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Wahrheitskommission in Tunesien
Damit die Diktatur nicht wiederkommt

Vor sieben Jahren haben die Tunesier ihren Diktator Ben Ali verjagt. Eine Wahrheitskommission sollte die Vergangenheit aufarbeiten. Obwohl es noch viel zu tun gäbe, will das Parlament deren Arbeit nicht verlängern. Viele Tunesier wollen diese Jahre auch lieber vergessen.

Von Anne Françoise Weber | 09.09.2018
    Tunesische Frauen und Männer halten bei einer Demonstration Bilder ihrer Kinder hoch, die während der tunesischen Revoluition gestorben sind.
    Demonstrationen am Jahrestag der Revolution in Tunesien (picture alliance / Mohamed Messara)
    "Wir haben seit 1991 gelitten. Bis ich 2015 die Sterbeurkunde bekam, habe ich angenommen, dass mein Mann noch lebt. So lange war ich weder verheiratet noch geschieden noch Witwe."
    Latifa Matmati will endlich wissen, wo die Leiche ihres Mannes Kamel verscharrt wurde. Der Angestellte der tunesischen Elektrizitätswerke wurde 1991 von zwei Polizisten in Zivil bei der Arbeit abgeholt. Jahrelang glaubte Latifa Matmati, er sei in Haft, suchte ihn in mehreren Gefängnissen, brachte sogar Essen dorthin – bis sie schließlich erfuhr, dass Kamel schon kurz nach seiner Festnahme zu Tode gefoltert worden war.
    "Diese Leute müssen zur Verantwortung gezogen werden, vor Gericht kommen und bestraft werden. Sie dürfen nicht ihr Leben genießen, essen und trinken, als ob sie nichts getan hätten.
    Die Tunesierin Latifa Matmati in einem großen, gemusterten Schal ist vor einer Wand mit blau-weißen Kacheln zu sehen.
    Die Tunesierin Latifa Matmati (Deutschlandradio / Anne Weber)
    Juristische Aufarbeitung
    Seit Ende Mai läuft ein Prozess in der südtunesischen Stadt Gabès, wo Latifa Matmati wohnt. Angestoßen hat ihn die Instanz für Wahrheit und Würde, wie die tunesische Wahrheitskommission offiziell heißt. 2014 nahm sie ihre Arbeit auf und hat seither fast 50.000 Personen angehört und rund 62.000 Akten erstellt. Nur wenige davon werden exemplarisch vor Gericht gebracht. Aber es geht auch nicht nur um die juristische Aufarbeitung der Verbrechen:
    Am 17. November 2016 eröffnete die Vorsitzende der Wahrheitskommission Sihem Ben Sedrine die erste öffentliche Opferanhörung, die live im Fernsehen übertragen wurde, mit den Worten:
    "Heute ist ein bedeutender Tag in der Geschichte Tunesiens. Es ist ein historischer Moment, der als wichtige Wegmarke im Aufbau unseres Rechtsstaats in Erinnerung bleiben wird. Ein Moment, in dem wir die Helden Tunesiens feiern. Vor zehn Jahren hätte das niemand erwartet."
    Schmutzige Hände
    Doch was die einen als Triumph der Wahrheit feierten, störte die anderen von Anfang an – schließlich hatten sich in der Zeit von 1955 bis 2013, die die Wahrheitskommission untersucht, so manche auch heute noch aktive Politiker, Geschäftsleute oder Vertreter der Zivilgesellschaft die Hände sehr schmutzig gemacht.
    Nicht besonders verwunderlich also, dass im Frühjahr bei einer Abstimmung im Parlament eine Mehrheit gegen die Verlängerung der Wahrheitskommission stimmte. Die Entscheidung ist zwar umstritten, nur wenige Abgeordnete waren bei der Abstimmung anwesend. Doch nach Verhandlungen mit der Regierung hat die Kommission jetzt noch Zeit bis Dezember, um ihre Arbeit abzuschließen. Und manche Ministerien haben schon jetzt die Zusammenarbeit aufgekündigt.
    Preis der Diktatur
    Doch Kommissionsmitglied Ibtihel Abdellatif ist überzeugt davon, dass die Aufarbeitung unverzichtbar ist:
    "Wir wollen nur eins: dass sich das nicht wiederholt. Es geht uns nicht um die Show oder den Medienscoop. Sondern darum, zu zeigen, dass das real war, dass das der Preis der Diktatur war. Es gibt Leute, die dem Regime Ben Alis hinterhertrauern. Es gibt neue Stimmen, die sagen, dass das Leben besser war. Natürlich gab es Leute, die die Diktatur damals nicht gestört hat, die in einer wirtschaftlich besseren Lage waren. Ihnen sage ich: Vielleicht konntest du damals Brot essen – aber ohne Würde. Und während du Brot gegessen hast, waren andere im Gefängnis."