stoppen.

17.03.2022
    Der Präsident der Ukraine, Selenskyj, auf einem großen Bildschirm, davor stehend Abgeordnete des Bundestages
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Live-Schaltung aus Kiew in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. (picture alliance / Geisler-Fotopress)
    Der ukrainische Präsident erinnerte in seiner Rede an den Kalten Krieg und sprach von einer neuen Mauer in Europa. Deutschland befinde sich in Freiheit, die Menschen in der Ukraine wollten auch frei leben und sich nicht einem anderen Land unterwerfen. Zugleich dankte Selenskyj Deutschland für die bisherige Unterstützung.
    Scharfe Kritik äußerte er jedoch an der deutschen Energiepolitik und Abhängigkeit von Russland. Kiew habe Berlin stets gewarnt, dass die Gaspipelines von Nord-Stream Russland als Vorbereitung auf den Krieg dienten, betonte Selenskyj. Zudem habe die Weigerung des Westens, der Ukraine eine Mitgliedschaft in der Nato zu ermöglichen, die Ukraine in die derzeitige Lage gebracht.

    "108 Kinder getötet"

    Selenskyj betonte, nach acht Jahren Krieg im Osten des Landes zerstöre Russland nun alles, was die Ukraine aufgebaut habe. In den drei Wochen des aktuellen Krieges bisher seien tausende Ukrainer gefallen, die Besatzer hätten schon 108 Kinder getötet. Städte wie Charkiw und Tschernihiw, die bereits im Zweiten Weltkrieg verheerende Zerstörung erlebt hätten, würden nun aufs Neue zerstört.
    Von Deutschland forderte Selenskyj, sich der Luftbrücke zu entsinnen, die die Westalliierten während der Berliner Blockade Ende der 1940er Jahre eingerichtet hatten. "Wir können keine Luftbrücke bauen, denn von unserem Himmel fallen nur russische Bombe".
    Eine Einschätzung der Rede vom DLF-Hauptstadtkorrespondenten Stephan Detjen finden Sie hier. Ein Video der Ansprache stellt der Bundestag zur Verfügung, die Rede beginnt bei Minute 11.50.

    Aussprache abgelehnt

    Die Vizepräsidentin des Bundestages, Göring-Eckhardt, erinnerte zum Auftakt der Bundestagssitzung an die Opfer des Krieges bisher und beklagte die humanitäre Situation in der Hafenstadt Mariupol und an anderen ukrainischen Orten. Die Menschen müssten wenigsten die umkämpften Orte auf sicheren Wege verlassen können, sagte die Grünen-Politikerin. Selenskyj sagte Göring-Eckhardt die Unterstützung Deutschlands zu.
    Nach der Rede wurde eine Aussprache des Parlaments über den Krieg von SPD, Grünen und FDP abgelehnt. Ein entsprechender Antrag der Union wurde nur von Abgeordneten der Linkspartei und der AfD unterstützt.

    Lambsdorff: Weitere Waffenlieferungen und Hilfen

    Der FDP-Außenpolitiker Graf Lambsdorff sagte im Deutschlandfunk, die Rede von Selenskyj werde den Bundestag in der Haltung bestärken, Waffen zu liefern und Hilfen bereitzustellen. Gleichzeitig verteidigte er die Ablehnung der Bundesregierung gegenüber einem sofortigen Embargo von russischem Öl und Gas. Damit würde man riskieren, dass ganze Branchen in Deutschland wegbrechen und die Arbeitslosigkeit explodiere, betonte Lambsdorff. Das ganze Interview im Deutschlandfunk finden Sie hier.
    In einer Aktuellen Stunde im Bundestag befassen sich die Abgeordneten heute auch mit der Lage der ukrainischen Flüchtlinge.

    Weiter Angriffe in der Ukraine

    In der vergangenen Nacht hat die russische Armee ihre Angriffe in der Ukraine fortgesetzt. In der Hauptstadt Kiew wurde ein 16-stöckiges Wohngebäude von Teilen einer abgeschossenen Rakete getroffen. Mindestens ein Mensch wurde getötet, drei weitere sollen laut Zivilschutz verletzt worden sein. Bisher wurden etwa 30 Menschen aus dem beschädigten Gebäude in Sicherheit geracht. Ein Brand konnte gelöscht werden.
    Im Osten des Landes hat es nach russischen Angaben wieder schwere Gefechte um die Großstadt Sjewjerodonezk gegeben. Die Einheiten der selbsternannten "Volksrepublik Luhansk" hätten in der Nacht Erfolge erzielt, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Diese Angaben ließen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen.

    Weitere Zivilisten verlassen Mariupol

    In der belagerten Hafenstadt Mariupol wurde den Angaben zufolge ein Theater bombardiert, in dem hunderte Zivilisten Schutz gesucht hatten. Tote wurden bisher nicht gemeldet. Nach Abgaben einer Parlamentsabgeordneten wurden bislang rund 130 Menschen gerettet. Der Luftschutzkeller unter dem Theater habe standgehalten.
    Die russische Seite bestreitet, für den Raketenbeschuss verantwortlich zu sein und gibt ukrainischen Kräften die Schuld. Der Bürgermeister von Mariupol, Bojchenko, schrieb über den Nachrichtendienst Telegram, zahlreiche Menschen verließen die Stadt nun mit Privatautos. Innerhalb von zwei Tagen seien rund 6.500 Autos aus Mariupol herausgekommen. Es gebe allerdings keine Feuerpause, die Menschen seien unter Beschuss geflohen.
    Unterdessen meldet Polen, dass die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine auf fast zwei Millionen gestiegen ist. Der polnische Grenzschutz teilte bei Twitter mit, gestern hätten sich erneut zehntausende Menschen über die Grenze in Sicherheit bringen können. Es gibt allerdings keine offiziellen Angaben dazu, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen geblieben und wie viele bereits in andere EU-Staaten weitergereist sind.

    Weiterführende Artikel zum Krieg in der Ukraine

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    Diese Nachricht wurde am 17.03.2022 im Programm Deutschlandfunk gesendet.