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"Waisen"

Eine Ermittlung: Was geschah wirklich da draußen, außerhalb des steril-weißen, gnadenlos ausgeleuchteten und anonym wirkenden Bühnen-Fluchtraums?

Von Cornelie Ueding | 23.10.2010
    Mit der unübersehbaren Blutspur auf dem Hemd des Bruders, der plötzlich in der Tür steht, dringt die feindliche Außenwelt unabweisbar in die ersehnte Schutzzone Familie ein. Mit "Waisen" knüpft Dennis Kelly an seinen großen Erfolg mit Taking Care of Baby an: die Suche nach DER Wahrheit, während Perspektivenwechsel auf das Geschehen immer neue Lügen aufdecken.

    Es wird nur geredet in Kellys Stücken. Gehandelt wird, wenn überhaupt, im off. Und mit jedem Satz, mit jeder neu auftauchenden Frage wird die Situation vertrackter, immer auswegloser für die drei Personen, ein Paar und den Bruder der Frau. Zunächst geht es nur um die Entscheidung, ob man die Polizei rufen soll oder nicht, wenn da draußen ein verletzter Junge liegt. Doch der Bruder ist vorbestraft. Wer ist da schützenswerter: der fremde Jugendliche, der offenbar einer üblen gewaltbereiten Bande angehört – oder der Bruder. Die Klarheit dieser Alternative ist eine Falle. Die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden, nach der Bewahrung der eigenen, wie sich herausstellt, recht unheilen Familie und den brutalen Übergriffen der Fremden wird für die Figuren immer komplizierter.

    Das Gefühlswirrwarr hat für die Zuschauer durchaus auch komische Züge. Kelly spielt virtuos mit der Wahrnehmung der Zuschauer, gönnt ihnen kleine emotionale Entlastungen und das Überlegenheitsgefühl, die immer weiter wuchernden Ausreden recht schnell zu durchschauen, während das maulig schuldbewusste Genöle des Bruders immer wieder neue Variationen des Tathergangs ans Licht bringt. Von wegen, er habe helfen wollen!

    Eine blindwütige Racheaktion – für alles und jedes – an einem ihm zufällig über den Weg gelaufenen arabischen Familienvater, der mit den vielen, ständig beschworenen Überfällen in der Gegend nichts zu tun hat. Aber der Bruder ist nun als Angreifer identifizierbar – also nötiger denn je auf familiäre Hilfe angewiesen. Und schon hetzt die Schwester in einem hysterischen Rederausch ihren Mann in die Nacht. Statt feige herumzusitzen, soll er dem Überfallenen "Angst einjagen", damit der den Mund hält.

    Wie das ausgeht? Soviel sei gesagt: ganz und gar zerstörerisch für alle in dieser bisher noch durch Beschwörungen zusammengehaltenen Familie. Elias Perrig hat die drei Figuren, Gefangene einer unheimeligen Überlebens-Kiste mit abschüssigem Boden, aus Kellys brüchigen und immer wieder von Erinnerungen, der Beschwörung von Zugehörigkeit unterbrochenen Dialogen entwickelt. Er stellt ihre Lebensgier, ihre durch und durch widersprüchlichen Gefühlslagen in einer selten gewordenen, subtilen Sprachregie auch in Frage und als Frage an uns. Und dabei halten Katka Kurze, Peter Schröder und Florian Müller-Morungen eine bewundernswerte Balance zwischen Sehnsüchten und Vorurteilen, Ratlosigkeit und Aggressivität, ohne die Figuren in ihrer Angst, ihrer Feigheit oder ihrer unvermittelt hervorbrechenden Brutalität zu denunzieren.

    Diese Inszenierung ist ein ganz und gar unspektakuläres Ereignis. Im Wortsinn ein Kammer-Spiel - das den Weg nach Basel lohnt.