Günter-Wallraff-Preis 2024
Visionen können Wirklichkeit werden

Die Überwindung patriarchaler Strukturen ist ein Beitrag für den Frieden. Es kann nicht sein, dass man sich für Friedensarbeit rechtfertigen muss. Das waren zwei Punkte, die Günter Wallraff in seiner hier dokumentierten Laudatio wichtig waren. Und er formulierte einen Appell der Zuversicht: Die Forderungen und Visionen von heute können die Realitäten von morgen sein.

Von Günter Wallraff | 03.05.2024
    Ein Mann spricht an einem Rednerpult.
    Investigativjournalist Günter Wallraff am 3.5.2024 beim Forum Journalismuskritik im Dlf-Funkhaus. (Thomas Kujawinski / Deutschlandfunk)
    Heute darf ich die beiden Friedensaktivistinnen und Sängerinnen Yael Deckelbaum, stellvertretend für die israelische Frauenfriedensbewegung „Women Wage Peace“ und Meera Eilabouni für die palästinensische „Women of the Sun“ mit dem Günter-Wallraff-Preis für Menschenrechte auszeichnen.
    Beide Frauen-Bewegungen - „Women of the Sun“ wie „Women Wage Peace“ - setzen sich mit unbeirrbarem Engagement für ein gemeinsames Ziel ein, das viele nicht mal mehr als ferne Utopie zu denken wagen: Einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern.
    Sie bestehen nach wie vor auf einem Dialog als Mittel zur Überwindung der derzeit immer auswegloser erscheinenden Situation.

    Das Bild vom Mann als Krieger und Herrscher gehört auf den Müllhaufen der Geschichte

    Das fast durch die gesamte Menschheitsgeschichte geprägte Bild des dominanten Mannes als Krieger, Eroberer und Herrscher mit der untergeordneten, dienenden Frau an seiner Seite ist längst obsolet und gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Fakt ist, dass es Frauen besser gelingt, das große Ganze im Blick zu behalten, Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen:

    Laut einer Studie der amerikanischen Seton Hall University zu 156 Friedensabkommen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abkommen mindestens 15 Jahre hält, um 35 Prozent höher, wenn Frauen als Verhandlungsführerinnen und Vermittlerinnen tätig sind. Es ist bewiesen, dass Frauen sich kompetenter und leidenschaftlicher für Verhandlungen, den Schutz der Zivilbevölkerung und ein Ende der Gewalt einsetzen, während Krieg ein überwiegend männliches „Geschäft“ ist.

    Ein überzeugendes Beispiel war der „March of Hope“ im Jahr 2016: Zahlreiche palästinensische und israelische Frauen zogen von der israelisch-libanesischen Grenze quer durchs Land nach Jerusalem. Am Ende waren es Tausende, die gemeinsam für Frieden und Versöhnung demonstrierten.

    Noch drei Tage vor dem Vernichtungs-Massaker der Hamas am 7. Oktober kamen Tausende Frauen von „Women Wage Peace“ und „Women of the Sun“ am Toleranzdenkmal in Jerusalem zusammen. Mitglieder beider Gruppen reisten zum Toten Meer und deckten einen Tisch, die Frauen stellten Stühle auf, als Symbol für die Wiederaufnahme der Verhandlungen über eine politische Lösung: „Wir, palästinensische und israelische Mütter, sind entschlossen, den Teufelskreis des Blutvergießens zu stoppen“, heißt es in der Präambel ihrer Kampagne.

    Frauenfriedensorganisationen haben nach dem 7. Oktober nicht aufgegeben

    Bei dem Hamas-Massaker, dem entsetzlichsten Judenpogrom seit dem Holocaust, wurden 1.139 Menschen verstümmelt, vergewaltigt und bestialisch ermordet. Unter ihnen auch die 74-jährige Vivian Silver, Mitgründerin von „Women Wage Peace“, die regelmäßig palästinensische Patienten und deren Familien aus dem Gazastreifen zur Behandlung in israelische Krankenhäuser vermittelte und persönlich begleitete und dann im Schutzraum ihres Hauses im Kibbuz Be’eri niedergemetzelt wurde.

    Der UN zufolge sind den israelischen Angriffen im Gaza-Streifen bisher mehr als 34.000 Menschen zum Opfer gefallen, unter ihnen mindestens 13.800 Kinder. Etwa zwei Drittel der Gebäude wurden zerbombt oder beschädigt, das Land ist auf Jahre unbewohnbar. Unermesslich ist das Ausmaß der Zerstörung, das menschliche Leid und Elend, die Traumatisierung der Menschen und insbesondere der Kinder. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass Traumata häufig bis in die vierte Generation weitervererbt werden.

    Man könnte nun annehmen, dass auch die Frauenfriedensbewegungen vor diesen Grausamkeiten und der Eskalation der Zerstörung kapitulieren, doch das Gegenteil ist der Fall. Trotz der Verzweiflung, trotz der Unerbittlichkeit beider Seiten stehen sie weiter für ihre Ziele ein: „Wir setzen unsere Pläne fort - wir arbeiten zusammen und machen keinen Hehl daraus“ erklärte die derzeitige Verantwortliche von „Women Wage Peace“, Yael Braudo-Bahat.

    Kriegsherren brauchen und missbrauchen Feindbilder

    Es ist geradezu tragisch, dass Friedensaktivistinnen wegen ihrer Mission immer wieder in die Defensive geraten und sich auch noch rechtfertigen müssen. Viele Palästinenser sind der Ansicht, dass - so wörtlich - „es etwas Schändliches ist, mit Israel überhaupt zu verhandeln“, zitierte das Magazin Foreign Policy kürzlich ein Mitglied von „Women of the Sun“. Und auch in Israel werden Aktivistinnen, die das Ende der israelischen Vergeltungspolitik fordern und auf das unermessliche Leid der Palästinenser aufmerksam machen, als „Smolani boged“, das heißt, linke Verräter diffamiert. Ganz so, als brauchen und missbrauchten die Kriegsherren das jeweilige Feindbild, um das eigene politische Überleben abzusichern und ihre Macht zu behaupten.

    Laut einer Befragung, die das Israel Democracy Institute zu Beginn dieses Jahres durchgeführt hat, sprechen sich nur 15 Prozent der Israelis dafür aus, dass Netanjahu nach dem Ende des Krieges gegen die Hamas im Gazastreifen im Amt bleibt. Ohne den Krieg wäre Netanjahu in dieser einzigen Demokratie im Nahen Osten wahrscheinlich längst abgewählt und müsste sich wegen der Korruptionsvorwürfe vor einem Gericht verantworten. Eine Demokratie, die von Innen wie außen mit dem Rücken zur Wand steht.

    Friedensaktivistinnen stellen sich bewusst zwischen die Fronten

    Die Friedensaktivistinnen – verzweifelte Friedensstifterinnen – stellen sich ganz bewusst zwischen die erstarrten ideologischen Fronten.
    Sie behaupten ihren Platz „zwischen den Stühlen“ und appellieren selbstbewusst an ihre Regierenden und Führer, so wörtlich, „Mut und Vision zu zeigen, um den historischen Wandel herbeizuführen, den wir alle anstreben. Wir reichen uns die Hände in Entschlossenheit und Partnerschaft, um unseren Völkern die Hoffnung zurückzugeben.“ Eine gemeinsame Zukunft, basierend auf den Prinzipien der Menschenrechte.

    Ohne mutige, oft verzweifelte Menschen, die bereit sind, für das Wohl ihrer Mitmenschen Gefahren auf sich zu nehmen, wäre diese Welt verloren. Despoten würden die Welt regieren und das Wort „Menschenrechte“ müsste man künftig im Lexikon nachschlagen - wie ein Fremdwort.

    Die Visionen von heute können die Realitäten von morgen werden

    „War is not a Woman’s Game“ – „Krieg ist kein Spiel der Frauen“ werden Yael Deckelbaum und Meera Eilabouni gleich noch singen. „Es geht nur gemeinsam!“ - ist eine ihrer Kernbotschaften. Dass es ihnen damit seit Jahren gelingt, tausende von palästinensischen und israelischen Frauen zu vereinen und für Frieden und Zusammenarbeit zu mobilisieren, zeigt, dass Frieden mehr ist als eine Utopie.
    Wir sollten nicht vergessen: Die positiven Realitäten von heute, wie zum Beispiel die Gleichstellung der Frau oder Kinder- und Minderheitenrechte waren die oft bekämpften und verspotteten Visionen und Utopien von einst. Unsere heutigen Visionen und Forderungen nach Frieden und Versöhnung, müssen die Realität von morgen werden, auf dass es noch eine lebenswerte Zukunft geben kann. Yael Deckelbaum und Meera Eilabouni leben eindrucksvoll vor, wie ein friedliches Miteinander gelingen kann. Menschen wie Ihr machen uns Mut, Ihr seid Vorbilder und Hoffnungsträgerinnen.

    Großer Respekt und ganz herzlicher Dank!

    Congratulations!