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Wahlplakate und Wortungetüme

Ein Wahlkampf ist auch ein Wortkampf: Nur wer mit seinen Botschaften den Wähler erreicht, bekommt dessen Stimme. Andererseits werden unangenehme Wahrheiten gerne verschleiert. Wie Plakate und Programme der Parteien dabei vorgehen, haben Stuttgarter Kommunikationsforscher untersucht.

Von Thomas Wagner |
    Immer wieder blättert Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim, in den Wahlprogrammen aller Parteien. Doch das, was drin steht, kann selbst er nicht immer verstehen:

    "Es gibt in den Wahlprogrammen sehr viel lange Sätze, Schachtelsätze, Bandwurmsätze mit über 60 Wörter. Und es gibt Wortungetüme. Zu den Wortungetümen zählen beispielsweise das Rebflächen-Managementsystem oder die Hochspannungsgleichstromübertragung oder die Flächeninanspruchnahme, alles Begriffe, die einem nicht leicht von der Zunge gehen, und bei denen man auch nicht auf den ersten Schlag erkennt: Worum geht es überhaupt? Wo ist der Inhalt?"

    Das ist nicht nur die subjektive Meinung eines frustrierten Kommunikationswissenschaftlers. Das ist vielmehr das Ergebnis einer empirischen Auswertung der Wahlprogramme aller größeren Parteien. Um den Parteien auch wirklich nachweisen zu können, dass es mit der Verständlichkeit ihrer Wahlprogramme nicht zum Besten bestellt ist, haben die Hohenheimer Forscher ein spezielles Verfahren ausgetüftelt. Basis dafür ist ein Programm namens "Text Lab", erklärt Claudia Thoms, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kommunikation:

    "In dieses Programm geben wir die Texte ein. Da zählen dann die Wörter und die Sätze. Und in bestimmten Wortlisten wird geschaut: Was sind das für Wörter? Sind das Fremdwörter? Sind das schwierige Wörter? Und das hilft uns dann eben dabei, ein Urteil zu fällen, wie verständlich oder unverständlich diese Programme sind."

    Sie sind eher unverständlich. Soweit sei das Ergebnis schon einmal vorweggenommen. Die Wissenschaftler um Professor Brettschneider haben dafür den Hohenheimer Verständlichkeitsindex entwickelt: Null steht dabei für 'ganz und gar unverständlich'. Die Kennziffer 20 markiert größtmögliche Verständlichkeit. Hörfunknachrichten erreichen darauf immerhin die Stufe 17. Und Parteiprogramme?

    "Politikwissenschaftliche Doktorarbeiten liegen bei 4,3, also nicht eben sehr verständlich. Das Programm der Piratenpartei ist aber auch nicht sehr viel besser, was die Textstruktur und die Wortwahl angeht."

    Und der Durchschnitt aller Bundestagswahlprogramme zusammen kommt auf gerade mal auf 7,7 Punkte. Überraschend dabei: Das sind auf dem Verständlichkeitsindex sogar noch 1,3 Punkte weniger als im Bundestags-Wahlkampf von vor vier Jahren. Claudia Thoms:

    "Also im Durchschnitt sind die Programme etwas schlechter geworden als bei der letzten Bundestagswahl. Verbessert haben sich lediglich die Union und die Linken. Die restlichen Parteien sind im Vergleich schlechter geworden. Insofern haben nicht wirklich viele etwas dazu gelernt."

    Oder ganz bewusst nicht dazulernen wollen. Denn dass oftmals Experten mit ihrem fachwissenschaftlichem Vokabular die Wahlprogramme ausformulieren, ist für Frank Brettschneider nur ein Teil der Erklärung. Mindestens ebenso viel Gewicht hat für ihn ein zweiter Punkt, über den die Parteien nicht gerne reden: dass nämlich bestimmte Wahlaussagen ganz bewusst verschleiert und damit unverständlich dargestellt werden.

    "Das nennen wir taktische Unverständlichkeit. Nicht immer wollen die Parteien verstanden werden mit ihren Forderungen. Das betrifft vor allem die Passagen, bei denen es um Kürzungen von Leistungen geht oder Erhöhungen von Steuern. Dann kommen die Schachtelsätze. Und dann kommen die Fremdwörter. Es wird verschleiert, was man eigentlich fordert."

    Der nach dieser Lesart "Meister der Verschleierung" hat sich allerdings längst aus der aktiven Politik verabschiedet.

    "Gerhard Schröder hat das meisterhaft beherrscht. Wenn er populäre Forderungen hatte, hat er mit Subjekt, Prädikat, Objekt, klare Sätze, klare Sprache gepflegt. Und dann schauen Sie sich mal an, wie er die Agenda 2010 im Bundestag begründet hat. Da stand ihm auf der Stirn: Bitte nicht zitieren! Das war so unverständlich, dass er die Hoffnung offenbar hatte, dass er mit seiner Agenda 2010 eben nicht im Kern wahrgenommen wird."

    Kein Wunder also, das Wahlprogramme zwar auf Parteitagen häufig zeitaufwendig diskutiert und verabschiedet, von den Wählern aber eher selten im Wortlaut gelesen werden. Ganz anders sieht es mit einem Instrument aus, das fast so alt ist wie Wahlkämpfe selbst: Wahlplakate.

    "Die Wahlplakate werden häufig unterschätzt. Die sind sehr wichtig. Warum? Weil sie omnipräsent sind. Sie sind ständig da. Man kann ihnen kaum entgehen. Man sieht sie. Wenn ich auf die Internetseite einer Partei gehen möchte, dann muss ich selbst aktiv werden. Ich muss von mir aus die Initiative ergreifen. Oder auch, wenn ich eine Diskussionssendung im Fernsehen anschaue oder eine Diskussionssendung im Radio anhöre, muss ich aktiv werden. Bei den Plakaten nicht. Sie drängen sich auf. Und damit werden sie wichtig für den Transport von Themen."

    Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider und seine Mitarbeiter haben bei ihren Forschungen die Wirkungen von Wahlplakaten genau untersucht. Unter anderem zeigten sie Testpersonen, die vor einem Flachbildschirm saßen, Wahlplakate aller Parteien - und untersuchten mit einer Infrarotkamera, auf welche Teile eines Wahlplakates sich die Blicke der Testpersonen richteten - und wie lange. Dabei unterscheiden die Wahlforscher in Bildplakate, die ein Themenfoto mit einem bestimmten Slogan verknüpfen, in reine Textplakate mit Botschaften ohne Bild und in Kopfplakate, die die Porträts von Kandidaten zeigen. Ergebnis: Nur die sogenannten Bildplakate sorgen für anhaltende Aufmerksamkeit beim Wähler, der seinen Blick ohnehin nur wenige Sekunden auf das Plakat richtet.

    "Und zwar Bildplakate, auf denen man einen Blickfang hat. Das können Menschen sein, Gesichter. Das können aber auch Tiere sein: Die Kuh beim Grünen-Plakat gehört als Beispiel dazu. Dann gehört ein griffiger Slogan dazu mit Schlüsselwörtern. Die sollen in der Mitte des Bildes angeordnet sein. Und dann kommt noch ein gutes Logo dazu."

    Auf Bildplakaten, die nach diesen Kriterien gestaltet wurden, blieben die Augen der Testpersonen am längsten haften. Nachfragen ergaben zudem, dass sich die Botschaften am stärksten einprägten. Allerdings weiß Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider auch, welche Art von Plakaten besser auf dem Altpapier als an den Litfaßsäulen aufgehoben wäre.

    "Überhaupt nicht wahrgenommen werden die reinen Textplakate. Man könnte auch sagen: Das ist rausgeschmissenes Geld. Genauso wie die Kopfplakate der Direktkandidaten im Wahlkreis. Die fangen irgendwann sogar an, zu nerven. Sie vermitteln vor allem keine Botschaft."

    Was, sagt Brettschneider, nicht so sehr mit der Einfallslosigkeit der Kandidaten denn mit der Einfallslosigkeit der regionalen Wahlkampfteams zu tun hat: Das Ziel, den örtlichen Wahlkreiskandidaten bekannt zu machen, werde zumeist verfehlt.

    "Niemand verbietet den Parteien, neben den Köpfen und den Namen der Parteien auch noch zu schreiben, wofür dieser Kandidat steht. Stattdessen findet man, wenn man dort überhaupt Text findet, nichtssagende Aussagen wie: 'Für Stuttgart nach Berlin'. Das ist nun wirklich kein Wahlmotiv für Menschen. Das ist austauschbar. Das könnte bei jedem draufstehen: 'Für Stuttgart nach Berlin'. Und? Wofür? Um dort was zu machen?"

    So wichtig Wahlplakate nach wie vor im Wahlkampf sein mögen, eines erreichen sie allerdings nicht: Einen potenziellen Wähler für eine bestimmte Partei zu gewinnen. Das aber, sagt Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider, sei auch nicht die Funktion eines Wahlplakates.

    "Niemand steht vor einem Plakat und sagt: Dieser Slogan überzeugt mich. Deswegen wähle ich jetzt die CDU oder die SPD. Das macht kein Mensch. Aber man wird auf Themen aufmerksam gemacht. Und wir wissen, dass die unterschiedlichsten Wählerinnen und Wähler in den letzten Tagen vor der Wahl ihre Entscheidung stark daran ausrichten: Was sind denn gerade für mich die relevanten Themen? Und wenn das relevante Thema 'Umwelt' ist, dann profitieren davon die Grünen. Und ist das relevante Thema 'Wirtschaft', dann profitiert davon die CDU."

    Dass sich Frank Brettschneider schwerpunktmäßig mit der Wirkung von Wahlplakaten und Wahlprogrammen auseinandersetzt, hat nach seiner eigenen Einschätzung nach wie vor seine Berechtigung: Denn Facebook und Twitter als neue Kommunikationsplattformen der Parteien seien weit davon entfernt, in ihrer Wirkung an die klassischen Wahlkampfinstrumente heranzukommen:

    "Es gibt sogar Untersuchungen zur Bedeutung des Internets. Und die kommen alle zum gleichen Ergebnis: Die Bedeutung von Twitter und Co., von Facebook und Konsorten wird massiv überschätzt. Es stimmt zwar: Die Parteien können es sich nicht leisten, da überhaupt nicht präsent zu sein. Sonst heißt es gleich: Wie altmodisch sind die denn. Die haben ja die Entwicklung verschlafen. Aber das Internet wird von den Wählerinnen und Wählern für die Information über Politik nicht besonders intensiv wahrgenommen, ausgenommen allerdings die Erstwähler und Jungwähler, die ihre Informationen über dieses Medium beziehen."

    Und so steht denn über den kommenden Wahlsonntag hinaus eines jetzt schon fest: Großformatige Wahlplakate werden auch bei kommenden Wahlkämpfen noch eine wichtige Rolle spielen. Dessen ist sich der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider sicher.