Ich teile Fortuyns politische Meinung zwar nicht, aber die Tatsache, dass in unserem Land ein Politiker erschossen wird, weil er Dinge sagt, die nicht jeder hören will, finde ich schockierend.
Auf den Strassen, wie hier in Rotterdam , in den Cafes und Kneipen diskutieren die Menschen umso engagierter, nachdem sie den ersten Schock und ihre Betroffenheit halbwegs überwunden haben.
Selten zuvor haben die Menschen in Holland so viel über Politik gesprochen. Selbst völlig unpolitische oder an Politik desinteressierte Menschen entdecken plötzlich, mitunter lautstark, was ihnen an dieser holländischen Gesellschaft nicht passt. Sie verlangen Abhilfe. Es war so, als hätte jemand die Käseglocke gesprengt, unter der man sich in den Niederlanden in den vergangenen 10 Jahren so gemütlich eingerichtet hatte.
Die Regierung hat uns eine Menge versprochen aber nichts getan für das Gesundheitssystem und die Bildung. Und gegen das Problem mit den Ausländern, die in unser Land kommen, wurde auch nichts unternommen.
Meine Tochter geht zur Schule und ich möchte, dass sie dort sicher ist. Ich sage ja nicht, dass die Ausländer an allem schuld sind aber ich will, dass meine Tochter in einer sicheren Umgebung aufwächst.
Ich fürchte mich nicht, aber meine Mutter fürchtet sich, zum Beispiel wenn sie zum Geldautomaten muss und dann bittet sie mich, mit ihr zu gehen.
Meine Eltern kommen aus Indonesien und ich bin hier geboren. Viele holländische Parteien haben Fortuyns Forderungen übernommen und geben sie jetzt als die ihren aus.
Die Schulen in Holland werden immer voller mit Ausländerkindern, die in bestimmten Gegenden konzentriert sind. Worauf es meiner Meinung nach ankommt, ist, dass die Schüler besser über die Stadt verteilt werden, damit sich die schlechten nicht so auf bestimmte Schulen konzentrieren, sondern höchstens zehn Prozent ausmachen. Außerdem ist es wichtig, dass die Lehrer mehr Zeit haben um die Kinder zu unterrichten. Wir müssen den Ausländern eine Zukunft in diesem Land ermöglichen.
Eigentlich läuft alles ganz gut in den Niederlanden. Die Leute sind überwiegend zufrieden, weil alles in Ordnung ist. Auf der anderen Seite - wenn Sie von hier aus ein paar Kilometer stadtauswärts gehen dann kommen Sie in Gegenden, da traut sich keiner mehr hin. Unsere Politiker haben sich nicht darum gekümmert, was die Leute wirklich beschäftigt.
Katalysator war jener schillernde Pim Fortuyn, der am späten Nachmittag, des 6.Mai von einem 32jährigen militanten Umwelt- und Tierschützer mit 6 Kugeln in Kopf, Hals und Brust auf dem Parkplatz der Hilversumer Medienzentrale niedergestreckt wurde.
Fortuyn war anders, als die kreuzbraven niederländischen Parteipolitiker. Dies erklärt, nach Ansicht von Professor Friso Wilenga, Direktor des Niederlande-Instituts in Münster, zu einem grossen Teil seinen Erfolg und seine Beliebtheit bei vielen Niederländern. Man sieht ja auch in anderen Ländern, dass die etabliertenm Parteien große Schwierigkeiten haben, die Probleme, gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen und dass die Wähler ihnen davonlaufen. In den Niederlanden kam hinzu, dass Pim Fortuyn sehr gut das Unbehagen, das in den Niederlanden vorhanden ist über die vollendete Konsensdemokratie zu formulieren, dass er dieses Unbehagen angesprochen und auch ausgenutzt hat und dass er ohne irgendwelche Rücksichten auf Parteitage, auf Hausmacht in eine Partei, er war sozusagen die Bewegung, konnte polarisieren in einer Zeit in der die Leute sich auch nach einer gewissen Polarisierung gesehnt haben.
Im Regierungsviertel von Den Haag kam es nach dem Attentat zu schweren Krawallen, zu Auseinandersetzungen zwischen Fortuyn-Anhängern und der Polizei. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Wim Kok ist vor vier Wochen wegen des Srebrenica-Massakers und der wenig gloriosen Rolle, die die holländischen Blauhelme, damals 1995 in Bosnien spielten, zurückgetreten: Auf Bitten der Königin führt er die Amtsgeschäfte seitdem kommissarisch. Kok wandte sich am Abend in einem flammenden Appell an die Bevölkerung:
Lasst und in Gottes Namen die Ruhe bewahren, auch in einer Zeit, in der man geneigt ist, wütend und böse zu sein. Aber Ruhe ist wahrscheinlich der beste Dienst, den wir in Wahrheit unserem Rechtsstaat, unserer Demokratie und dem Andenken von Pim Fortuyn erweisen können.
Schlimmer wäre es gekommen, hätte nicht ein weisser Niederländer den Anschlag verübt, sondern einer der vielen jungen Ausländer, denen Pim Fortuyn öffentlich bescheinigt hatte, sie würden in die holländische Gesellschaft nicht passen und seien überdies zu nichts nutze.
Der kometenhafte Aufstieg des 54jährigen Fortuyn begann mit dem Kommunalwahlkampf in Rotterdam. Mit Parolen wie "Das Boot ist voll" erzielte er dort auf Anhieb ein Drittel der Stimmen. Die holländische classe politique war konsterniert. Ein ehemaliger Soziologieprofessor, Bestseller-Autor, Kolumnist, bekennender Homosexueller, Schöngeist und Dandy, ein völliger Aussenseiter also, schickte sich an, die Macht in Europas grösster Hafenstadt zu erobern. Und nicht nur das: Fortuyn sah sich bereits als künftiger Ministerpräsident der Niederlande.
Wenn da steht, dass ich ein intellektueller Terrorist bin, dass ich eine Spur der Zerstörung durch das Land gezogen habe, dass ich einige Menschen geistig zusammengeschlagen habe, wenn das stimmt, habe ich dem Journalisten gesagt, dann müsste ich mit vielen Menschen enorm viel Streit gehabt haben. Nennen Sie mir Namen.
Dass es Fortuyn und seinen Leuten in Rotterdam leicht gefallen war, bei der Kommunalwahl im März einen so überwältigenden Wahlsieg davonzutragen, nimmt nicht wunder, in einer Stadt mit einem Ausländer- bzw. Einwanderanteil von rund 45 Prozent. Obwohl auch dort die "Integrationsmaschine", wie Han Entzinger von der Rotterdamer Erasmus-Universität die staatlichen Eingliederung-Programme nennt, weitgehend rund lief.
Jetzt muss ich sagen, dass die Stadt sehr viel für ein besseres Verständnis zwischen den Bevölkerungsgruppen getan hat, auch sehr viel im kulturellen Bereich, im Arbeitsmarkt und im Erziehungsbereich, auch für die Eingewanderten aber trotzdem sind große Teile der eingewanderten Bevölkerung in einer marginalen Lage. Sie nehmen noch nicht genug am politischen, sozialen und kulturellen Leben in der Stadt teil.
Dennoch: In Rotterdam, wo Pim Fortuyn lebte und seinen politischen Feldzug gegen Asylbewerber, angeblich nicht integrierbare Ausländer, vorzugsweise Muslime, Drogenabhängige und kleinkriminelle Jugendbanden begann, liegt vieles im Argen.
Rotterdam ist eine relativ arme Stadt. Auch die Mittelklassen haben in den letzten Jahrzehnten die Stadt verlassen und haben sich weiter von der Stadt weg etabliert. An ihrer Stelle sind eigentlich die Einwanderer eingewandert und man kann sich vorstellen, dass bei denjenigen, die zurückgeblieben sind, ein Gefühl entstand, dass sie vernachlässigt werden. Und wie wird es weitergehen?
Wie zuvor in Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen, wurde auch in den Niederlanden die Innere Sicherheit zum Wahlkampfthema Nummer 1. Und wie sein inzwischen zurückgetretener französischer Kollege und unterlegene Präsidentschaftskanidat Lionel Jospin hatte auch der sozialemokratische niederländische Ministerpäsident Wim Kok die Brisanz des Themas unterschätzt. Han Entzinger von der Rotterdamer Erasmus-Universität.
Das ist schon so, es gibt Delinquenz bei bestimmten Gruppen von eingewanderten Jugendlichen und das ist in bestimmten Vierteln ein wesentliches Problem, von dem die Eingewanderten selber natürlich am meisten zu fürchten haben, weil es in ihren Vierteln ist. Das Problem ist vielleicht noch ein bisschen stärker als in anderen europäischen Staaten, weil bis vor einigen Jahren ein allgemeines Gefühl war, man sollte die Eingewanderten nicht nur respektieren in ihrem Kulturhintergrund sondern sie auch darin bestätigen und das wurde dann manchmal falsch verstanden, auch von den Eingewanderten selber, dass sie sich nicht anpassen müssen.
Trotz seiner oft gehässigen und verletzenden Art war es ein Verdienst des Aussenseiters Pim Fortuyn, dass er in den politisch so überaus korrekten Niederlanden offen aussprach, was viele insgeheim dachten, meint Maxime Verhagen vom christlich-demokratischen Appell, der grössten Oppositionspartei der Niederlande. Für Verhagen hat das im Ausland oft als beispielgebend angeführte Multikulti-Modell der Niederlande nicht gehalten, was man sich davon versprach.
Wenn an sieht, dass so ein Zusammenleben eine Politik betrieben hat, wo man sich nicht an die Regeln hält, wo man akzeptiert, dass man nicht die holländische Sprache lehrt und holländische Regeln und Werte übertragen werden sondern jede Gruppe und jeder Einwanderer seine eigenen Regeln durchsetzen kann, dann wird das Zusammenleben auch extremer und aggressiver.
Zurück nach Rotterdam, der Stadt Pim Fortuyns. Er wird dort inzwischen zum Märtyrer verklärt. Fotomontagen zeigen ihn in direkter Nachfolge von Martin Luther King, John F. Kennedy und Malcolm X. Den Haag mit seinem Regierungssitz, nur eine halbe Autostunde von Rotterdam, ist weit weg, sagen die Leute.
Alle reden von Konsens, von Einmütigkeit. Seit Jahren haben wir nichts anderes als Konsens, aber keine öffentliche Debatte. Die Leute sagen, Herr Kok sitzt in seinem Büro und dort wird alles entschieden. Alles. Nichts geschieht öffentlich im Gespräch mit dem Bürger und auch nicht im Parlament sondern im Bürohochhaus von Herrn Kok.
Wir führen keinen Wahlkampf mehr, aber die Wahlen gibt es noch am 15.Mai, stellt der liberale Parlaments-Abgeordnete Hans van Baalen fest. Baalens Partei, die rechtsliberale VVD, gehört der Regierungskoaltion unter Ministerpräsident Kok an mit dessen Partei der Arbeit.
Jedermann in Holland debattiert jetzt über die Probleme, über den Mord: was bedeutet das? Und die Politiker debattieren nicht. Die Leute wollen eine öffentliche Debatte, keine Kompromisskultur hinter geschlossenen Türen. Und ich glaube, dass alle Politiker, der Opposition, der Regierungsparteien, sich Gedanken machen sollten: sind wir nicht zu unsichtbar gewesen? Ja, wir sind es gewesen.
In den traditionell konsensorientierten Niederlanden, mit seinem wenig diskussionsfreudigen Parlament, das die Probleme des Landes nur selten in offener Redeschlacht zu lösen sucht, macht sich Ratlosigkeit breit. Hat das sogenannte Poldermodell , diese Art "Bündnis für Arbeit" unter Einbeziehung der gesellschaftlich relevanten Gruppen, ausgedient? Führte das Poldermodell, das viele als gesellschaftspolitischen Waffenstillstand interpretieren, nicht auch zu einer Lähmung des öffentlichen Lebens? Zu kungelnden Politikern, die mit Gewerkschaftern und Unternehmern hinter verschlossen Türen nur immer alles arrangieren, wie Hans van Baalen von der konservativ-liberalen VVD beklagt?
Wir diskutieren nicht im richtigen Moment in der Öffentlichkeit. Wir sind ein kleines Land mit vielen Leuten. Wir sehen uns jeden Tag, es ist eine kleine Oberschicht, was bedeutet, dass wir zusammen weiter müssen. Wir müssen eine neue Koalition bilden, denn wir sind ein Koalitionsland. Das bedeutet, dass wir versuchen, nicht in der Öffentlichkeit zu diskutieren, aber es zu arrangieren, hinter geschlossenen Türen. Das haben wir seit 300, 400 Jahren gemacht und nicht ohne Erfolg. Aber die Leute sind besser entwickelt, sie wollen mehr Diskussionen und Debatten. Und unsere Politik - und das sehe ich auch im Spiegel - wir haben das zu spät begriffen
Auch bei Maxime Verhagen vom christlich-demokratischen Appell machen sich Zweifel breit, ob das Poldermodell den Wünschen und Bedürfnissen vieler Niederländer noch entspricht.
Ich glaube, dass die Konsensdemokratie, die wir in Holland kennen, die Kompromissbereitschaft im Polder-Modell für viele dazu beigetragen hat, dass Pim Fortuyn eine Alternative war. Wenn man die Weise anschaut, wie er sich in der Politik positioniert und dargestellt hat, war das das Gegenteil vom Konsens. Für viele Leute ist die Konsenspolitik etwas schwierig und nicht ganz klar. Ich glaube dass das Gefühl auch Konsequenzen haben wird für die Zukunft unserer Politik.
Das politische und ökonomische Konsensmodell hat für Friso Wilenga, Direktor des Niederlande-Instituts an der Universität Münster im Laufe der Jahre zu Politikverdrossenheit geführt. Dass in den Niederlanden in den letzten Jahren jeder mit jedem koalieren konnte, die Unterschiede zwischen den Parteien unheimlich gering geworden sind, in dieser vollendeten Konsensdemokratie hatten die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, es ist alles das gleiche, was sie wählen. Es ist eine entpolitisierte Situation entstanden, die wachgerüttelt werden musste.
Die Meinungs-Befragungs-Institute tun sich schwer damit, den "Fortuyn-Faktor" zu bewerten. Pim Fortuyn ist zwar tot, steht aber nach wie vor als Spitzenkandidat seiner LPF auf den Stimmzetteln.
Ich glaube schon, dass nach so etwas wie dem Attentat viele Leute rechts wählen.
… glaubt der Rotterdamer Zeitungs-Journalist Peter de Lange. Und ebenso Friso Wilenga vom Niederlande–Institut der Uni Münster:
Ich kann mir vorstellen, dass sehr viele Pim Fortuyn doch noch wählen werden, das Kreuzchen bei seinem Namen machen werden.
Die Partei der Arbeit erhielt 1998 29 Prozent der Stimmen. Ihr wird am 15. Mai ein dramatischer Einbruch vorhergesagt. Die Christdemokraten machen sich Hoffnung, den Regierungschef zu stellen. Sie können allerdings nur dann mit einen massiven Stimmenzuwachs rechnen, wenn weniger Niederländer für die Liste Pim Fortuyn stimmen, wie vor dem Attentat am 6.Mai vorhergesagt. Vor seiner Ermordung hieß es, Fortuyn habe gute Chancen mit seiner Liste zur drittstärksten , wenn nicht gar zweitstärksten Kraft im niederländischen Parlament zu werden. Maxime Verhagen geht schon mal die möglichen Koalitions-Kombinationen für seine Partei, den CDA, durch. Denn schließlich waren, sind und bleiben die Niederlande ein Land der Koaltionen. Wenn man die Umfragen anschaut, kann eine Koalition von den Sozialdemokraten und den Grünen zusammen mit den Christdemokraten kommen. Von der Liste Fortuyn, Liberalen und Christdemokraten vielleicht auch, noch eine Möglichkeit: Christdemokraten, Liberale und Sozialliberale.
Ungeachtet seiner Kritik an der ausschliesslich auf Konsens gerichteten Politik des amtierenden Ministerpräsidenten Wim Kok mahnt der rechtsliberale Abgeordnete Hans van Baalen zu Besonnenheit. Etwas anders als einen kühlen Kopf könnten und sollten sich die Niederlande in der augenblicklichen Situation ohnehin nicht leisten.
Was passiert ist, ist ein schreckliches Attentat. Das gibt jetzt natürlich Gefühle, Leute wissen nicht was zu sagen, was zu machen, es gibt eine Art von Politikverdrossenheit. Aber das Land hat sich nicht geädert. Ja, für eine kurze Weile natürlich. Wir müssen realistisch bleiben.
Link: Wahlen in den Niederlanden
Auf den Strassen, wie hier in Rotterdam , in den Cafes und Kneipen diskutieren die Menschen umso engagierter, nachdem sie den ersten Schock und ihre Betroffenheit halbwegs überwunden haben.
Selten zuvor haben die Menschen in Holland so viel über Politik gesprochen. Selbst völlig unpolitische oder an Politik desinteressierte Menschen entdecken plötzlich, mitunter lautstark, was ihnen an dieser holländischen Gesellschaft nicht passt. Sie verlangen Abhilfe. Es war so, als hätte jemand die Käseglocke gesprengt, unter der man sich in den Niederlanden in den vergangenen 10 Jahren so gemütlich eingerichtet hatte.
Die Regierung hat uns eine Menge versprochen aber nichts getan für das Gesundheitssystem und die Bildung. Und gegen das Problem mit den Ausländern, die in unser Land kommen, wurde auch nichts unternommen.
Meine Tochter geht zur Schule und ich möchte, dass sie dort sicher ist. Ich sage ja nicht, dass die Ausländer an allem schuld sind aber ich will, dass meine Tochter in einer sicheren Umgebung aufwächst.
Ich fürchte mich nicht, aber meine Mutter fürchtet sich, zum Beispiel wenn sie zum Geldautomaten muss und dann bittet sie mich, mit ihr zu gehen.
Meine Eltern kommen aus Indonesien und ich bin hier geboren. Viele holländische Parteien haben Fortuyns Forderungen übernommen und geben sie jetzt als die ihren aus.
Die Schulen in Holland werden immer voller mit Ausländerkindern, die in bestimmten Gegenden konzentriert sind. Worauf es meiner Meinung nach ankommt, ist, dass die Schüler besser über die Stadt verteilt werden, damit sich die schlechten nicht so auf bestimmte Schulen konzentrieren, sondern höchstens zehn Prozent ausmachen. Außerdem ist es wichtig, dass die Lehrer mehr Zeit haben um die Kinder zu unterrichten. Wir müssen den Ausländern eine Zukunft in diesem Land ermöglichen.
Eigentlich läuft alles ganz gut in den Niederlanden. Die Leute sind überwiegend zufrieden, weil alles in Ordnung ist. Auf der anderen Seite - wenn Sie von hier aus ein paar Kilometer stadtauswärts gehen dann kommen Sie in Gegenden, da traut sich keiner mehr hin. Unsere Politiker haben sich nicht darum gekümmert, was die Leute wirklich beschäftigt.
Katalysator war jener schillernde Pim Fortuyn, der am späten Nachmittag, des 6.Mai von einem 32jährigen militanten Umwelt- und Tierschützer mit 6 Kugeln in Kopf, Hals und Brust auf dem Parkplatz der Hilversumer Medienzentrale niedergestreckt wurde.
Fortuyn war anders, als die kreuzbraven niederländischen Parteipolitiker. Dies erklärt, nach Ansicht von Professor Friso Wilenga, Direktor des Niederlande-Instituts in Münster, zu einem grossen Teil seinen Erfolg und seine Beliebtheit bei vielen Niederländern. Man sieht ja auch in anderen Ländern, dass die etabliertenm Parteien große Schwierigkeiten haben, die Probleme, gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen und dass die Wähler ihnen davonlaufen. In den Niederlanden kam hinzu, dass Pim Fortuyn sehr gut das Unbehagen, das in den Niederlanden vorhanden ist über die vollendete Konsensdemokratie zu formulieren, dass er dieses Unbehagen angesprochen und auch ausgenutzt hat und dass er ohne irgendwelche Rücksichten auf Parteitage, auf Hausmacht in eine Partei, er war sozusagen die Bewegung, konnte polarisieren in einer Zeit in der die Leute sich auch nach einer gewissen Polarisierung gesehnt haben.
Im Regierungsviertel von Den Haag kam es nach dem Attentat zu schweren Krawallen, zu Auseinandersetzungen zwischen Fortuyn-Anhängern und der Polizei. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Wim Kok ist vor vier Wochen wegen des Srebrenica-Massakers und der wenig gloriosen Rolle, die die holländischen Blauhelme, damals 1995 in Bosnien spielten, zurückgetreten: Auf Bitten der Königin führt er die Amtsgeschäfte seitdem kommissarisch. Kok wandte sich am Abend in einem flammenden Appell an die Bevölkerung:
Lasst und in Gottes Namen die Ruhe bewahren, auch in einer Zeit, in der man geneigt ist, wütend und böse zu sein. Aber Ruhe ist wahrscheinlich der beste Dienst, den wir in Wahrheit unserem Rechtsstaat, unserer Demokratie und dem Andenken von Pim Fortuyn erweisen können.
Schlimmer wäre es gekommen, hätte nicht ein weisser Niederländer den Anschlag verübt, sondern einer der vielen jungen Ausländer, denen Pim Fortuyn öffentlich bescheinigt hatte, sie würden in die holländische Gesellschaft nicht passen und seien überdies zu nichts nutze.
Der kometenhafte Aufstieg des 54jährigen Fortuyn begann mit dem Kommunalwahlkampf in Rotterdam. Mit Parolen wie "Das Boot ist voll" erzielte er dort auf Anhieb ein Drittel der Stimmen. Die holländische classe politique war konsterniert. Ein ehemaliger Soziologieprofessor, Bestseller-Autor, Kolumnist, bekennender Homosexueller, Schöngeist und Dandy, ein völliger Aussenseiter also, schickte sich an, die Macht in Europas grösster Hafenstadt zu erobern. Und nicht nur das: Fortuyn sah sich bereits als künftiger Ministerpräsident der Niederlande.
Wenn da steht, dass ich ein intellektueller Terrorist bin, dass ich eine Spur der Zerstörung durch das Land gezogen habe, dass ich einige Menschen geistig zusammengeschlagen habe, wenn das stimmt, habe ich dem Journalisten gesagt, dann müsste ich mit vielen Menschen enorm viel Streit gehabt haben. Nennen Sie mir Namen.
Dass es Fortuyn und seinen Leuten in Rotterdam leicht gefallen war, bei der Kommunalwahl im März einen so überwältigenden Wahlsieg davonzutragen, nimmt nicht wunder, in einer Stadt mit einem Ausländer- bzw. Einwanderanteil von rund 45 Prozent. Obwohl auch dort die "Integrationsmaschine", wie Han Entzinger von der Rotterdamer Erasmus-Universität die staatlichen Eingliederung-Programme nennt, weitgehend rund lief.
Jetzt muss ich sagen, dass die Stadt sehr viel für ein besseres Verständnis zwischen den Bevölkerungsgruppen getan hat, auch sehr viel im kulturellen Bereich, im Arbeitsmarkt und im Erziehungsbereich, auch für die Eingewanderten aber trotzdem sind große Teile der eingewanderten Bevölkerung in einer marginalen Lage. Sie nehmen noch nicht genug am politischen, sozialen und kulturellen Leben in der Stadt teil.
Dennoch: In Rotterdam, wo Pim Fortuyn lebte und seinen politischen Feldzug gegen Asylbewerber, angeblich nicht integrierbare Ausländer, vorzugsweise Muslime, Drogenabhängige und kleinkriminelle Jugendbanden begann, liegt vieles im Argen.
Rotterdam ist eine relativ arme Stadt. Auch die Mittelklassen haben in den letzten Jahrzehnten die Stadt verlassen und haben sich weiter von der Stadt weg etabliert. An ihrer Stelle sind eigentlich die Einwanderer eingewandert und man kann sich vorstellen, dass bei denjenigen, die zurückgeblieben sind, ein Gefühl entstand, dass sie vernachlässigt werden. Und wie wird es weitergehen?
Wie zuvor in Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen, wurde auch in den Niederlanden die Innere Sicherheit zum Wahlkampfthema Nummer 1. Und wie sein inzwischen zurückgetretener französischer Kollege und unterlegene Präsidentschaftskanidat Lionel Jospin hatte auch der sozialemokratische niederländische Ministerpäsident Wim Kok die Brisanz des Themas unterschätzt. Han Entzinger von der Rotterdamer Erasmus-Universität.
Das ist schon so, es gibt Delinquenz bei bestimmten Gruppen von eingewanderten Jugendlichen und das ist in bestimmten Vierteln ein wesentliches Problem, von dem die Eingewanderten selber natürlich am meisten zu fürchten haben, weil es in ihren Vierteln ist. Das Problem ist vielleicht noch ein bisschen stärker als in anderen europäischen Staaten, weil bis vor einigen Jahren ein allgemeines Gefühl war, man sollte die Eingewanderten nicht nur respektieren in ihrem Kulturhintergrund sondern sie auch darin bestätigen und das wurde dann manchmal falsch verstanden, auch von den Eingewanderten selber, dass sie sich nicht anpassen müssen.
Trotz seiner oft gehässigen und verletzenden Art war es ein Verdienst des Aussenseiters Pim Fortuyn, dass er in den politisch so überaus korrekten Niederlanden offen aussprach, was viele insgeheim dachten, meint Maxime Verhagen vom christlich-demokratischen Appell, der grössten Oppositionspartei der Niederlande. Für Verhagen hat das im Ausland oft als beispielgebend angeführte Multikulti-Modell der Niederlande nicht gehalten, was man sich davon versprach.
Wenn an sieht, dass so ein Zusammenleben eine Politik betrieben hat, wo man sich nicht an die Regeln hält, wo man akzeptiert, dass man nicht die holländische Sprache lehrt und holländische Regeln und Werte übertragen werden sondern jede Gruppe und jeder Einwanderer seine eigenen Regeln durchsetzen kann, dann wird das Zusammenleben auch extremer und aggressiver.
Zurück nach Rotterdam, der Stadt Pim Fortuyns. Er wird dort inzwischen zum Märtyrer verklärt. Fotomontagen zeigen ihn in direkter Nachfolge von Martin Luther King, John F. Kennedy und Malcolm X. Den Haag mit seinem Regierungssitz, nur eine halbe Autostunde von Rotterdam, ist weit weg, sagen die Leute.
Alle reden von Konsens, von Einmütigkeit. Seit Jahren haben wir nichts anderes als Konsens, aber keine öffentliche Debatte. Die Leute sagen, Herr Kok sitzt in seinem Büro und dort wird alles entschieden. Alles. Nichts geschieht öffentlich im Gespräch mit dem Bürger und auch nicht im Parlament sondern im Bürohochhaus von Herrn Kok.
Wir führen keinen Wahlkampf mehr, aber die Wahlen gibt es noch am 15.Mai, stellt der liberale Parlaments-Abgeordnete Hans van Baalen fest. Baalens Partei, die rechtsliberale VVD, gehört der Regierungskoaltion unter Ministerpräsident Kok an mit dessen Partei der Arbeit.
Jedermann in Holland debattiert jetzt über die Probleme, über den Mord: was bedeutet das? Und die Politiker debattieren nicht. Die Leute wollen eine öffentliche Debatte, keine Kompromisskultur hinter geschlossenen Türen. Und ich glaube, dass alle Politiker, der Opposition, der Regierungsparteien, sich Gedanken machen sollten: sind wir nicht zu unsichtbar gewesen? Ja, wir sind es gewesen.
In den traditionell konsensorientierten Niederlanden, mit seinem wenig diskussionsfreudigen Parlament, das die Probleme des Landes nur selten in offener Redeschlacht zu lösen sucht, macht sich Ratlosigkeit breit. Hat das sogenannte Poldermodell , diese Art "Bündnis für Arbeit" unter Einbeziehung der gesellschaftlich relevanten Gruppen, ausgedient? Führte das Poldermodell, das viele als gesellschaftspolitischen Waffenstillstand interpretieren, nicht auch zu einer Lähmung des öffentlichen Lebens? Zu kungelnden Politikern, die mit Gewerkschaftern und Unternehmern hinter verschlossen Türen nur immer alles arrangieren, wie Hans van Baalen von der konservativ-liberalen VVD beklagt?
Wir diskutieren nicht im richtigen Moment in der Öffentlichkeit. Wir sind ein kleines Land mit vielen Leuten. Wir sehen uns jeden Tag, es ist eine kleine Oberschicht, was bedeutet, dass wir zusammen weiter müssen. Wir müssen eine neue Koalition bilden, denn wir sind ein Koalitionsland. Das bedeutet, dass wir versuchen, nicht in der Öffentlichkeit zu diskutieren, aber es zu arrangieren, hinter geschlossenen Türen. Das haben wir seit 300, 400 Jahren gemacht und nicht ohne Erfolg. Aber die Leute sind besser entwickelt, sie wollen mehr Diskussionen und Debatten. Und unsere Politik - und das sehe ich auch im Spiegel - wir haben das zu spät begriffen
Auch bei Maxime Verhagen vom christlich-demokratischen Appell machen sich Zweifel breit, ob das Poldermodell den Wünschen und Bedürfnissen vieler Niederländer noch entspricht.
Ich glaube, dass die Konsensdemokratie, die wir in Holland kennen, die Kompromissbereitschaft im Polder-Modell für viele dazu beigetragen hat, dass Pim Fortuyn eine Alternative war. Wenn man die Weise anschaut, wie er sich in der Politik positioniert und dargestellt hat, war das das Gegenteil vom Konsens. Für viele Leute ist die Konsenspolitik etwas schwierig und nicht ganz klar. Ich glaube dass das Gefühl auch Konsequenzen haben wird für die Zukunft unserer Politik.
Das politische und ökonomische Konsensmodell hat für Friso Wilenga, Direktor des Niederlande-Instituts an der Universität Münster im Laufe der Jahre zu Politikverdrossenheit geführt. Dass in den Niederlanden in den letzten Jahren jeder mit jedem koalieren konnte, die Unterschiede zwischen den Parteien unheimlich gering geworden sind, in dieser vollendeten Konsensdemokratie hatten die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, es ist alles das gleiche, was sie wählen. Es ist eine entpolitisierte Situation entstanden, die wachgerüttelt werden musste.
Die Meinungs-Befragungs-Institute tun sich schwer damit, den "Fortuyn-Faktor" zu bewerten. Pim Fortuyn ist zwar tot, steht aber nach wie vor als Spitzenkandidat seiner LPF auf den Stimmzetteln.
Ich glaube schon, dass nach so etwas wie dem Attentat viele Leute rechts wählen.
… glaubt der Rotterdamer Zeitungs-Journalist Peter de Lange. Und ebenso Friso Wilenga vom Niederlande–Institut der Uni Münster:
Ich kann mir vorstellen, dass sehr viele Pim Fortuyn doch noch wählen werden, das Kreuzchen bei seinem Namen machen werden.
Die Partei der Arbeit erhielt 1998 29 Prozent der Stimmen. Ihr wird am 15. Mai ein dramatischer Einbruch vorhergesagt. Die Christdemokraten machen sich Hoffnung, den Regierungschef zu stellen. Sie können allerdings nur dann mit einen massiven Stimmenzuwachs rechnen, wenn weniger Niederländer für die Liste Pim Fortuyn stimmen, wie vor dem Attentat am 6.Mai vorhergesagt. Vor seiner Ermordung hieß es, Fortuyn habe gute Chancen mit seiner Liste zur drittstärksten , wenn nicht gar zweitstärksten Kraft im niederländischen Parlament zu werden. Maxime Verhagen geht schon mal die möglichen Koalitions-Kombinationen für seine Partei, den CDA, durch. Denn schließlich waren, sind und bleiben die Niederlande ein Land der Koaltionen. Wenn man die Umfragen anschaut, kann eine Koalition von den Sozialdemokraten und den Grünen zusammen mit den Christdemokraten kommen. Von der Liste Fortuyn, Liberalen und Christdemokraten vielleicht auch, noch eine Möglichkeit: Christdemokraten, Liberale und Sozialliberale.
Ungeachtet seiner Kritik an der ausschliesslich auf Konsens gerichteten Politik des amtierenden Ministerpräsidenten Wim Kok mahnt der rechtsliberale Abgeordnete Hans van Baalen zu Besonnenheit. Etwas anders als einen kühlen Kopf könnten und sollten sich die Niederlande in der augenblicklichen Situation ohnehin nicht leisten.
Was passiert ist, ist ein schreckliches Attentat. Das gibt jetzt natürlich Gefühle, Leute wissen nicht was zu sagen, was zu machen, es gibt eine Art von Politikverdrossenheit. Aber das Land hat sich nicht geädert. Ja, für eine kurze Weile natürlich. Wir müssen realistisch bleiben.
Link: Wahlen in den Niederlanden