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Wagenknecht: Steuerzahler wird ausgenommen wie eine Weihnachtsgans

Für Sahra Wagenknecht ist die Schuldenkrise nur mit einer stärkeren Beteiligung der Gläubiger, also der Banken zu lösen. Griechenland sei pleite und werde auf absehbare Zeit einen Schuldenschnitt machen. Es sei völlig verantwortungslos – noch einmal Geld reinzugeben, sagte die stellvertretende Vorsitzende der Linken.

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Gerhard Schröder | 16.10.2011
    Schröder: Frau Wagenknecht, der erweiterte Rettungsschirm, der kann jetzt aufgespannt werden, die Slowakei hat als letztes Land dem zugestimmt. Und Griechenland wird wohl vorerst auch nicht pleitegehen, die nächste Tranche über acht Milliarden Euro kann wohl ausgezahlt werden. Wie bewerten Sie das, sind das gute Nachrichten für Europa?

    Wagenknecht: Na, es sind auf jeden Fall gute Nachrichten für die Banken, für die Hedgefonds und für die Spekulanten, weil das bedeutet, dass ihnen jetzt noch mal eine neue Ladung Risiken und Verluste abgenommen werden. Es ist völlig klar: Griechenland ist pleite, und Griechenland wird auch auf absehbare Zeit einen Schuldenschnitt machen. Und mit jeder neuen Runde dieser Rettungsmaßnahmen heißt das nichts anderes, als dass am Ende die Verluste des Steuerzahlers größer werden und die Verluste der Banken kleiner. Und das, was man jetzt wieder beschlossen hat, ist wirklich völlig verantwortungslos – noch einmal Geld reinzugeben, statt zu sagen: Wir machen jetzt den Schuldenschnitt und wir gucken dann. Wenn dann Banken Schwierigkeiten haben, dann muss man eben diese Banken rekapitalisieren, dann muss man die Sparguthaben sichern. Das ist etwas ganz anderes. Aber die Politik gegenwärtig arbeitet nur daran, diese riesige Finanzmaschinerie, diese riesige Geldmaschine der heutigen Finanzmärkte am Leben zu halten. Und dafür wird der Steuerzahler ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.

    Schröder: Also hat der FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler eigentlich recht, als er schon vor einigen Wochen oder Monaten die geordnete Insolvenz ins Gespräch gebracht hat. Dafür ist er ja massiv kritisiert worden, auch gerade von der Opposition.

    Wagenknecht: Ja, er hatte in dem Punkt recht, dass Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen kann und auch nicht schultern kann. Er hatte natürlich nicht recht, indem er einfach das in die Debatte geworfen hat und die restlichen Konditionen nicht infrage gestellt hat. Das Problem ist natürlich: Wenn alles andere bleibt, wie es ist, und Griechenland macht einfach so einen Schuldenschnitt, dann bedeutet das: Die nächsten Länder, nämlich Italien und Spanien, werden überhaupt keine Chance mehr haben, ihre Anleihen zu refinanzieren. Und deswegen muss man viel weiter gehen. Wir brauchen ein ganz anderes System der Staatsfinanzierung. Ein erster Schritt wäre beispielsweise, dem EFSF, also dem Rettungsschirm die Möglichkeit zu geben, sich bei der Europäischen Zentralbank zu refinanzieren. Dann hätte er auch die Mittel, zum Beispiel Spanien und Italien in so einer Situation Geld zur Verfügung zu stellen. Solange allerdings die Länder alle darauf angewiesen sind, dass die Ratingagenturen und die Investmentbanker den Daumen heben und nicht senken, so lange ist in einer solchen Situation ein einzelner Schuldenschnitt wirklich richtig gefährlich. Denn das ganze System ist ein Problem, und man muss das ganze System der Staatsfinanzierung auf eine andere Grundlage stellen.

    Schröder: Aber Griechenland zum Beispiel braucht ja schnelle Hilfe, das Land hat schlicht kein Geld mehr, bekommt am Kapitalmarkt auch kein Geld. Also was kann man da tun, außer sich mit der nächsten Tranche über acht Milliarden Euro erst mal Zeit zu kaufen?

    Wagenknecht: Nein, man hätte schon vor eineinhalb Jahren den Schuldenschnitt machen müssen und gleichzeitig, statt dieses monströse Rettungsvolumen mit riesigen Garantien und Haftungen der Steuerzahler aufzustellen, eben eine öffentliche Bank oder eben eine solche Institution, aber mit Banklizenz, gründen müssen, die dann anderen EU-Staaten billiges Geld zu günstigen Konditionen, also zum Beispiel zu dem Zentralbank-Kreditsatz von 1,5 Prozent, zur Verfügung stellt. Das hätte ja gar nicht mehr Kredit sein müssen als gegenwärtig, es hätte sogar weniger Kredit sein können, weil zum Beispiel – dass die Schulden vieler Länder so explodieren, auch bei Griechenland, liegt ja auch an den hohen Zinsen. Also Griechenland hat zurzeit ein Defizit von etwa 20 Milliarden, 15 Milliarden davon sind allein Zinszahlungen.

    Schröder: Ja, aber das ist doch das Ergebnis einer fehlgeleiteten Arbeit der Regierung in Griechenland über viele Jahre. Sie können die Banken nicht verantwortlich machen, dass Griechenland heute so massiv überschuldet ist. Das hat Griechenland doch ganz alleine hingekriegt, oder?

    Wagenknecht: Ja, das ist aber eine andere Diskussion über die Ursache. Und eine Ursache natürlich der hohen Staatsverschuldung in der EU allgemein, da ist Griechenland nicht ganz so betroffen wie zum Beispiel Irland, aber auch Deutschland, ist natürlich die Bankenrettung gewesen. Das heißt, nach 2008 wurden ja Milliarden und Abermilliarden in das Banksystem gepumpt, damit die Banken abgesichert werden, die sich total verzockt hatten. Also wir haben in Deutschland alleine fast 300 Milliarden mehr an Staatsschulden alle an der Backe, weil die Banken gerettet wurden, weil die Hypo Real Estate, weil die EKB gerettet wurde, weil eben Stützungsmaßnahmen bei der Commerzbank gemacht wurden, weil indirekt so auch die Deutsche Bank gerettet wurde – die wäre auch pleite ohne Steuerzahlergeld, das muss man ja auch mal ganz klar sagen. Und dadurch hat sich die Staatsverschuldung europaweit extrem erhöht. Und es gibt natürlich noch einen zweiten Punkt, über den muss man auch reden, aber das ist dann eine längerfristige Frage: Natürlich müssen wir in Europa eine andere Steuerpolitik machen. Die Schulden der Staaten sind zu erheblichen Teilen die nicht mehr gezahlten Steuern der Reichen, weil wir europaweit einen Steuerdumping-Wettlauf haben. Die Unternehmenssteuern sinken, die Spitzensteuersätze sinken, die Kapitalsteuern, die Vermögenssteuern gehen nach unten. Und wenn man so natürlich gerade die, die viel Geld haben, nicht mehr besteuert, dann bedeutet das eben, dass man immer höhere Schulden machen muss. Der langfristig tatsächlich einzige sinnvolle Ausweg aus dieser ganzen Verschuldungsproblematik ist eine sinnvolle Steuerpolitik.

    Schröder: Das heißt, wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung?

    Wagenknecht: Wir bräuchten zumindest europäische Vereinbarungen über Steuerrahmen. Zum Beispiel bei den indirekten Steuern – bei der Mehrwertsteuer – da gibt es einen europäischen Rahmen, den muss man einhalten. Also man kann nicht irgendwie eine Mehrwertsteuer haben von nur drei Prozent, aber man kann auch keine haben von 40 Prozent, sondern es gibt einfach eine Vereinbarung, da muss man in einem bestimmten Rahmen liegen. Und ähnliche Vereinbarungen hätte man längst auch bei Unternehmenssteuern und anderen Steuern machen können, damit es nicht einen Wettlauf gibt – wer wirbt so zusagen das meiste Kapital ab, weil er die günstigsten Steuerkonditionen hat? Und Irland zum Beispiel, ein Land jetzt ja auch, das gerettet werden musste, hat natürlich auch mit diesen Dumpingwettlauf immer mit angeheizt mit seinen geringen Steuersätzen. Wenn man das natürlich macht, die Einnahmen brechen weg, die Ausgaben können so schnell nicht gekürzt werden – sollten sie auch nicht, die öffentliche Hand muss ja ihre Aufgaben erfüllen –, das bedeutet dann immer höhere Schulden.

    Schröder: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble denkt ja inzwischen auch über einen Schuldenschnitt, also einen teilweisen Erlass der Schulden Griechenlands nach. Ist er also auf dem richtigen Weg?

    Wagenknecht: Ja, aber er denkt leider nicht darüber nach, das Gesamtsystem der Staatsfinanzen auf eine Grundlage zu stellen, nämlich nicht mehr abhängig zu machen vom "Goodwill" der Finanzinstitute, vom Goodwill von drei Ratingagenturen, die ja im Übrigen auch chronisch falsche Ratings veröffentlichen. Also es ist ja so absurd, dass das Wohl und Wehe ganzer Länder am Ende davon abhängt, ob so eine Ratingagentur, die schon Giftpapiere völlig falsch geratet hat, dass die jetzt so zusagen den Daumen hebt oder senkt. Ich finde, das ist eine Situation, die liegt im Argen. Ich finde, wir sollten das öffentlich kontrollieren über eine öffentliche Bank. Da muss auch ein Rahmen gesetzt werden. Natürlich geht es nicht um exorbitante Ausweitung der Schulden, aber das heutige System führt ja noch eher zu einer Ausweitung der Schulden.

    Schröder: Aber ein Schuldenerlass, der nicht mit klaren Auflagen, auch mit Sparauflagen, verbunden ist, ist das etwas anderes als ein Freifahrtschein für weiteres ungehemmtes Schuldenmachen, ein Beispiel auch für andere Staaten, sich nicht allzu sehr anstrengen zu müssen bei ihren Bemühungen, ihre Haushalte in Ordnung zu bekommen?

    Wagenknecht: Ja gut, Griechenland spart ja wie verrückt. Griechenland spart so stark, dass es die Wirtschaft in eine ganz tiefe Krise hineingespart hat. Und das bedeutet, dass die Einnahmen schneller wegbrechen, als sie jemals die Ausgaben kürzen können und dass am Ende die Schulden ja größer werden und nicht kleiner, also, das muss man ja auch mal sehen. Jetzt, eineinhalb Jahre nach der Griechenlandrettung, haben die 20 Milliarden mehr an Schulden als vorher. Das ist ja absurd. Das heißt, diese Sparprogramme reduzieren die Schulden nicht, sondern sie erhöhen sie am Ende sogar, weil sie die Wirtschaft kaputtmachen. Man muss die Vermögenssteuer erheben, die Unternehmen müssen entsprechend besteuert werden, die Reichen müssen entsprechend besteuert werden. Das ist sicherlich gar nicht schlecht, aber solche Auflagen sind ja überhaupt nicht in der Debatte. Und das Zweite, was ich aber auch noch sagen wollte, worüber auch Herr Schäuble leider überhaupt nicht nachdenkt oder diskutiert: Wir müssen endlich auch das Casino auf den Finanzmärkten schließen bei den Banken. Es kann nicht sein, dass die europäischen Banken in diesem Jahr noch mal 100 Milliarden Gewinn machen. Wir haben 40 Milliarden an Dividenden ausgeschüttet allein in den letzten vier Quartalen – und dann immer, wenn es so zusagen eng wird, dann ist selbstverständlich der Steuerzahler in der Haftung, er kommt dann mit seinen Milliarden, mit seinem Geld, und rettet diese Banken dann, zumindest die, denen es schlechter geht, die Schwierigkeiten haben. Das ist ein absurdes System, das heißt: Wenn man jetzt einen Schuldenschnitt macht und Banken rekapitalisiert, was ja dann nötig wäre, dann muss man das gleichzeitig nutzen, die Banken kleinzuschrumpfen, sie wieder auf ein Geschäftsmodell zu bringen, das ihrer eigentlichen Aufgabe entspricht, nämlich die Wirtschaft mit Kredit zu versorgen – anstelle dessen, dass sie wetten, aberwitzige Derivatengeschäfte machen, dass sie spekulieren, dass sie zocken. Das macht ja den großen Teil der Geschäfte, beispielsweise der Deutschen Bank, heutzutage aus.

    Schröder: Was wollen Sie machen? Wollen Sie der Deutschen Bank das Investmentbanking verbieten?

    Wagenknecht: Es kann doch nicht sein, dass eine Bank völlig irrwitzige Geschäfte macht, die auch volkswirtschaftlich überhaupt keinen Nutzen haben, mit denen sie sehr hohe Renditen einfahren kann – wenn es gut geht –, und wo sie auch ein sehr hohes Risiko eingehen kann, weil sie weiß: Wenn es schief geht, kostet es nicht sie, sondern kostet es den Staat. Man müsste einen erheblichen Teil dieser Derivatengeschäfte schlicht verbieten, weil sie einfach keinen volkswirtschaftlichen Sinn und Verstand und Nutzen haben.

    Schröder: Aber wir sprechen ja jetzt darüber, dass Banken Staatsanleihen zum Beispiel von Griechenland halten. Wenn wir einen Schuldenerlass bekommen, dann bedeutet das für die Banken, dass sie auf einen Teil dieser Forderung verzichten müssen. Und jetzt ist ja schon in der Diskussion, dass das viele Banken in Schieflage bringen wird. Also brauchen wir da nicht schon wieder Geld, um dann die Banken zu stützen, damit sie diesen Schuldenerlass verkraften können?

    Wagenknecht: Ja; das ist tatsächlich so. Dafür würde ich bevorzugen, die Vermögen heranzuziehen, die ihre Entstehung der wachsenden Staatsverschuldung verdanken, also nicht durch Sparprogramme den Normalverdiener, den Rentner, den Arbeitslosen bluten zu lassen, der von diesem ganzen System nie profitiert hat, sondern tatsächlich die Vermögen haftbar zu machen, die entstanden sind im Gleichzug und aus den gleichen Gründen, wie die Staatsschulden immer mehr gewachsen sind. Und das sind die Vermögen der Reichen, die Vermögen der Millionäre und Multimillionäre.

    Schröder: Aber das heißt: Sie sagen, ein Schuldenerlass ist eigentlich nur möglich, wenn gleichzeitig die Banken gestützt werden, sonst kollabiert der Finanzmarkt?

    Wagenknecht: Ja, wir brauchen tatsächlich europaweit einen Abbau der Schulden, einen Schuldenschnitt. Und das bedeutet natürlich, dass dann erhebliche Verwerfungen im Finanzsystem die Folge wären, wenn der Staat nicht die Banken stützt. Aber der Staat darf nicht einfach die Banken so stützen, zum Nulltarif Geld geben, so wie das in der letzten Krise überwiegend geschehen ist, sondern er muss dann auch gucken, dass er die Banken reguliert, dass er sie auf ihre wirklichen Aufgaben verpflichtet und dass er verhindert, dass diese Zockerei weitergeht.

    Schröder: Mit immer mehr Geld versucht die Bundesregierung, versuchen die europäischen Staaten ja derzeit vor allem, auch den Euro zu retten. Ist der Euro noch zu retten, oder müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass vielleicht doch Drachme und Lire wieder kommt?

    Wagenknecht: Nein, ich glaube, der Euro ist nicht das Problem. Der Euro ist natürlich nur lebensfähig mit einer koordinierten Wirtschaftspolitik. Das sollte man in Angriff nehmen. Ansonsten bedeutet ein Zurück zu einzelstaatlichen Währungen bei den heutigen Finanzmärkten eine völlige Volatilität, das heißt ein Auf und Ab, schwankende Wechselkurse. Das wäre wirtschaftlich verheerend. Aber das Grundproblem ist nicht, das die Währung verursacht, sondern das Problem ist durchaus ein weltweites. Wir haben weltweit seit etwa 20, 25 Jahren ein Wachsen der Schulden, auf der anderen Seite aber auch der Vermögen, das weit über dem realwirtschaftlichen Wachstum liegt. Und damit ist eine riesige Blase entstanden, sowohl bei den Schulden als auch bei den Vermögen.

    Schröder: In der nächsten Woche, Frau Wagenknecht, treffen sich die EU-Regierungschefs zum Sondergipfel. Was empfehlen Sie der Bundeskanzlerin?

    Wagenknecht: Ja, endlich mal wieder eingefahrene Wege zu verlassen und nicht immer nur versuchen, Zeit zu kaufen, zu lavieren und sich vor allem nicht vor dem Gipfel wieder bei Herrn Ackermann zu versichern, was sie denn machen könne oder was er sich wünscht, was sie macht. Sie sollte sich mal darüber Gedanken machen, was tatsächlich im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Das ist nicht die Politik, die sie zurzeit betreibt, sondern das wäre eben etwas, was tatsächlich den Finanzsektor in seine Schranken weist und auch dazu führt, dass nicht immer mehr Steuergeld in dieses schwarze Loch geworfen wird.

    Schröder: Inzwischen ist ja auch klar: Die Finanzkrise wird die Realwirtschaft nach unten ziehen, eine Rezession ist nicht mehr völlig auszuschließen. Was kann die Politik da tun, um das abzufedern?

    Wagenknecht: Alle Wirtschaftsforschungsinstitute haben angekündigt, wir bekämen in diesem Jahr einen Konsumboom, der also so zusagen den Aufschwung dann etwas exportunabhängiger macht. Das hat man 2008 auch schon mal vorher gesagt. Der Konsumboom fand nie statt, und er konnte auch nicht stattfinden, weil wir einfach einen Aufschwung haben und hatten, der bei der bei der großen Mehrheit der Menschen nie angekommen ist. Das heißt, die Löhne sind gesunken, die Renten sind weiter gesunken, die Sozialleistungen sind gesunken. Und in dieser Situation gibt es eben keinen nachhaltigen Aufschwung.

    Schröder: Dennoch die Frage, was kann die Politik jetzt tun, um die Konjunktur abzufedern, um sie zu stärken?

    Wagenknecht: Das wäre eins, dass der Staat natürlich auch mit öffentlichen Investitionen die Konjunktur stimulieren kann. Aber es wäre zum Beispiel eine überfällige Maßnahme. Mindestlohn von zehn Euro wäre ein unglaublicher Kaufkraftschub, weil Millionen Menschen einfach mehr Geld in der Tasche hätten. Wir bräuchten eine deutliche Aufstockung bei den Hartz IV Regelsätzen, wenigstens auf 500 Euro, das wäre ein enormer Kaufkraftschub. Wir bräuchten endlich wieder eine wirklich ordentliche, anständige Rentenerhöhung. Das sind wir auch längst den Senioren schuldig. Und das wären Maßnahmen, die würden eben nicht einfach nur sozial gerechter sein oder den Menschen zugutekommen, sondern sie würden auch der wirtschaftlichen Situation zugutekommen, weil sie dazu führen würden, dass die Menschen mehr Geld in der Tasche haben, sich mehr kaufen können und dadurch der Binnenmarkt stabiler würde. Und das ist überfällig.

    Schröder: Mehr Investitionen heißt aber auch wieder mehr Schulden.

    Wagenknecht: Nein. Ich finde, parallel muss natürlich eine andere Steuerpolitik gemacht werden. Wir haben in Deutschland gigantische Vermögen. Kürzlich ist eine Studie veröffentlicht worden, die noch mal belegt, dass allein ein Prozent der deutschen Bevölkerung, also die, die mehr als eine Million haben, dass die alleine ein Finanzvermögen von 2,2 Billionen Euro auf der hohen Kante haben. Das ist mehr als die gesamte Staatsverschuldung von Bund, Ländern und Kommunen. Und warum gibt es in Deutschland keine Vermögenssteuer? Wenn wir eine Millionärssteuer hätten, von sagen wir fünf Prozent auf Millionenvermögen, ließen sich damit im Jahr 80 Milliarden einnehmen. Und was man nicht machen kann, ist eine Steuerpolitik, die ständig Steuergeschenke an die Reichen verteilt, und dann schreibt man aber in der Verfassung fest, wir wollen eine Schuldenbremse. Das passt vorne und hinten nicht zusammen. Das heißt, andere Steuerpolitik und mehr öffentliche Investitionen würde per saldo nicht bedeuten mehr Verschuldung.

    Schröder: Das Interview der Woche mit Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und deren wirtschaftspolitische Sprecherin. Frau Wagenknecht, die Finanzkrise, das müsste doch eigentlich die Stunde der Opposition sein und erst recht die Stunde einer Partei, die sich als streng antikapitalistisch versteht. Wir erleben aber das Gegenteil. Die Linkspartei verliert seit Monaten an Rückhalt, verliert Wahlen. Woran liegt das?

    Wagenknecht: Nun, ganz so dramatisch, wie Sie es jetzt dargestellt haben, ist es zum Glück nicht. Aber es ist so, wir haben natürlich zurzeit in diesem Wahljahr überhaupt nicht das erreicht, was wir uns gewünscht haben. Das hat aber nicht so sehr viel zu tun – das ist zumindest meine Erfahrung – mit den Positionen, die wir vertreten oder die ich auch gerade zum Beispiel dargestellt habe zur Eurokrise mit den Auswegen, die wir ja formulieren. Wir sind ja die einzige Partei, die hier überhaupt Konzepte vorlegt, wie man aus dieser Situation herauskommt. Ich denke, es liegt daran, dass die Partei in diesem Jahr kein besonders gutes Bild abgegeben hat, weil wir einfach sehr viel interne Auseinandersetzung hatten. Wir hatten immer wieder aus Teilen der Partei heraus eine Demontage der eigenen Parteiführung. Wir haben über Themen diskutiert, auch öffentlich, sehr vehement, die – glaube ich – an den Leuten ziemlich vorbei gegangen sind und die gerade nicht die Eurokrise betrafen. Das ist schon etwas, da verstehe ich auch, dass viele sagen, die sollen sich erst mal einigen und dann überlegen wir wieder, ob wir die Linke wählen.

    Schröder: Wer ist denn verantwortlich, wer ist denn schuld an diesen internen Streitigkeiten? Also die beiden Vorsitzenden Gesine Lötsch und Klaus Ernst haben die ja zum Teil selber mit angestoßen durch Äußerungen über Wege zum Kommunismus, über Grußkarten an das kubanische Regime. Und sie haben gleichzeitig es nicht geschafft, diese internen Debattenstreitereien zu beenden. Also, sind Gesine Lötzsch und Klaus Ernst noch die Richtigen an der Parteispitze?

    Wagenknecht: Also, ich denke, dass diese Debatte einfach völlig daneben ist. Sie sind beide gewählt worden mit großer Mehrheit. Wir haben im nächsten Juni den nächsten Parteitag, wo über die Spitze entschieden wird. Da kann dann jeder auch kandidieren. Da kann man dann auch drüber diskutieren. Aber ich halte überhaupt nichts davon, wenn zwei Vorsitzende gewählt sind, im Grunde vom Tag ihrer Wahl an öffentlich eine Diskussion darüber zu führen, ob sie das eigentlich können, ob sie fähig sind, ob man nicht andere braucht. Und das war genau der Fehler, dass wir auch aus der Partei heraus immer wieder solche Debatten geführt haben. Insoweit finde ich es viel wichtiger und ich denke und hoffe das auch – wir sind ja jetzt auf dem Weg zu unserem Programmparteitag –, dass wir jetzt wieder stärker wirklich unsere inhaltlichen Positionen in den Vordergrund setzen.

    Schröder: Aber wenn ich noch einmal auf die Führungsspitze zu sprechen kommen darf, 54 Prozent der Mitglieder – so hat jetzt eine Umfrage ergeben – halten sie für eine Fehlbesetzung an der Spitze, also Gesine Lötzsch und Klaus Ernst. Ist es nicht doch Zeit zu überlegen, da für einen schnelleren Wechsel zu sorgen?

    Wagenknecht: Ach, Umfragen gibt es immer so oder so. Ich finde, dass wir jetzt als Partei wirklich andere Probleme haben, als schon wieder Sonderparteitage einzuberufen und neue Führungsdebatten zu führen. Ich glaube, dass die Situation im Land und in Europa insgesamt eine handlungsfähige Linke braucht. Und wir haben Konzepte, wir haben Positionen. Die müssen wir jetzt auch öffentlich vertreten, und das möglichst gemeinsam. Und das hoffe ich einfach, dass das auch diejenigen in der Partei so akzeptieren, die bisher da eine etwas andere Position haben. Und über Führung sollte man dann diskutieren, wenn Parteitage anstehen und wenn Wahlen anstehen, aber nicht ein halbes Jahr vorher.

    Schröder: Aber Sie selbst haben doch diese Führungsdebatte angeheizt, indem Sie eine Rückkehr von Oskar Lafontaine in die Bundespolitik angeregt haben. Also, braucht die Linkspartei Oskar Lafontaine an der Spitze?

    Wagenknecht: Also, ich habe gar nichts angeregt. Ich habe lediglich auf eine Frage für den Fall vorgezogener Neuwahlen darauf hingewiesen, dass ich der Meinung bin – und das ist, glaube ich, auch inzwischen ja mit Umfragen belegt -, dass natürlich eine Mehrheit in der Linken sich das wünschen würde und dass – das ist auch eine Tatsache – Oskar Lafontaine natürlich für den größten Wahlerfolg steht, den wir je hatten. Aber das hat jetzt ja mit keiner Diskussion zu tun, dass ich jetzt sage, ich führe eine Diskussion über Parteivorsitzende oder ich führe eine Diskussion über 2013. Und die werde ich auch jetzt nicht führen, weil das, glaube ich, einfach überhaupt keinen Sinn macht. Ich möchte lieber über unsere Inhalte diskutieren.

    Schröder: Gregor Gysi hat ja schon im Frühjahr gesagt, wenn eine Notlage entsteht, dann müsse man über eine Rückkehr von Oskar Lafontaine nachdenken. Ist diese Notlage da?

    Wagenknecht: Ich denke, dass wir in unseren inhaltlichen Positionen keine Notlage haben, und ich denke, dass wir jetzt einfach uns zusammenreißen müssen. Und tatsächlich hoffe ich auch, gut unseren Programmparteitag über die Bühne zu bringen. Wir haben im Programm viele Positionen, die von äußerster Aktualität sind. Und ich denke, dass wichtig ist, dass die Leute auch wieder sehen, wofür wir gemeinsam kämpfen, wofür wir streiten, wofür wir stehen und dass wir vor allen Dingen eben auch an der Seite derer stehen, die ja jetzt beginnen, sich zu wehren, die beginnen, auf die Straße zu gehen. Ganz viele junge Leute beginnen ja nicht nur in den USA, sondern auch in anderen europäischen Ländern und eben auch langsam in Deutschland, darüber nachzudenken, so kann es nicht weiter gehen. Und das sind unsere Partner, mit denen wollen wir kooperieren, die wollen wir unterstützen in ihren Anliegen, in ihren Bewegungen. Das ist unsere Aufgabe.

    Schröder: Längst werden ja auch Sie genannt, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht. Bodo Ramelow zum Beispiel, ein erklärter Realpolitiker, Fraktionschef in Thüringen, hat eine Parteispitze mit Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht ins Spiel gebracht. Viele Linke können sich Sahra Wagenknecht an der Spitze der Fraktion gemeinsam mit Gregor Gysi vorstellen. Was würden Sie lieber machen, Parteichefin oder Fraktionsvorsitzende?

    Wagenknecht: Also, weder das eine noch das andere werde ich jetzt vor dem Parteitag öffentlich diskutieren. Ich finde, es ist einfach eine Diskussion zur Unzeit.

    Schröder: Aber es wäre eine auch programmatische Aussage, wenn eine erklärte Vertreterin des marxistischen Flügels eine Spitzenposition einnehmen würde.

    Wagenknecht: Also, ich weiß es nicht, warum. Ich glaube, wenn ich mir das Programm angucke, ist das inhaltlich genau das, wozu ich auch politisch stehe. Und insoweit gibt es da, denke ich, überhaupt keine Probleme. Aber auf der anderen Seite, wie gesagt, ich finde die Debatte jetzt zur Unzeit, speziell so weit sie sich auf Parteivorsitz bezieht. Das steht überhaupt nicht zur Diskussion, und wir sollten jetzt mehr über unsere Inhalte diskutieren.

    Schröder: Warum ist es denn der Linkspartei bislang so wenig gelungen, sich als klare Alternative darzustellen, wie Sie das ja auch möchten, als antikapitalistische Partei, die hier für eine grundlegende Wende sorgen will. Das ist ja offenbar bislang noch nicht gelungen.

    Wagenknecht: Bislang kann man nicht sagen. Wir hatten immerhin 2009 ein wirklich hervorragendes Wahlergebnis. Also, das darf man ja auch nicht vergessen. Fast zwölf Prozent ...

    Schröder: Aber Sie haben jetzt eine Serie von Wahlniederlagen hinter sich.

    Wagenknecht: Ja, nur, weil Sie gesagt haben, noch nie. Also, die Linke ist bis 2009 auf einer Welle der Sympathie und des Aufstiegs geschwommen. Und nach 2009, das ist allerdings wahr, ist es für uns nicht so gelaufen, wie ich mir das auch gewünscht hätte. Und da muss man jetzt sehen, in welchen Punkten es tatsächlich kein 'weiter so' geben darf. Und das sind die internen Streitigkeiten, das ist das ständige Infragestellen unserer Position aus der Partei heraus, das ist das Stöckchenspringen über alle möglichen Themen, die uns aufgezwungen werden, die wir meines Erachtens nicht diskutieren müssen, weil sie überhaupt nicht brennend sind. Das sind alles Dinge, die sollten wir auch verändern. Und ich hoffe auch, dass wir sie verändern.

    Schröder: Aber ist nicht auch ein Problem, dass die Linkspartei nach wie vor eine Partei mit zwei Gesichtern ist: im Osten Volkspartei, die weit ins bürgerliche Lager hinein reicht, im Westen eine Nischenpartei, die da vielleicht auch mit radikalen Positionen punkten kann. Aber dieser Gegensatz, der sich dann auch in den Grabenkämpfen, in den Streitereien wieder bemerkbar macht zwischen Fundis, Realos, dieser Gegensatz, der letztlich auf ein Scheitern der Verschmelzung von WASG und PDS hinausläuft, dieser Gegensatz ist doch da.

    Wagenknecht: Nein, den sehe ich überhaupt nicht. Also, erstens stimmt das so pauschal nicht. Wir haben im Saarland mit über 20 Prozent deutlich bessere Werte als in manchem ostdeutschen Bundesland. Also, so Nischenpartei ist das ja nun im Westen auch nicht.

    Schröder: Ist das nicht eine Besonderheit, die auf die Person Oskar Lafontaine zurückzuführen ist?

    Wagenknecht: Sicherlich ist das unser bestes Ergebnis im Westen. Nur, wenn immer gesagt wird Ost gegen West stimmt das schon mal in der Frage nicht. Und das Zweite ist, wenn ich an der Basis unterwegs bin, sehe ich die Unterschiede überhaupt nicht so groß. Also, ich mache im Osten ja etwa ähnlich viele Veranstaltungen wie im Westen und auch solche Veranstaltungen, die mehr intern sind, wo wirklich nur die eigene Parteibasis kommt. Da gucken Sie sich unseren Programmentwurf an. Der ist jetzt ja wirklich von der großen Mehrheit in der Diskussion unterstützt worden. Also, wir haben anderthalb Jahre Diskussion geführt über den Programmentwurf. Wir haben sehr viele Präzisierungen, sehr viele inhaltliche Anregungen noch bekommen, aber es gab überhaupt nicht aus der Basis irgendwie eine vehemente – weder von Osten noch von West – das müsse jetzt ganz anders geschrieben werden, sondern die Grundlinie dieses Entwurfes ist ganz offensichtlich in Ost wie West von der Mitgliedschaft unterstützt worden in den vielen Zuschriften, die wir bekommen haben. Natürlich ist die Situation eine andere, ob ich zum Beispiel in.Rheinland-Pfalz in einer Situation bin, dass ich nicht mal im Landesparlament vertreten bin oder ob ich in Thüringen eben mit fast 30 Prozent im Rücken arbeite. Das sind natürlich schon große Unterschiede in den Arbeitsbedingungen.

    Schröder: Sich dann ja auch nicht nur in den Arbeitsbedingungen, sondern auch in der Strategie bemerkbar machen. Bodo Ramelow in Thüringen sagt, ich will mich nicht abgrenzen von den anderen, sondern ich will Politik machen, ich will hier regieren. Das heißt, ich muss mich nach Bündnispartnern umschauen. Die eher fundamentalistisch orientierte Politikerin Sahra Wagenknecht sagt, wir müssen uns abgrenzen, wir müssen Oppositionskurs fahren. Also wie passt das zusammen?

    Wagenknecht: Ja, das hat aber nichts mit Größe oder Kleinheit zu tun, sondern ich meine, wir müssen tatsächlich unsere authentischen Positionen vertreten. Wir haben überhaupt keinen Anlass, uns anzudienen bei SPD oder Grünen, die ja im Grunde diese ganze soziale Ungerechtigkeit, die wir im Lande haben, mindestens genau so zu verantworten haben wie CDU und FDP. Also, das darf man ja nicht vergessen. Die sind ja die Parteien, die die Agenda 2010 gestartet haben. Die FDP und die CDU haben es ja jetzt nur fortgesetzt. Sie sind auch die Parteien, die das erste Mal deutsche Soldaten in internationale Einsätze in Kriege geschickt haben. Das haben die anderen Parteien fortgesetzt, währenddessen wir als Linke einfach andere Positionen haben. Wir wollen keine Agenda 2010, wir wollen keine Rentenprivatisierung, wir wollen keinen Billiglohnsektor. Damit unterscheiden wir uns von allen anderen Parteien. Wir wollen auch keine Soldaten im Ausland.

    Schröder: Das heißt auch, dass die Regierungsbeteiligung, die Sie in Mecklenburg-Vorpommern, in Berlin hatten, die Sie jetzt noch in Brandenburg haben, das ist eigentlich der falsche Weg?

    Wagenknecht: Ich bin sehr dafür, dass man sich an Regierungen beteiligt beziehungsweise Regierungen stellt, wenn man stark genug ist, die eigenen Positionen durchzusetzen. Aber dafür muss man stark werden. Wenn man in einer Regierung sein Gesicht verliert, wenn man in einer Regierung am Ende Politik mitträgt, die sich gegen die eigenen Wähler richtet – das darf die Linke nicht tun, sondern die Linke muss gucken, sowohl in der Regierung als auch in der Opposition, wie können wir versuchen, ein Maximum für die Interessen der Menschen herauszuholen. Und das tun wir nicht, wenn wir uns verbiegen, wenn wir Dinge mittragen, wie das teilweise auch in der Vergangenheit in Berlin zum Beispiel geschehen ist, wo man Privatisierungen mitgetragen hat und anderes, das wird dann von den Menschen goutiert damit, dass sie sagen, wir sind von denen enttäuscht, die wählen wir nicht mehr. Das macht die Linke schwach und deswegen glaube ich, wir dürfen nie eine Politik machen, wo wir unsere Seele verkaufen, wo wir unsere Inhalte verkaufen. Denn die Leute wählen uns ja nicht als irgendeine Regierungspartei, sie wählen uns für Inhalte. Und für die Inhalte müssen wir dann auch kämpfen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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