Wenn Frank-Walter Steinmeier über den Account des Auswärtigen Amts twittert, dass er seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault eine friedliche und spannende Europameisterschaft wünscht, hat er kurz und knapp zusammengefasst, worum es in den kommenden Wochen primär gehen wird.
Ein Turnier ohne besondere Vorkommnisse, was die Sicherheit der Sportler, der Franzosen und der vielen Gäste betrifft. Damit das Hauptaugenmerk auf dem Sportlichen liegt - und auf den trotz des Marathon-Turniermodus hoffentlich spannenden Partien. Diese Fußball-Europameisterschaft in einem Land, über das nach den Anschlägen vom November noch immer der Ausnahmezustand verhängt ist, ist eine besondere.
Und damit ist nicht gemeint, dass sie erstmals mit 24 Nationen ausgetragen wird. Sondern, dass man sich immer zwischen Fußball-Euphorie und Terrorangst bewegt.
Die Existenz-Krise ist real
Aber neben der schwelenden Bedrohungslage ist diese Europameisterschaft auch ein Turnier, das in eine Zeit fällt, in der man sich Europas als Gemeinschaft nicht mehr gewiss sein kann. Die Krisen auf dem Kontinent sind kaum noch zählbar. Hinter "Flüchtlings-" und "Schulden-" ist das Wort Krise kaum noch wegzudenken, der drohende Brexit und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen haben dafür gesorgt, dass man auch getrost "Existenz-" vor das K-Wort setzen kann.
Das Europa der Gegenwart scheint sich aufzulösen: der Kontinent, den diejenigen, die ungefähr im Alter der heutigen Nationalspieler sind, als Hort der Sicherheit mit Reisefreiheit, mit länderübergreifenden Freundschaften über Schüleraustausch, Erasmus-Aufenthalt und in weiten Teilen gemeinsamer Währung kennen gelernt haben.
Die Briten halten zwischen der EM-Vorrunde und den Achtelfinals ihr Referendum über den Verbleib in der EU ab. Natürlich könnten Nordirland, England und Wales (und Schottland, das sich für diese EM nicht qualifiziert hat) auch als Nicht-EU-Mitglieder bei künftigen Europameisterschaften antreten - anders als von der heute-show angedroht. Aber der gesamteuropäische Rahmen wäre ein anderer.
Politische Nebenschauplätze möglich
Diplomatische Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern sind belastet. Zum Beispiel das zwischen der Türkei und Deutschland. Wenn diese beiden Mannschaften im Viertelfinale gegeneinander spielten, würde der Umgang der Politiker auf der Tribüne zumindest einen Nebenschauplatz neben dem rein sportlichen aufmachen. Von Russland und der Ukraine ganz zu schweigen.
An den Sportlern, wenn auch von politischen Gemengelagen nicht gänzlich unbeeinflusst, gingen politische Debatten vermutlich während des Turniers weitgehend vorbei - zu abgeschirmt sind sie, zu fokussiert auf ihr Leistung im Turnier. Aber die Fans, die in Frankreich zu Gast sind, kommen in der Mehrzahl in friedlicher Absicht - und tauschen sich aus. Man redet dieser Tage also auch über den Zustand Europas - und wenn es nur vor den Bildschirmen zu Hause ist. Und dann ist das Gegeneinander bei der Fußball-Europameisterschaft auch eine Chance - für das Miteinander.
Was denken Sie über den Zustand Europas während der Europameisterschaft? Wir freuen uns, wenn Sie unter dem Hashtag #EUROGedanken twittern.
Unter "Voyage surprise" (dt.: "Fahrt ins Blaue") bildet die DLF-Sportredaktion in den kommenden Wochen Hintergründiges, Humorvolles, Abseitiges rund um die Europameisterschaft in Frankreich ab.