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Wagnerwurschtelbude

In diesem Jahr ist es ruhig in Bayreuth. Christoph Schlingensief probte ungestört seinen Parsifal und fühlt sich trotzdem so wohl dabei, daß er auf jeden Fall auch ein drittes Jahr nach Bayreuth will, weil "mit Bildern und Bildwelten zu arbeiten, so etwas Tolles sei". Demut gegenüber dem Kunstwerk und den Künstlern habe er auch gelernt, kurz: man könnte glauben, ein anderer Schlingensief will der ewig adoleszenten Larve entschlüpfen. Die Bayreuther Aufführungen der vergangenen Tage in der Rückschau.

Von Holger Noltze |
    Christoph Marthalers "Tristan", die Neuproduktion dieses Bayreuther Festspieljahrgangs, hatte das Pech, zwischen zwei Ignoranz-Fronten zu geraten: die breite derer, für die der Blick in Anna Viebrocks Bühnen-Tristesse eine Zumutung und die zurückgenommene Personenregie ein Mangel an Leidenschaft war, für die man doch, immerhin steht "Tristan und Isolde" auf dem Programm, Eintritt bezahlt hatte. Zweitens der Ennui derer, für die die altbekannt melancholischen Marthalereien inzwischen ihren Zauber verloren haben. Genauer hingucken mochten weder die einen noch die andern.

    Der allgemeinen Vorstellung davon, "wie Oper geht", kam dann Keith Warners dunkelglänzender "Lohengrin" am Folgetag deutlich näher. Alles da: Ein gigantisches Bühnenbild, ein wirklicher Schwan, echte Kampf- und Massenszenen, der weltberühmte Bayreuther Chor (wenn auch etwa im ersten Finaltableau in einigem Durcheinander), ein richtig böses Weib Ortrud (die zu amorpher Tongebung neigende Linda Watson, die sich damit hoffentlich nicht als kommende Bayreuther Brünnhilde profilierte), vor allem aber ein Lohengrin mit Kraft und Schmelz.

    Peter Seifferts gesegnetes Lohengrin-Organ hatte man schon differenzierter gebraucht gehört; gleichwohl wurde er in diesem Jahr mehr denn je gefeiert; die stehenden Ovationen waren vielleicht auch eine Kompensation für die kalte Tristandusche der Eröffnung. Von der demonstrativen Woge der Zustimmung wurde dann auch gleich Seifferts Elsa Petra-Maria Schnitzer miterfasst, für eine allenfalls passable Leistung, sowie der Telramund von Hartmut Welker für ein definitiv indiskutables Belfern. Von Keith Warners ambitionierter Lohengrin-Deutung ist wenig mehr als das schicke Bühnenbild mit allerhand Maschinentricks übriggeblieben.

    Besonders nach Marthalers Grammatik der kleinen Gesten wirkte die grotesk überzeichnete Körpersprache in diesem Gerangel um Liebe, Identität, Politik und Gewalt nun manchmal unfreiwillig komisch, wie aus der Abstellkammer der Postmoderne. Und auch der neue Lohengrin-Dirigent Peter Schneider war zwar seinen Sängern ein hingebungsvoller Begleiter, ließ jedoch auch manches einfach ins Laute laufen. Dafür muss man nicht ins Festspielhaus, das diesen "Lohengrin" trotzdem in einer fröhlichen Selbstfeier des Provinzialismus noch einmal hochleben ließ.

    Tags darauf: Schwere Wetter: Mächtig lässt Marc Albrecht das Festspielorchester zum "Fliegenden Holländer" auffahren, und momentweise scheint es, als würden die Sturmfluten schier über den Graben schwappen. Auf die Länge wird allerdings mit (sozusagen) zuviel Pedal gespielt, auf rauer See gehen dann doch zuviel Noten unter, und auch hier läuft die Kommunikation mit den Chören bisweilen aus dem Ruder. Aber nicht das Orchester ist das Problem dieses dritten Premierenabends, es sind die Sänger. Jaakko Ryhänen als Daland und Jukka Rasilainen, der den kranken John Tomlinson als Holländer ersetzte, das Finnenpaar Jukka und Jaakko lieferten zuviel verkehrte und unterschlagene Töne und jedenfalls nicht Festspielniveau.

    Adrienne Duggers Senta: schwächer, ungenauer, wackliger als im Vorjahr. Endrik Wottrich, der nach dem Knatsch mit Schlingensief ausgestiegene Parsifal, singt jetzt Erik: eng und unfrei, kraftvoll in der Körpersprache, nicht in der Gestaltung. "Satan hat dich umgarnt!", das ist der Ausruf eines Verzweifelten, der gerade seine Geliebte verliert: Wottrich artikuliert hier wie nebenbei; - auf "wunderbar", was die Angsttraumerscheinung des gefürchteten Holländerschiffs meint, produziert er dagegen einen ganz unangemessenen "Zauber"-Ton.

    Dem Publikum war alles recht und egal, es winkte die Sänger freundlich durch und erregte sich stattdessen noch einmal über das Regie-Team. Dabei hat Claus Guths Inszenierung im dritten Jahr noch an Intensität gewonnen, er erzählt das Stück wie einen guten Psychothriller, spannend, effektvoll, auf Pointe. Eine Trauma-Geschichte aus Sentas Sicht, die den Vater und den fremden Mann überblendet: nicht neu, aber gut gemacht. Und zumindest darstellerisch stark agiert das Holländer-Ensemble. Christian Schmidts Bühne: ein Spuk- und Geisterzimmer, in dem die Bayreuther Licht- und Bühnentechnik zeigt, was sie alles kann, und das ist viel.

    Aber dass hier unter Einsatz von Kino-Effekten möglicherweise eine Missbrauchsgeschichte sich andeutet, das war den selbsternannten Wagner-Werktreuen im Parkett schon zuviel. Die Hysterie gegenüber allem, was als "modern", oder "Regie-Theater" identifiziert wird, wächst, bei gleichzeitig fortschreitender musikalischer Anspruchs- oder Ahnungslosigkeit. So wird Bayreuth zur Wagner-Wurschtelbude.

    Der Befund bestätigte sich gestern Abend, als Philippe Arlauds unbedarft naiver "Tannhäuser" beanstandungslos freundlich aufgenommen wurde. Vielleicht manifestiert solche Blindheit aber nur eine temporäre Schädigung der Sehnerven, ausgelöst durch die grellbunte Ausstattung. Wieder da: Teletubbies’ Blumenwiese, die gefrorenen Chorposen, der wie durch einen Bühnen-Gully ablaufende Pilgerchor, die per Bodenklappe entsorgte Liebesgöttin. Wieder wird das Un-Heilsgeschehen zwischen Venus und Maria-Elisabeth erzählt aus der Sicht des unglücklich Liebenden Wolfram, den Roman Trekel wieder mit einem Hang zum over-acting gibt. Neu aus der Werkstatt Bayreuth das jetzt intensivierte Busengegrapsche des Herrn Tannhäuser an Frau Venus im ersten Bild. Und der neue Landgraf Guido Jentjens scheint den vom rechten Pfad gekommenen Sänger von Anfang an skeptischer zu sehen. Das ist alles der Rede nicht wert und bloß Dekoration. Denn das Tannhäuserdrama spielt im Orchester; unter Christian Thielemann klingt es endlich wie befreit.

    Wie hier mit großen Schaufeln Emotion bewegt wird, ist Geschmacksache. Doch den instrumentalen Sog- und Stromverhältnissen kann man sich kaum entziehen. Gleich das Vorspiel ist eigentlich keins, sondern schon der Akt selber: hier geht es ganz zweifellos um Sex: schwelgerisch ausgekostet, mit aufreizenden Ritardandi zu immer neuen Höhepunkten. Wenn es sein muss, geht es aber auch heilig und piano. Traumhaft und ohne Fehl die Chöre. Ricarda Merbeth eine inzwischen zu einiger Wärme und Innigkeit fähige Elisabeth. Stephen Gould, wohl Bayreuths kommender Siegfried, mit viel Kraft und Potential und noch zuviel Deklamationssperenzchen. Und dann, inmitten aller sängerischen Erlösungs- und Staatsaktionen, zwei wunderbare Miniaturen: Robin Johannsens glasklarer "junger Hirt", und Clemens Biebers klangschön kultivierter Walther.