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Wahre Geschichte?

Er erzählt das tragische Schicksal der jüdischen Hochspringerin Gretel Bergmann, doch die als historischer Kinofilm angespriesene Erzählung "Berlin 36" weist inhaltliche Fehler auf. Der Regisseur verteidigt sich: Ohne diese seien Situationen "viel langweiliger geworden".

Von Michael Barsuhn |
    Berlin im Sommer 1936. Bei den Olympischen Spielen unter dem Hakenkreuz steht der Hochsprungwettbewerb der Frauen kurz vor der Entscheidung. Die 17-jährige Deutsche Dora Ratjen läuft an, springt und reißt die Latte, auch im letzten Versuch. Ratjen muss sich mit dem undankbaren vierten Platz begnügen, die Bronzemedaille geht an ihre Teamkameradin Elfriede Kaun.

    Unterdessen bereitet eine andere deutsche Medaillenkandidatin bitter enttäuscht ihre Emigration in die USA vor. Nur wenige Wochen vor den Olympischen Spielen hatte sie noch den neuen deutschen Hochsprungrekord eingestellt. Die Olympiaqualifikation schien ihr sicher. Doch in den Augen der Nationalsozialisten ist sie nicht tragbar. Ihr Name ist Gretel Bergmann und Gretel Bergmann ist Jüdin, Hitlers "Alibijüdin".

    Nur wenige Monate zuvor war sie zur Rückkehr aus dem Londoner Exil gezwungen worden, um das Ausland zu beschwichtigen, das mit einem Boykott der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin gedroht hatte. Also darf sie an den Vorbereitungen teilnehmen, aber nur zum Schein. Zwei Wochen vor den Spielen wird sie aus dem Kader geworfen. Offiziell heißt es, sie sei verletzt. Stattdessen bieten ihr die Nazis zynisch eine Stehplatzkarte an, die Gretel stolz ablehnt.

    Diese Geschichte ist historisch verbrieft. Im Kinofilm "Berlin 36" klingt die Geschichte noch unglaublicher. Im Zentrum der von Regisseur Kaspar Heidelbach erzählten Version steht die Freundschaft zwischen Dora Ratjen, gespielt von Sebastian Urzendowsky und Gretel Bergmann, verkörpert durch Karoline Herfurth, eine Freundschaft, die es jedoch so nie gegeben hat.

    Das Leitmotiv der engen Beziehung zwischen Ratjen und Bergmann ist ein Kunstprodukt. Dies belegt das auf historischen Fakten beruhende Buch zum Film von Dr. Jutta Braun und Berno Bahro von der Universität Potsdam, außerdem Bergmanns Autobiografie und jüngste Interviews mit ihr, die heute 95-jährig in New York lebt.

    Im Film jedoch wird die vermeintliche Innigkeit gleich mit zwei historischen Unrichtigkeiten zelebriert: Gretel beobachtet den olympischen Wettbewerb von der Tribüne aus. Ratjen reißt aus Solidarität mit ihr die Latte. Die vermeintliche Symbiose zwischen den beiden Außenseiterinnen, der Jüdin und der Springerin mit der tiefen Stimme, wird filmisch mit einer Doppelbelichtung illustriert: Dora springt und Gretels Schatten springt mit ihr. In Wahrheit aber war Gretel Bergmann gar nicht im Stadion. In Wahrheit hat auch Dora Ratjen die Hochsprunglatte nicht absichtlich gerissen, sondern weil ihr schlicht und einfach bei der olympischen Feuerprobe die Nerven flatterten. Regisseur Kaspar Heidelbach verteidigt seine Version:

    "Man kann sich darüber vielleicht mokieren, aber ich möchte die Szene nicht sehen ohne Gretel, die wäre dann im Stadion einfach viel langweiliger geworden. Da wir die eigentliche Geschichte nicht verfälschen, finde ich das legitim."

    Über die Wirkung dramaturgischer Effekte lässt sich bekanntlich streiten. Das Versprechen des Films, die historische Wirklichkeit abzubilden aber kann "Berlin 36" nicht einlösen. Das gilt vor allem für die Geschichte Dora Ratjens. Im Film trägt sie den Namen Marie Ketteler, "aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen" wie Regisseur Kaspar Heidelbach erläutert. Denn die Biografie Ratjens ist kompliziert. Als Junge in der Nähe von Bremen geboren, wird Ratjen fälschlich von der Hebamme als Mädchen deklariert und auch von den Eltern als Tochter aufgezogen. Der Film behauptet, dass die NS-Reichssportführung Ratjens Geschlecht kannte und ihn erpresste, gegen Bergmann anzutreten. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, im Film gespielt von Olaf Thieme, setzt Ratjen unter Druck:

    "Normalerweise müsste ich dafür sorgen, dass man sie in eine Heilanstalt einweist, aber dazu würde ich es nicht gerne kommen lassen. Wenn Sie einverstanden sind, biete ich Ihnen meine Hilfe an. Allerdings müssten sie dafür etwas tun."

    "Was denn?"

    "Ihrem Vaterland einen Dienst erweisen."

    Und mehr noch: Der Film suggeriert, dass erst die Nazis Ratjen zum Sportstar aufbauten. "Ratjen war seit 1934 wiederholt Gaumeister, 1936 sogar deutsche Meisterin", weiß jedoch der Historiker Berno Bahro von der Uni Potsdam, der ihre Biografie akribisch erforschte. Ratjen wäre Bestandteil des Olympiakaders geworden, auch wenn es Gretel Bergmann nie gegeben hätte. Der Film hingegen reduziert Ratjens Rolle und Persönlichkeit auf die einer von den Nazis gegen Bergmann aus politischen Gründen in Stellung gebrachten Gegenspielerin.

    Die Darstellung der Potsdamer Sporthistoriker wird mittlerweile auch durch im Spiegel publizierte Polizei- und Gerichtsakten gestützt. Erst zwei Jahre nach den Olympischen Spielen erfuhren demnach die Nationalsozialisten, dass es sich bei der Athletin aus biologischer Perspektive um einen Mann handelte. Unrasiert wurde Ratjen 1938 auf einer Zugfahrt von Wien nach Berlin von der Polizei aufgegriffen. In Österreich hatte sie soeben mit neuem Weltrekord den Europameistertitel im Hochsprung errungen. In den Polizeiakten notierte der zuständige Kriminalbeamte, Dora sei niemals darauf hingewiesen worden, dass sie ein Mann sei. Ratjens Oberkörper sei "mädchenhaft zart". Für Ratjen war die Enttarnung wohl eine Befreiung, Zitat: "Er hat diesen Zeitpunkt schon seit längerer Zeit erwartet, denn er war sich darüber klar, dass eines Tages die sportliche Betätigung als Frau nicht mehr tragbar sein wird." Am 10 September 1939 wird das Ermittlungsverfahren wegen Betruges eingestellt. Dora nimmt offiziell den Namen Heinrich Ratjen an.

    Auf den Vorwurf, der Film nehme es nicht so genau mit der historischen Wahrheit, reagiert Regisseur Kaspar Heidelbach gelassen. Für die Vermarktung seien andere verantwortlich, auch der Untertitel des Films "Die wahre Geschichte einer Siegerin" stamme nicht aus seiner Feder.

    "Mir kann ja eine kontroverse Diskussion um den Film nur gut tun. Vielleicht treibt das mehr Leute ins Kino."

    Von Heinrich Ratjen sind keine Beschwerden zu erwarten. 2008 ist er im Alter von 89 Jahren verstorben.