Freitag, 19. April 2024

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Wajdi Mouawad in Paris
Die Leiden des alternden Sängers

Auf der Suche nach einem neuen Bühnenstoff sind der Theatermann Wajdi Mouawad und der Chansonnier Arthur H. weit gereist. Fündig wurden sie jedoch in der heimischen Musikszene: Das neue Stück erzählt von einem abgehalfterten Sänger und ist ein modernes Märchen mit handlungsreicher Story.

Von Eberhard Spreng | 19.11.2019
Wajdi Mouawad in "Inflammation du verbve vivre". Regie: Wajdi Mouawad
Der franko-libanesische Theatermacher Wajdi Mouawad leitet das Pariser Théâtre National de la Colline (Pascal GELY)
Backstage. Ende des Konzerts. Man hört das Publikum im Hintergrund noch jubeln. Die Musiker kommen erschöpft vom Auftritt. Der Bandleader sinkt aufs Sofa, rennt dann zum Klo und kommt wenig später wieder. Alice, so sein kurioser Künstlername, hat Durchfall und das schon seit fünf Jahren – und zwar immer, wenn er auftritt. Der Körper sagt es: Etwas stimmt nicht in der Karriere der Sängers. Und auch die routinierte Umtriebigkeit der Crew kann das nicht verdecken. Sowenig wie die alerte Pressesprecherin, die auf der Tournee des einstigen Kultstars die Fäden zusammenhält. Diesel wird die unermüdliche Powerfrau genannt. Ihre Schwangerschaft, so erzählt sie zwischen Tür und Angel, endete vor wenigen Tagen mit einer Totgeburt.
Schatten des Todes
Auf die eine oder andere Weise tragen alle Figuren in Wajdi Mouawads neuem Stück den Schatten des Todes in sich: Alices Freundin Majda, eine palästinensische Fotografin, die ihre Eltern schon als Säugling verlor im Massaker des libanesischen Flüchtlingscamps Sabra; ein alternder Musikkritiker, der vor seiner Rente noch einen letzten großen Artikel über das einstige Idol schreiben will; der abgehalfterte Ex-Manager des Bandleaders, der dem Musiker, der vor 30 Jahren als große Hoffnung gestartet war, Verrat an seinen Idealen vorwirft:
"Wo ist denn der Spirit von damals geblieben? Die Erschütterung - das war das Wort das du immer benutzt hast. Da machtest du eine Stunde völlig lang unerträgliche Musik, um die Konsumenten zu vertreiben und um anschließend nur noch für die Anhänger der Gegenkultur zu spielen! Wo sind die jetzt? Nicht einer von denen war im Konzert heute…"
Unerbittlicher Musikmarkt
Im figurenreichen Sittenbild einer sehr heutigen Gesellschaft steht im Kern das Leiden des alternden Künstlers an einem unerbittlichen Markt und am Verschleiß der künstlerischen Kräfte. Der alternde Musikkritiker macht Alice während seines Interviews aber auch Vorwürfe politisch-zeitgeschichtlicher Art – zum Beispiel, dass er sich weigert, etwas zum vierten Jahrestages des islamistischen Terroranschlages auf das Pariser Bataclan zu äußern, wo er in wenigen Tagen seine Tournee beenden soll. Dem Journalisten fehlt das politische Engagement des Künstlers in den großen Fragen der Gegenwart, zu der die Klimakatastrophe gehört.
"Ich kann Chansons schreiben, aber unsere Epoche hat allen eingebläut, dass das allein nichts mehr wert ist angesichts der aktuellen Gegenwart…"
…das sagt Alice, den der Chansonnier Arthur H. selbst spielt. Seit mehreren Jahren verbindet ihn eine künstlerische Freundschaft mit Wajdi Mouawad. Zwei großen Reisen haben der Hauptdarsteller und der Regisseur gemeinsam auf der Suche nach einem Theaterstoff unternommen: eine in den Regenwald zu einem Schamanen und eine nach Grönland zu den schmelzenden Eisbergen.
Vorgetäuschtes Ableben
Als Zeichen der Klimakrise regnet es oft auf eine Bühne, auf der ein scharf konturiertes Licht Bilder der Verlorenheit hervorbringt. Schnell entworfene, wirksam choreographierte Gruppenszenen entstehen. Der finstere Wendepunkt der Fabel kommt, als der frustrierte Ex-Manager den tief verletzten Chansonnier dazu überredet, den eigenen Tod zu inszenieren, um wenige Tage später als Megastar wiedergeboren zu werden. Zwischenzeitlich versteckt vor der Welt, der man seinen Tod verkündet hat, soll er eine Platte produzieren mit Chansons aus dem Jenseits.
Jetzt wird die Aufführung zur makabren Farce. Bei der Aufbahrung fängt der Kadaver an zu husten, die Trauergemeinde ist geschockt, die Freundin schreit hysterisch. Alice wird zum Paria, verstoßen von Freunden, verfemt von den Medien. Auf die Selbstinszenierung seines Todes folgt jetzt die mediale Hinrichtung. Auch in einer Zivilisation, in der alles erlaubt ist, bleibt als letztes Tabu der Tod.
Unterhaltendes Volkstheater
Mit der ihm eigenen orientalischen Fabulierfreude verknüpft Mouawad in einem figurenreichen Plot zahlreiche Handlungsfäden. Das ist immer unterhaltendes Volkstheater, trotzt allen postdramatischen Moden mit dem festen Glauben an pointenreiche Dialoge, farbenfrohe Figurenzeichnung, einer handlungsreichen Story und flotter Regie: ein modernes Märchen und Kindertheater für Erwachsene. Auch wenn’s so angelegt ist: "La Mort prématurée d’un chanteur populaire dans la force de l’âge" ist noch kein Alterswerk. Denn es kokettiert nur mit dem Motiv des alternden Künstlers, dem Verlust der Jugend und Verrat der Ideale.