Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Wald in Gefahr

2011 ist seit Samstag das "Internationale Jahr der Wälder". Das haben die Vereinten Nationen mit einer Resolution erklärt. Was für ein Jahresthema, gerade für die Deutschen, findet Burkhard Müller-Ullrich.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 03.01.2011
    Der deutsche Wald steht schwarz und schweiget, und die Deutschen wählen Grün und schützen Bäume. Das ist eine alte Geschichte. Wahrscheinlich hat sie schon vor zwei Jahrtausenden begonnen, als die Römer kamen und nicht schlecht staunten beim Anblick von soviel Wald. Der Teutoburger wurde ihnen zum Verhängnis, trotz des Limes mit seinen angespitzten Baumstämmen.

    Kein Zweifel, wir sind ein Waldvolk geblieben. Unsere Sagen und Märchen handeln vom Wald, alles Wesentliche spielt sich dort ab. So etwas prägt die Seelen schon von Kindheit an. Im tiefen Wald lauern Gefahren, aber wo Gefahr ist, da wächst bekanntlich Rettung auch. Die Hauptgefahr besteht im Sich-Verirren. Das können andere Landschaften gar nicht bieten. Wer in einer Gegend der weiten Blicke groß wird, am Mittelmeer zum Beispiel, der hat von der ständigen Verirrungsfurcht der Deutschen keine Vorstellung.

    Geistige Verirrung und spätere Errettung durch wiedergewonnene Orientierung sind Grundfiguren der Romantik. Während das Leben anderswo als langer Weg betrachtet wird, als mühevoller Marsch womöglich, aber doch als etwas Sicht- und Nachvollziehbares, ist es bei uns vor allem ein Verwirrspiel im Dunkeln, etwas partiell Umnachtetes, das auf Führung, Läuterung, Erlösung angewiesen ist. Deutsche Biografien, wie die deutsche Geschichte überhaupt, haben ihre Wald-Passagen; man ist geradezu stolz darauf, das Bewusstsein von Zeit zu Zeit zu verlieren, um es dann umso dramatischer wiederzufinden.

    Zur Waldhaftigkeit der deutschen Kultur gehört allerdings auch die gesamte ästhetische Ausstattung des Forstes: die erhabene Stille, das Rauschen des Windes in den Zweigen, der Duft und die Schönheit der Lichtung, über die Heidegger philosophierte. Die romantische Musik ist voll von tonalen Waldempfindungen – sie könnte ohne hölzerne Instrumente auch gar nicht gespielt werden – und in der Malerei jener Zeit erscheinen Bäume allemal wichtiger als Menschen.

    Dieser Grundsatz hat sich zu einem guten Teil bis ins heutige Denken erhalten: Der Baum repräsentiert die Natur, der Mensch ihren Feind. Nur deshalb konnte das sogenannte Waldsterben in Deutschland zu einem pseudowissenschaftlichen Gesellschaftsdrama, einem medialen Gesamtkunstwerk, einer Umweltliturgie ausarten. Der religiöse Kern dieser Kampagne bewirkt, dass noch nach 30 Jahren üppigen Wachstums der Wald von seinen vermeintlichen Wächtern unbeirrt totgeschrieben und -gesagt wird: Inzwischen gilt sogar sein Wachstum als Merkmal seines Krankseins.

    Die romantische Sehnsucht nach Einswerdung mit der Natur und das deutsche Verlangen, sich wenigstens ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts für Verfolgte starkzumachen, führen unterdessen zu drolligen Konstellationen. Es genügt, dass hierzulande irgendwo ein Baum einem technischen Projekt weichen soll, schon ketten sich wütende Verteidiger an ihn, klettern in seine Krone, streicheln und küssen ihn und weinen hysterische Tränen. So sind Bäume zu einem Widerstandssymbol geworden. Der Wald ist keine Gefahr mehr, er ist in Gefahr.

    Was Bäume als mythische Vorbilder so attraktiv macht, sind ihre Wurzeln. Durch Baumfreundschaft möchten manche Menschen ihr modernes Gefühl des Entwurzeltseins kurieren. Aber eine der größten menschlichen Errungenschaften bleibt doch das Nichtbaumsein. Wurzeln werden manchmal überschätzt. Der Mensch hat Füße und kann sich, sofern er nicht von zu viel Wald im Kopf daran gehindert wird, frei an jeden Ort begeben, wohin sein Herz ihn trägt.