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Wahn von Sieg oder Untergang

1944 verlor die Wehrmacht in Frankreich innerhalb von 60 Tagen 350.000 ihrer 900.000 Soldaten. Bis Oktober des Jahres fielen an der Ostfront 700.000 deutsche Kämpfer. Was verhinderte so lange die unausweichliche Kapitulation? Diese Frage hat sich der britische Historiker Ian Kershaw gestellt.

Von Peter Carstens | 07.11.2011
    Ian Kershaw gehört als Autor einer herausragenden Hitler-Biografie zu den besten Kennern der NS-Geschichte. In seinem neuen Buch "Das Ende" beschreibt er Stationen des Untergangs vom Juli 1944 bis zur Kapitulation im Mai 1945. Es war, so Kershaw,

    "... eine Fahrt in die allumfassende Katastrophe – in die militärische Niederlage, die physische Vernichtung, die feindliche Besatzung und nicht zuletzt den moralischen Bankrott ... Eine Selbstzerstörung durch Fortsetzung des Kampfes bis zum Letzten, die nahezu totale Verwüstung."

    Um die Frage des "Warum?" zu beantworten, blickt Kershaw auf Akteure und Strukturen: Da prägten, natürlich, Hitlers Charisma und sein Wahn von Sieg oder Untergang das Geschehen. Außerdem die Mord- und Organisationsmacht von Männern wie Himmler, Goebbels oder Speer. Schließlich begleiteten den Weg in den Untergang Generäle, Gauleiter, ausgelaugte Frontkämpfer und ein apathisches Volk, das im Bombenkrieg und Alltagsterror zu überleben versuchte. Kershaw versucht dieses Zusammenwirken zu erklären. Und so begleitet man den Historiker über mehr als 600 Seiten auf einer langen Reise an die Kriegsfronten, in Kommandozentralen, Parteibüros und durch Ruinenlandschaften. Es ist eine rechte Höllenfahrt. Der Engländer beschreibt den Untergang allein aus deutscher Perspektive. Reden und Befehle, Memoiren, Tagebücher und Briefe bilden das Quellengerüst seiner brillanten Darstellung. Hinzu kommt ein Fundament aus historischen Vorarbeiten, auf dem er aufbauen kann. Kershaws Erläuterungen beginnen mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Die anschließende Säuberung im Offizierskorps beschreibt er als fatalen Ausgangspunkt des dann Unvermeidlichen.

    "Eine verhängnisvolle, bleibende Folge des Bombenanschlags war die Beseitigung jeglicher Möglichkeit, dass die Streitkräfte in den letzten Monaten des Dritten Reichs zu einem Träger des Regimewandels wurden."

    Charakteristisch für Hitlers Heerführer seien spätestens jetzt Generäle gewesen, die

    "fanatisch loyal aus tief sitzender nationalsozialistischer Überzeugung handelten. Letzten Endes lieferte eine tief sitzende, völlig verquere Pflichtauffassung den Militärführern des Dritten Reichs sowohl Motivation als auch Alibi."

    Neben diesen Militärs beschreibt Kershaw Rolle und Rivalitäten der vier entscheidenden Männer in Hitlers Umgebung: Goebbels, Bormann, Himmler und Speer. Jeder von ihnen trug das Seine und Wesentliche zur Verlängerung und Totalisierung des Krieges bei, wie Kershaw in den neun chronologisch sortierten Kapiteln seines Buches beschreibt. Speer hatte, als einziger Überlebender im Quartett Gelegenheit, sein öffentliches Bild nach dem Krieg zu stilisieren. Der Organisator der industriellen Heimatfront mutierte auch dank gnädiger Geschichtsschreibung zeitweise zur tragischen Figur. Kershaw enttarnt den raffinierten Verbrecher, nicht als erster aber dafür umso gründlicher. Sein Fazit:

    "Hätte Speer zur Verlängerung des Krieges weniger getan, hätte für Millionen das Schlimmste in der Tat verhindert werden können."

    Neben Hitler, seiner Entourage und den Generälen waren es die Gauleiter der NSDAP, die in der Endphase Städte und Gemeinden von Breslau bis Aachen zum sinnlosen Kampf trieben. Dabei kommandierten die Parteibonzen ein apathisches Volk in Ruinen, das den Glauben an Führer und Partei immerhin Anfang 1945 verloren hatte. Das Resultat all dessen war entsetzlich: In den letzten zehn Monaten des Zweiten Weltkrieges fielen mehr deutsche Soldaten als in den vier Jahren zuvor, insgesamt 2,7 Millionen Männer. Über 700.000 Zivilisten kamen 1945 bei Luftangriffen ums Leben und beim Einmarsch der Roten Armee im Osten. Kershaw schreibt:

    "Die Furcht davor, der Roten Armee in die Hände zu fallen war stark und überaus verständlich."

    In russischen Aufrufen an die Rotarmisten hieß es:

    "Übt unbarmherzig Rache an den faschistischen Kindermördern und Henkern, zahlt ihnen für das Blut und die Tränen sowjetischer Mütter heim und Tötet, es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist."

    Das erklärt für Kershaw plausibel, warum der Abwehrkampf im Osten buchstäblich bis zur letzten Patrone, zugleich aber verbrecherisch ineffizient geführt wurde. Immer grausamer wandte sich dabei der NS-Terror auch gegen die eigene Bevölkerung. Kershaw beschreibt das mit kühlem Blick.

    "Solange der Krieg erfolgreich verlief, hatte man sich um das, was deutsche Soldaten den Russen und den Juden angetan hatten, nicht weiter gekümmert. Unter dem Einfluss der Propaganda hatten viele diese Dinge zweifellos gebilligt. Nun aber hatte sich das Blatt gewendet."

    Und jetzt hieß es plötzlich in SD-Berichten:

    "Juden sind doch auch Menschen."

    Ja, auch die Deutschen waren Opfer von Ereignissen, so Kershaw. Allerdings fügt er hinzu:

    "Niemand wollte sich den Horror vor Augen führen ... den ihre eigenen Väter, Söhne oder Brüder über die Völker Osteuropas gebracht hatten und die abscheulichen Unmenschlichkeiten, für die Deutschland verantwortlich war, wurden verdrängt und dem Bewusstsein entzogen. Was blieb und in der Erinnerung brodelte, war das Ende, das Elend im Untergang des Dritten Reichs."

    Im Sommer 1944 wurden an der Ostfront 5000 Soldaten pro Tag getötet, Hunderte Zivilisten starben im Bombenkrieg. Aber zur selben Zeit verbrannten in den Krematorien von Auschwitz tagtäglich 10.000 europäische Juden. Auch das beschreibt Kershaw ausführlich und knüpft damit deutsches Leid und deutsche Täterschaft zu einem Strang. Mit britischem Sinn für das Bitter-Komische beobachtet der Autor viele Merkwürdigkeiten jener Zeit, etwa das letzte Konzert der Berliner Philharmoniker im russischen Kanonendonner, die unverwüstliche Obrigkeit, die in ruinierten Städten Bauanträge bearbeitetet, oder den aufgeblasenen Großadmiral Dönitz, Hitlers Nachfolger, wie er Ende Mai 1945 im geerbten "Führer-Mercedes" durch seine provisorische Reichshauptstadt Flensburg fährt. Solche Szenen bleiben nach der Buchlektüre im Kopf und verbinden sich mit Kershaws Analysen zu einem bleibenden Eindruck. Es gibt daher wohl keinen besseren Führer durch die wild zerklüfteten Landschaften des Untergangs 1945 als Kershaw und sein Buch.

    Ian Kershaw: "Das Ende: Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45". Deutsche Verlags Anstalt, 704 Seiten, Euro 29,99, ISBN: 978-3-421-05807-2