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Wahlkampf in Zeiten der Grippe

In Osteuropa hat die Grippewelle fast ein ganzes Land lahmgelegt. Schulen, Kindergärten und Universitäten sind in der Ukraine geschlossen, Massenveranstaltungen abgesagt. Dabei soll am 17. Januar ein neuer Präsident gewählt werden.

Von Clemens Hoffmann |
    Ein Flugzeug mit 200.000 Packungen des Grippemittels Tamiflu an Bord ist im westukrainischen Lemberg gelandet. Und nicht nur das Fernsehen ist dabei, sondern auch Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die beim Ausladen öffentlichkeitswirksam mit anpackt.

    Timoschenko präsentiert sich in der am stärksten von der Grippe betroffenen Region als entschlossene Krisenmanagerin. Und auch ihr stärkster Widersacher im Kampf ums Präsidentenamt, Oppositionschef Viktor Janukowitsch, hat die Angst seiner Landsleute vor der Grippe längst als Werbeinstrument in eigener Sache entdeckt. In Winniza übergab der Vorsitzende der "Partei der Regionen" 30.000 Atemschutzmasken an das Rote Kreuz.

    "Es ist an uns, den Beitrag zu leisten, den wir leisten können. Auch die anderen Kandidaten sind verpflichtet das zu machen - und kein Geld für den Wahlkampf auszugeben. Die Leute wissen schon heute, für wen sie stimmen werden. Das Geld sollte man lieber als Hilfe für die Menschen ausgeben."
    Der amtierende Präsident Viktor Juschtschenko, der nach Umfragen kaum noch Chancen auf eine Wiederwahl hat, poltert im Fernsehen gegen seine Intimfeindin: Angesichts der Grippeepidemie agiere die Regierungschefin Timoschenko hilflos, viel zu spät habe sie auf Warnungen reagiert:

    "Warum waren die Grippezentren nicht vorbereitet? Es gibt keine Labors, keine Statistik, keine Koordination, keine Ausrüstung. Es läuft nur PR."

    Wahlkampf in Zeiten der Grippe. Ein zynisches Spiel mit der Verunsicherung der Menschen. Inhaltliche Auseinandersetzungen - Fehlanzeige. Stattdessen begann die heiße Phase mit einer Schlammschlacht um Pädophilievorwürfe gegen Parlamentsabgeordnete. Außenpolitisch bemerkenswert: Das Streitthema NATO wird inzwischen von allen Kandidaten gemieden. Denn die Frage der Annäherung an das Bündnis spaltet die Ukrainer zutiefst. Timoschenko sieht die Zukunft ihres Landes eindeutig in Europa. Kürzlich deutete sie aber an, dass ihr Land dafür erst noch Vorleistungen erbringen müsse. Regionen-Kandidat Janukowitsch dagegen betont die Notwenigkeit stabiler Beziehungen zu Russland. Mit der EU wolle man Verbindungen zum gegenseitigen Vorteil. Kyril Savin leitet das Kiewer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und ahnt, was darunter zu verstehen ist.

    "Aus meiner Sicht lese ich zwischen den Zeilen eine Schaukelpolitik bei Janukowitsch, das heißt, wir sagen direkt nicht 'nein', aber haben das im Hinterkopf und spielen 'Katz und Maus' zwischen Moskau und Brüssel und versuchen Vorteile zu kriegen auf beiden Seiten."

    Unterdessen droht - wie jeden Winter - neuer Streit mit Moskau um offene Gasrechnungen. Der staatliche Gasversorger Naftogas ist pleite, die Regierung müsste dringend frisches Geld auftreiben. Doch die ist abgelenkt durch Wahlkampf und Grippe. Kyril Savin von der Böll-Stiftung:

    "Bis jetzt hat man diese Zahlungen an Gazprom finanziert durch Kredite der Sparkasse: Das Geld wurde gedruckt und die staatliche Sparkasse hat das Geld bekommen und als Kredit an Naftogas weitergegeben und damit wurde auch die russische Rechnung bezahlt. Je näher das Jahresende rückt, desto weniger gibt es diese Möglichkeit, weil der Staatshaushalt ein Riesendefizit hat, was noch überhaupt nicht abgedeckt ist. Das heißt, je näher der 31.12. rückt, desto schwerer wird das, im Moment wird es wirklich immer akuter."

    Mit wem Russland ab 2010 ums Gas streiten wird, entscheidet sich vermutlich erst in einer Stichwahl zwischen Janukowitsch und Timoschenko. Die könnte knapp ausgehen. Auch wegen der vielen Unentschiedenen und Protestwähler. Unzufriedene können auf ukrainischen Wahlzetteln ihr Kreuzchen auch beim Kästchen "Gegen alle" machen. Diese Form von Protest hat seit einigen Tagen ein Gesicht: Ein findiger Westukrainer hat seinen Namen ändern lassen und will jetzt fürs Präsidentenamt kandidieren. Der Mann heißt Vasyl Protyvsich. Übersetzt heißt der Nachname: "Gegen alle".