Dienstag, 23. April 2024

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Wahlen in Afghanistan
„Das Kalkül der Taliban ist leider aufgegangen“

Der ehemalige afghanische Außenminister, Rangin Dadfar Spanta, räumt ein, dass der Demokratisierungsprozess in seinem Heimatland "enorme Rückschläge" erlitten habe. Dennoch rechne er damit, dass der heutige Wahltag erfolgreich sein werde.

Rangin Dadfar Spanta im Gespräch mit Stephanie Rohde | 20.10.2018
    Rangin Dadfar Spanta, ehemaliger Außenminister Afghanistans
    Der ehemalige Außenminister Afghanistans, Rangin Dadfar Spanta, hofft auf Deutschland als Vermittler zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung (dpa/picture alliance/Marcel Mettelsiefen)
    Stephanie Rohde: Am Wahltag öffnen die Wahllokale. Das klingt banal, ist aber nicht überall selbstverständlich. In Afghanistan nämlich, da bleiben bei der Parlamentswahl heute wohl rund 2.000 Wahllokale geschlossen. Die Taliban hatten schon im Vorhinein mit Anschlägen gedroht, und das waren keine leeren Drohungen. Die Extremisten haben mindestens zehn Kandidaten in den vergangenen Wochen getötet. Am Donnerstag wurde dann noch ein hochrangiges Nato-Sicherheitstreffen in Kandahar angegriffen, weshalb die Abstimmung in der Provinz verschoben wurde. Auch deshalb schauen westliche Beobachter sehr skeptisch auf diese Wahl, die drei Jahre lang nicht stattfinden konnte. Am Wahlmorgen, so wurde gemeldet, gab es schon mehrere Explosionen.
    Was also kann man überhaupt erwarten von dieser Parlamentswahl in Afghanistan? Darüber konnte ich mit Rangin Dadfar Spanta sprechen, dem früheren afghanischen Außenminister und Sicherheitsberater des langjährigen Präsidenten Hamid Karzai. Wir haben Herrn Spanta vor der Sendung in Kabul erreicht, und ich wollte von ihm wissen, ob Afghanistan heute eine Wahl ohne Wähler erlebt.
    Rangin Spanta: Nein, das glaube ich nicht trotz aller Schwierigkeiten, dass wir heute in Afghanistan konfrontiert sind. Ich gehe davon aus, in vielen großen Städten und anderen Ortschaften, die viele, viele Wähler werden zu Wahlurnen gehen, und wir werden relativ, angesichts der afghanischen Verhältnisse, einen erfolgreichen Wahltag haben.
    Rohde: Die Städte sind ja im Vergleich ein bisschen sicherer geworden. Was ist denn mit den Leuten auf dem Land? Können die überhaupt wählen gehen oder ist das einfach zu unsicher?
    Spanta: Das kommt darauf an. Es gibt einige Ortschaften, die unter der Kontrolle der Taliban sind. Natürlich in diesen Ortschaften, insbesondere im Süden, und Einzelortschaften auch im Norden, wird es schwierig sein. Aber im Rest des Landes werden die Wahlen, ich gehe davon aus, erfolgreich stattfinden.
    Rohde: Aber, wie ich schon gesagt habe in der Einführung: Viele Wahllokale bleiben geschlossen, das steht fest. Was bringt denn so eine Wahl, wenn man schon weiß, manche Menschen können einfach gar nicht ihre Stimme abgeben?
    Spanta: Ich kann die Sache nicht schönreden. Natürlich, ein Drittel der Wahllokale sind geschlossen, aber zwei Drittel werden offen bleiben, und wir sind im Verzug. Das heißt drei Jahre, wie Sie ja in der Anmoderation angedeutet haben, haben die Wahlen nicht stattgefunden, und das ist das Recht der Wähler in Afghanistan, ihre Vertretungen zu wählen, und wir werden eine relativ gute Partizipation haben. Ich war auch ein Wahlskeptiker angesichts dieser Schwierigkeiten, die Sie angedeutet haben, aber wählen gehen ist auf jeden Fall besser als nicht wählen gehen.
    "Wir haben enorme Rückschläge erlitten"
    Rohde: Aber kann man nicht sagen, dass zumindest teilweise das Kalkül der Taliban aufgegangen ist, die zarten Ansätze von Demokratie in Afghanistan einfach wegzubomben und so eine Wahl massiv zu stören?
    Spanta: Leider muss ich hier zugeben, ja, so ist das. Wir sind nicht auf dem Erfolgskurs, wie wir in 2002 angefangen haben. In den letzten vier Jahren haben wir enorme Rückschläge erlitten, hinnehmen müssen, und das heißt, die Demokratisierungsprozesse in Afghanistan leider sind zum Teil rückgängig geworden.
    Rohde: Kann man dann auch sagen, ein Signal, was von dieser Wahl ausgeht, ist, dass die Demokratievorstellungen, die vor allem auch der Westen für Afghanistan hatte, einfach gescheitert sind?
    Spanta: Ich habe vor etwa drei Jahren angedeutet und auch in meinen Artikelveröffentlichungen auch geschrieben, dass das Projekt Afghanistan, wie wir es uns in 2002 oder beziehungsweise Ende 2001 in Bonn vorgestellt haben und später in internationalen Konferenzen, von Afghanistan eine blühende Demokratie zu machen, erwartungsgemäß ist nicht realisiert worden. Deswegen musste das Projekt enorm revidiert werden, und jetzt einer der Gründe, warum die Taliban sich im Vormarsch befinden innerhalb des Landes und auch international an Ansehen gewonnen haben und auch als Partner sogar von den Vereinigten Staaten von Amerika, als Gesprächspartner akzeptiert wurden, das alles deutet darauf hin, dass das ursprüngliche Projekt in Schwierigkeiten geraten ist.
    Rohde: Nur in Schwierigkeiten geraten oder auch gescheitert? Kann man sagen, der Westen ist mit seinen Demokratievorstellungen gescheitert und muss jetzt mit den Taliban verhandeln?
    Spanta: Als afghanischer Politiker bitte ich Sie, nicht von mir diese Erwartung zu haben, das so zu formulieren. Aber wie Sie das verstehen wollen, das überlasse ich Ihnen und Ihren Zuhörern, aber das Projekt ist nicht ein erfolgreiches Projekt, wie wir erwartet haben.
    "Wir müssen uns von ursprünglichen Erwartungen und Ideen verabschieden"
    Rohde: Und was bringt es, mit den Taliban zu verhandeln?
    Spanta: Eigentlich, wir müssen mit Taliban verhandeln. Diesen Krieg haben wir nicht gewonnen. Das heißt, Afghanen und auch Unterstützung von (Anmerkung d.Red.: nicht verständlich) – alle involvierten, realen Gruppierungen und auch entkolonisierter afghanischer Staat –, ich spreche nicht davon, dass wir gewinnen werden, sondern ich spreche davon, die Taliban werden militärisch nicht gewinnen. Wenn ich diesen Satz interpretieren dürfte, das bedeutet, ja, wir müssen von unseren ursprünglichen Erwartungen und Ideen Abschied nehmen.
    Rohde: Und was kann das bedeuten für das Parlament? Afghanistan ist ja keine Nation in dem Sinne geworden, sondern ein Gebilde aus verschiedenen Volksstämmen. Welche Gruppen könnten denn sehr viel Einfluss haben im zukünftigen Parlament und möglicherweise auch gegen die Taliban agieren?
    Spanta: Im Westen ist ein Bild von Afghanistan, ist ein Zerrbild von Afghanistan. Es existieren natürlich …, wir sind ein Vielvölker- oder multiethnische Nation, aber wir sind das einzige Land auch in dieser Region der Welt ohne jegliche separatistische Bewegung. Wir haben keine separatistische Bewegung. Die Konkurrenz findet zwischen Volksgruppen, anders als von (Anmerkung d.Red.: nicht verständlich) um Kabul statt, wer mehr Macht und Einfluss gewinnen kann, aber nicht sozusagen Konkurrenz, wie viele andere Länder, Selbstbestimmungsrecht zu haben oder ähnliches. So gesehen, ich gehe davon aus, wir werden ein Konglomerat von allen Volksgruppen und von jungen Leuten, die reformorientiert sind, und auch natürlich bedauerlicherweise von Kräften der Vergangenheit und von Warlords et cetera haben.
    Afghanistan als Spielball verschiedener Mächte
    Rohde: Aber wer könnte denn das Land überhaupt noch einen? Das ist ja sehr zerstritten.
    Spanta: Lassen Sie es mich so sagen, wir benötigen leider … in Afghanistan zwei Konsensus sind gebrochen. Einmal der Konsensus zwischen unterschiedlichen politischen Gruppierungen, was wir uns 2001 und drei Jahre später, in 2004, geeinigt haben, und das ist … jetzt findet leider mehr Konkurrenz in dieser Hinsicht statt, weil die zentrale Regierung so schwach ist und nicht das Land führen kann. Darüber hinaus, auch der internationale und regionale Konsensus zwischen Staaten … zum Beispiel am Anfang haben Russland, China, Iran, alle diese Länder an dem Wiederaufbau Afghanistans und die Staatsbildung Afghanistans mitgewirkt. Was heute stattfindet, ist mehr Konkurrenz und eine Art, ich würde nicht sagen so ganz, aber eine Erscheinung von einem stellvertretenden Krieg kann man hier in Afghanistan momentan konstatieren.
    Rohde: Das heißt, Afghanistan wird zum Spielball von verschiedenen Mächten in Ost und West.
    Spanta: Bedauerlicherweise so ist das, aber die Erwartung von afghanischen Politikern und vielen Politikern ist es, wir sollten uns zusammentun und diesen internationalen Konsensus, der in 2002 zustande gekommen war, wiederherstellen.
    Deutschland soll zwischen Taliban und afghanischer Regierung vermitteln
    Rohde: Und was erwarten Sie da von der deutschen Bundesregierung?
    Spanta: Die Bundesregierung ist an dem Wiederaufbau Afghanistans, in der Produktion der Staatsbildung Afghanistans involviert. Wenn Sie nach meinen Erwartungen fragen, ich würde sagen, man sollte viele Sachen mit Afghanen, unterschiedlichen afghanischen Machtzentren besser koordinieren.
    Rohde: Was heißt das konkret?
    Spanta: Und Deutschland – wenn Sie mir gestatten –, Deutschland hat in 2008 eine erfolgreiche Prozess, einen Gesprächsprozess zwischen Taliban und afghanischer Regierung damals angefangen, und das war sehr erfolgreich, aber leider später wurde das durch Einmischungen von anderen großen Staaten unterbrochen. In dieser Hinsicht, die Erwartungen hier in Kabul und bei der afghanischen Bevölkerung an Deutschland sind sehr hoch. Wir wünschen uns ein aktiveres Engagement am Friedensprozess Afghanistans.
    Rohde: Und was bedeutet das? Wir haben 1.300 deutsche Soldaten vor Ort. Reicht Ihnen das oder brauchen Sie mehr?
    Spanta: Nein, ich verlange nicht, dass man mehr Soldaten nach Afghanistan schickt. Meine Erwartung ist, dass man sich am Friedensprozess mehr beteiligt, sodass das ein Friedensprozess zwischen unterschiedlichen bewaffneten Gruppierungen … Mit anderen Worten, zwischen Taliban und afghanischer Regierung sollte zustande kommen.
    Rohde: Das heißt, Deutschland sollte vermitteln zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung.
    Spanta: Genau.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.