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Voyage surprise
Zeitreise ins Deutschland der Vokuhilas

Heute vor 20 Jahren gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihren letzten Europameisterschaftstitel - und es sollte für lange Jahre der einzige Titel bleiben. Grund genug, diesen Abend romantisch zu verklären. Wären da nicht das Golden Goal - und die Fotos.

Von Victoria Reith |
    Jubel mit der EURO '96-Trophäe: Nationalspieler Stefan Kuntz, Jürgen Kohler, Mehmet Scholl, Andreas Köpke, Dieter Eilts, Andreas Möller, Fredi Bobic, Oliver Bierhoff, Thomas Strunz, Markus Babbel und Christian Ziege.
    Die deutschen Fußballnationalspieler nach dem Finalsieg bei der EM 1996 in England. (epa_B2800)
    Die Voyage surprise ist heute eine Zeitreise. Heute vor 20 Jahren ist Deutschland im Finale gegen Tschechien im Londoner Wembleystadion Europameister geworden - das erste Sportereignis, an das ich mich wirklich erinnern kann. Und eines, das ich in den letzten beiden Jahrzehnten romantisch verklärte, weil es bis 2014 der einzige Fußball-Titel der Männernationalmannschaft war, den ich miterlebt habe. Deshalb werfe ich einen Blick auf das, was sich seither so verändert hat, was früher wirklich besser war - und was nicht.
    1. Das Golden Goal
    Turnierentscheidend war 1996 das Golden Goal von Oliver Bierhoff - das allererste in einem Fußballturnier (der Erwachsenen, drei Jahre vorher gab es eins für Australiens Junioren bei der U20-WM). Für alle, die sich noch weniger gut erinnern als ich: Wenn das Spiel nach 90 Minuten in die Verlängerung ging, wurde es durch das erste Tor beendet. Und so entschied ein Glückstreffer der Deutschen das ganze Turnier. Okay, schon ganz schön anzuschauen, aber trotzdem Glück!
    Ich kann mir vorstellen, wie angsteinflößend diese Verlängerung für beide Mannschaften war, wie grausam für den Unterlegenen, eine Pein fürs Publikum. Gut, dass das Golden Goal im Fußball auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Absurder war eigentlich nur das Silver Goal, das das Spiel mit dem Halbzeitpfiff beendete, falls in der ersten Hälfte der Verlängerung eine Mannschaft in Führung gegangen war. Dann lieber gleich Elfmeterschießen!
    2. Der Style
    1996 war total cool und aus heutiger Sicht vintage-retro-chic. Wären da nicht die Familienfotos, die das Gegenteil belegen. Die Reflektion des Blitzes in meiner ersten Brille verdeckt immerhin die roten Augen. Ansonsten bestehe ich, drapiert in einem Traum eines Spitzengardinenwohnzimmers, eigentlich nur aus einer aus dem Jahr 1990 übrig gebliebenen Deutschlandflagge.
    Die Autorin beim Sieg der Deutschen beim EM-Finale in England vor 20 Jahren.
    Die Autorin beim Sieg der Deutschen beim EM-Finale in England vor 20 Jahren. (Deutschlandradio - Victoria Reith)
    Familienmitglieder, deren Köpfe ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes entfernt habe (und die nicht etwa fehlen, weil ich damals noch nicht so gut fotografieren konnte), tragen ausgebeulte Jeans, Jeans- und Bomberjacke, die Flagge lässig über die Schulten, die Pulle Deinhard in der Hand und die Haare vorne-kurz-hinten-lang. Im Rennen um die schlimmste Frisur der Menschheitsgeschichte liefert sich der Vokuhila ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem 2016er Undercut.
    Nicht alles war früher besser - die Angehörigen haben 2016 einen besseren Style.
    Nicht alles war früher besser - die Angehörigen haben 2016 einen besseren Style. (Deutschlandradio - Victoria Reith)
    Normalerweise würde ich mich hier nicht über Mode auslassen, aber beim Anblick der Familienfotos habe ich mich schon gefragt, ob wir im Jahr 1996 nicht noch mitten in den 80ern steckten.
    3. Die Gesellschaft
    Was sonst noch so los war 1996?
    • Die Band Sportfreunde Stiller gründet sich. Als die drei bajuwarischen Jungs im Jahr 2014 aufgehört haben, ihr Lied (54, 74, 90, 2006 bzw. 2010) auf das jeweilige Turnier anzupassen, hat es ja auch endlich mit dem Titel für die DFB-Elf geklappt. Kann 2016 ruhig so weiter gehen.
    • Der Feldhamster ist Wildtier des Jahres in Deutschland. Er klingt wie ein Talent am Ball: Seine Füße sind breit und mit gut entwickelten Krallen versehen. Die Fellfärbung des Feldhamsters ist variabel: Am häufigsten ist eine gelbbraune Oberseite und eine dunkle Unterseite. Ob Vokuhila oder Undercut, diese Kombi geht immer. Deshalb ist es sicher ein gutes Omen, dass der Feldhamster auch 2016 Tier des Jahres ist.
    • Erstmals besiegt mit "Deep Blue" ein Schachcomputer einen Schachweltmeister, nämlich Garry Kasparow, in einer Partie unter Turnierbedingungen. Wann Fußballroboter gegen menschliche Spieler antreten und siegen werden - diese Frage lege ich auf Wiedervorlage für die Europameisterschaft 2036.