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Wahlergebnis in Indien
Der Sieg eines Mythos

Der bisherige indische Premierminister Narendra Modi ist wiedergewählt - und damit auch der hinter seiner Politik stehende Denkschule Hindutva. Was als "Hindutum" etikettiert wird, ist vor allem eine politische Ideologie.

Benedikt Schulz im Gespräch mit Susanne Fritz | 23.05.2019
    Amit Shah, Parteipräsident der Bharatiya Janata Party (BJP), bei einer Werbetour in Kolkata
    Amit Shah, Parteipräsident der Bharatiya Janata Party (BJP), bei einer Werbetour in Kolkata (dpa / picture alliance / NurPhoto)
    Die größte Demokratie der Welt hat gewählt. Premierminister Narendra Modi kann sich auf weitere fünf Jahre im Amt einstellen. Modi und seiner BJP wird allerdings vorgeworfen, das Land in den vergangenen Jahren tief gespalten zu haben, entlang religiöser Grenzen, vor allem zwischen den Hindus und den zrika 180 Millionen Muslimen, die im Land leben. Die BJP gilt als radikal religiöse nationalistische Partei, die dahinter stehende Denkschule heißt Hindutva. Warum erzeugt dieser Religionsnationalismus so große Sogkraft? Der DLF-Journalist Benedikt Schulz hat sich mehrfach mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und die jüngste Wahl zeitweise in Indien verfolgt.
    Der Name Hindutva, zu deutsch Hindutum, suggeriere eine religiöse Motivation, sagt er. Doch es sei vor allem eine politische Ideologie, die mit den Nationalismus-Bewegungen in Europa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandt sei. Hindutva trage deutlich völkische Züge und sei voll von politischer Mythenbildung.
    Wie andere Nationalismen auch zielt Hindutva einerseits auf Gemeinschaftsbildung, auf ein "Wir", das aber auch ein "Die anderen" benötigt, also auf Abgrenzung. Schulz: "Hindu, und das bedeutet in diesem Sinne ein vollwertiger Bewohner des indischen Subkontinents, ist jemand, für den Indien Vaterland, Pitrabhoomi, und zugleich Punyabhoomi, heiliges Land ist", erläuert Schulz. Die Religion, der Hinduismus, sei zwar ein verbindendes, gemeinschaftsstiftende Element, aber eher in dem Sinne, dass man einem Kulturkreis angehöre, vergleichbar mit einer vermeintlichen "christlichen Leitkultur".
    Abgrenzung vor allem gegenüber Muslimen
    "Für Hindu-Nationalisten gehören alle landfremden Religionen eben nicht dazu, also Christen, Juden und vor allem Muslime. Und es ist ganz klar: Die Abgrenzung richtet sich vor allem gegen die Muslime. Muslime werden Stück für Stück als Feind des Hinduismus dargestellt, als Bedrohung, die durch ihre enormen Geburtenraten die Hindus in naher Zukunft zur Minderheit im eigenen Land machen könnten." Anders dagegen Buddhisten, Sikhs, Parsen.
    Schulz räumt ein: "Was ich beschreibe, das ist holzschnittartig und gilt natürlich nicht in Reinform und vor allem in einem so großen, vielfältigen Land nicht überall. Wichtig ist aber: das Fundament auf dem diese politische Ideologie aufbaut ist Religion. Aber mit dem Wesen dieser konkreten Religion hat es eher wenig zu tun." Denn der Hinduismus kenne zahllose, tausende Gottheiten, und auch die über sehr lange Zeiträume entstandenen Schriften legen sozusagen die Idee einer starren, fundamentalistischen Religion überhaupt nicht nahe.
    Die Hindutva ignoriere diese "göttliche, oder theologische Diversität". Bestimmte Schriften würden nachträglich kanonisiert, bestimmte Götter, vor allem Ram in ihrer Bedeutung erhöht. Radikale Hindus ließen sich zum Beispiel dazu hinreißen, eine Moschee dem Erdboden gleich zu machen, weil an Ort und Stelle vor Jahrhunderten mal ein Ram-Tempel gestanden haben soll.
    Die Macht des Kastenwesens
    Auf die Frage, warum so viele Inder im 21. Jahrhundert für den Kulturnationalismus so empfänglich seien, antwortete Schulz: "Zunächst muss man sagen, dass der Erfolg der BJP auch mit der charismatischen Person Modi zu tun hat und mit einer strukturellen Schwäche der wichtigsten Oppositionspartei. Um zu verstehen, warum dieser Nationalismus immer noch wirkt, muss man auf die Geschichte der indischen Republik schauen. Indien als Staat ist ein Konstrukt, das der kolonialen Geschichte geschuldet ist. Dessen 900 Millionen Einwohner haben mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, fast 30 Bundesstaaten, ähnlich viele Amtssprachen.
    Was hält dieses Land eigentlich zusammen? Das ist die Frage, die implizit die Geschichte Indiens seit der Unabhängigkeit bestimmt. Und die Antwort, die Menschen wie Gandhi und Jawarhalal Nehru gegeben haben ist das: Eine freie Gesellschaft, die jedem die gleichen Rechte und Chancen einräumt, egal, welcher Religion, Geschlecht, welcher Kaste jemand angehört. Aber in dieser Hinsicht ist der indische Staat ein Versprechen, das seit rund 70 Jahren nicht eingelöst wurde. Vor allem das Kastenwesen, obwohl längst gesetzlich aufgehoben, bestimmt den sozialen Alltag bis ins Detail. Die Hindunationalisten geben nicht erst in diesen Tagen, sondern schon seit rund 100 Jahren, als diese Ideologie erstmals unter dem Namen Hindutva formuliert wurde, eben die Antwort: Indien den Hindus."