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Wachwechsel der Kritiker

Derzeit bearbeiten 24 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen Projekte von der klassischen Industriesoziologie über den Dienstleistungssektor und die Bildungspolitik bis hin zur Sozialpolitik. In einem Forschungsprogramm hat die neue Geschäftsführung aufgezeigt, welche Richtung die Forschungsarbeit in Zukunft nehmen soll. Einerseits wird an Bewährtem festgehalten, andererseits werden aber auch neue Akzente gesetzt

Von Ulrich Kurzer | 09.11.2006
    Das erläutert Volker Wittke aus dem Direktorium des "SOFI", wie das Institut zumeist genannt wird:

    "In der Tradition des Instituts hat vor allem Forschung sich um Arbeit und Veränderung von Arbeit sich organisiert, sowohl in der Industrie, als auch im Dienstleistungsbereich. Dieser Schwerpunkt wird nach wie vor eine Rolle spielen, aber er wird erweitert werden um zwei Bereiche, wobei der eine Bereich sich sehr stark beschäftigt mit der Internationalisierung und Globalisierung von wirtschaftlichen Aktivitäten. Das sind Dinge, die in den letzten zehn Jahren zunehmend eine Rolle gespielt haben."

    Der andere Bereich, der in Zukunft in der Arbeit des Soziologischen Forschungsinstituts stärker zur Geltung kommen soll, betrifft die berufliche Bildung. In den zurückliegenden Jahren wurde dazu am SOFI vor allen aus einer arbeits- und berufssoziologischen Sichtweise geforscht, sagt die neue Direktorin Heike Solga:

    "Mit meinem Zustoßen zum SOFI wird's weiterhin den Schwerpunkt zu Bildung und Berufsbildung geben, aber eher aus einer Ungleichheitsperspektive, wie die Frage, inwieweit sind Migranten, spielt der Migrantenhintergrund eine Rolle für die Beteiligung an Bildung? Soziale Ungleichheit beim Zugang zu Bildung nach sozialer Herkunft, stärker die Frage von Geschlecht, also eher auch diese schon damit verbundenen Fragen, aber eben auch eine andere Perspektive."

    Keinen Perspektivenwechsel gibt es dagegen im Blick auf das Selbstverständnis, das hinter den wissenschaftlichen Untersuchungen im SOFI steht. Auch Jürgen Kädtler gehört der neuen Geschäftsleitung an. Er sagt:

    "Kritische Soziologie, wie wir sie hier am SOFI in der Vergangenheit betrieben haben und wie wir sie in Zukunft auch betreiben wollen, hat sich immer so verstanden, versteht sich auch weiterhin so, dass politische Intervention durch Wissenschaft betrieben werden soll, dass heißt, dass durch wissenschaftliche Aufklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge, soziale Probleme transparent gemacht werden sollen und damit der Debatte über politische Lösungen zugänglich gemacht werden sollen."

    Kritische Soziologie als kritische Wissenschaft von der Gesellschaft soll sich also einmischen und helfen, Antworten auf die Fragen zu geben, die in der Gesellschaft gestellt werden.

    Beispiel PISA: Im internationalen Vergleich bekommt Deutschland bisher regelmäßig schlechte Noten für sein Bildungssystem. Doch in der Wissenschaft wird vor allem heftig darum gestritten, ob in den PISA-Tests die Lese- oder Rechenkompetenzen von Schülerinnen und Schülern korrekt gemessen worden sind. Schlussfolgerungen und Empfehlungen an die Politik werden dagegen viel zu zaghaft formuliert. Und das hat fatale Folgen sagt Heike Solga:

    "Die Politik muss ihre Ableitungen daraus ziehen, und die Ableitungen der Politik, das sieht man, jeder bezieht sich auf PISA, jeder erzählt was anderes, was man in PISA sehen kann, und ich denke, da wäre es auch eine Aufgabe der kritischen Soziologie durchaus fundiert auch Interpretationshilfen für diese PISA-Befunde zur Verfügung zu stellen, um eben nicht diesen Wildwuchs, alles ist PISA, die einen schaffen die Orientierungsstufe ab und sagen, das ist PISA, früher selektieren ist besser, die anderen sagen, wir führen eine gemeinsame Grundschule weiter und sagen, das ist PISA, (und das eben) dem Bereich der Politik allein zu überlassen. "

    Derzeit bearbeiten die 24 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im SOFI 16 Projekte. Das Spektrum reicht von der klassischen Industriesoziologie über den Dienstleistungssektor und die Bildungspolitik bis zur Sozialpolitik.

    Regelmäßig stellen die Forscher fest, dass in der Öffentlichkeit immer häufiger die These akzeptiert wird, die gesellschaftliche Entwicklung sei Sachzwängen unterworfen, die ohne Alternativen wären, sagt SOFI-Direktor Jürgen Kädtler:

    " "Dabei geht oft unter, dass eine Gesellschaft, auch unsere Gesellschaft nach wie vor durch Interessen und zwar durch unterschiedliche Interessen strukturiert ist, und das gerade eben an der Frage von Arbeit, Beschäftigung und so weiter sich auch Interessengegensätze festmachen, die in irgendeiner Form reguliert werden müssen. "

    Besonders in der Debatte um die Herausforderungen der Globalisierung genießt das Argument vermeintlicher Sachzwänge einen hohen Rang, bestätigt Volker Wittke.

    " "Keine Frage ist, dass Unternehmen in der gegenwärtigen Situation unter weitaus anderen Bedingungen, unter weitaus anderen Optionen auch agieren, als sie es früher taten, und all dies hat auch Auswirkungen auf die Frage, wie Arbeit an Standorten wie Deutschland oder Frankreich oder Italien lokalisiert und gestaltet werden kann. Aber es ist nun überhaupt nicht so, dass die neuen Optionen und die neuen Rahmenbedingungen unter denen Unternehmen agieren, jetzt etwa eine Abwanderung zwingend erfordern, wie es zum Teil diskutiert wird, mit dem Nebeneffekt, dass auf Beschäftigte doch beachtliche Zwänge ausgeübt werden, sich nachgiebig zu zeigen, weil die Drohung im Raum steht: Wenn es hier keine Zugeständnisse gibt, dann wandern wir eben ab!"

    Für die Göttinger Wissenschaftler ist das ein weiteres Beispiel dafür, wo und wie kritische Soziologie sich einmischen sollte, um darüber aufzuklären, unter welchen Bedingungen eine konkurrenzfähige Produktion auch zukünftig in Deutschland und anderen Hochlohnstandorten möglich ist.

    Die zukünftigen Untersuchungen am Soziologischen Forschungsinstitut werden daher auch stärker als bisher international ausgerichtet sein. Darin ist sich die neue Geschäftsführung des SOFI einig, sagt Volker Wittke:

    "Das bedeutet zum einen, dass Forschung stärker als in der Vergangenheit mit internationalen Vergleichen arbeitet, man also nicht nur Veränderungen in Deutschland analysiert und interpretiert, sondern Veränderungen in Deutschland im Vergleich zu Veränderungen in anderen Gesellschaften. Dies ist wichtig, weil das in der wissenschaftlichen Debatte zunehmend eine Rolle spielt, es ist aber zugleich wichtig, weil es auch in der öffentlichen, politischen Diskussion zunehmend eine Rolle spielt. Eine stärkere internationale Ausrichtung heißt auch, dass wir selbst empirische Forschung in anderen Ländern machen werden und machen müssen. Und das bedeutet (für die Forschung), wir werden auch in Mittelosteuropa, in China, in Indien, selbst empirische Forschung machen in Zukunft, und das ist etwas Neues, wenn man es etwa vergleicht mit der SOFI-Aktivität der letzten zehn, zwanzig Jahre."

    Für die Finanzierung seiner Forschungsarbeit sorgt das SOFI zum großen Teil selber. Zwei Drittel des Etats von knapp zweieinhalb Millionen Euro kommen von Auftraggebern wie etwa dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der VW-Stiftung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Bertelsmann-Stiftung, der Europäischen Union oder der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Daneben sichert das Land Niedersachsen über eine Sockelfinanzierung von gut einem Drittel des Haushalts die Existenz des Instituts.