Rainer Berthold Schossig: Wir erinnern uns: Martin Walser, Siegfried Lenz oder Dieter Hildebrandt zum Beispiel, sie traten in ihrer Jugend in die NSDAP ein und konnten sich daran später nicht mehr recht entsinnen. Der Streit um prominente Jungmitglieder dauert jetzt schon über zwei Jahre, und nun haben auf Initiative der Berliner Antisemitismusforscher Juliane Wetzel und Wolfgang Benz eine Reihe von Historikern es relativ klargestellt: Parteigenosse wurde man in aller Regel nicht ohne eigenes Zutun, vielleicht, ja, Flakhelfer, so irgendwie, aber schon in die HJ kam man gar nicht so ohne alles rein. Vor der Sendung habe ich gesprochen mit Armin Nolzen. Er ist Historiker in Bochum, und ich habe ihn gefragt: Sie haben jetzt zusammen zum ersten Mal mit einer Reihe von Kollegen, Historikern, detaillierter erforscht, wie denn nun Männer, wie etwa Hans Werner Henze oder Dieter Hildebrandt, Erhard Eppler oder Horst Ehmke damals NSDAP-Mitglieder wurden.
Armin Nolzen: Also wir reden ja hier über das Aufnahmeverfahren für Jugendliche, die in der Hitlerjugend waren, in die NSDAP. Grundsätzlich gilt in der NSDAP ein Einzelaufnahmeverfahren. Das heißt, jeder, der eintreten möchte, muss einen individuell unterschriebenen Mitgliedschaftsantrag stellen, und zwar bei der zuständigen Ortsgruppe. Das Aufnahmealter in der NSDAP ist 21 Jahre. Und in unserem Fall, wo es um die Aufnahme von Jahrgängen in der Hitlerjugend in die NSDAP geht, ist das Aufnahmealter sukzessive gesenkt worden. Also wir reden ja hier von Jugendlichen, die teilweise im Alter von 16 bis 17 Jahren einen solchen Aufnahmeantrag gestellt haben.
Schossig: Aber Sie haben rausgefunden, man konnte so gut wie nicht ohne eigenes Zutun in die Partei geraten?
Nolzen: Voraussetzung ist immer der eigenhändig unterschriebene Aufnahmeantrag. Das heißt, dieser Aufnahmeantrag muss, bei unseren Jahrgängen 1923 bis 1927, über die wir reden, über diese Hitlerjugend-Jahrgänge, dieser Aufnahmeantrag muss unterschrieben werden, dem jeweiligen HJ-Bandführer oder dem Ortsgruppenleiter überreicht werden, und von da aus geht er dann auf dem Parteidienstweg an die zentralen Dienststellen, die die Mitgliedschaftssachen bearbeiten.
Schossig: Es mussten also Unterschriften geleistet werden. Woran könnte es denn nun liegen, dass so viele sich daran nicht mehr erinnern können?
Nolzen: Nun ja, das Verfahren ist zwar individualisiert, mit der individuellen Unterschrift, aber wir haben gerade im Krieg, also sagen wir mal, seit dem Aufnahmeverfahren seit September 1941, immer wieder Situationen, in der diese Unterschriftsleistung kollektiv erfolgt. Das heißt also, es werden von der Parteiführung beziehungsweise den Ortsgruppen oder HJ-Funktionären vor Ort gezielt solche Situationen geschaffen, wo der Jeweilige, der in die Partei eintreten soll, das im Kreise seiner Kameraden tut. Also etwa in Unterkünften bei Luftwaffenhelfern, beim HJ-Dienstabend oder bei anderen Gelegenheiten. Wir haben sehr wenige wirklich individuelle Unterschriftsleistungen, wo wir Jugendliche haben, die dann zu Hause sitzen und den Antrag vor sich haben und wirklich räsonieren können, ob sie unterschreiben sollen oder nicht, sondern so wie wir auch aus den Erinnerungen der Betroffenen wissen, sind diese Unterschriftsleistungen immer in solche kollektiven Situationen eingebunden. Und das erklärt vielleicht auch, wie man auf diesen Terminus der kollektiven Überführung kommt.
Schossig: Also es ist ein Mythos, dass es solche Massenüberführungen in die NSDAP gegeben hat?
Nolzen: Ja, das zweite Problem ist ja, dass diese Überführungen aus der HJ in die NSDAP sozusagen auch im Kollektivverfahren abgewickelt werden. Also die werden bei den jeweiligen Gauen gesammelt, die Anträge, und gehen dann in einem Sammelverfahren auf dem Weg nach oben weiter. Das heißt also, vielleicht kommt dieser Mythos von der kollektiven Überführung auch daher. Oder möglicherweise auch, es hat ja für die Jugendlichen, die in die Hitlerjugend eintreten, auch eine Aufnahmefeier gegeben, eine kollektive Aufnahmefeier. Also vielleicht auch daher das Gefühl, dass jemand kollektiv überführt wurde.
Schossig: Was mag es bedeutet haben, damals in den letzten Kriegsjahren, als Jugendlicher quasi noch in die NSDAP aufgenommen zu werden oder einzutreten?
Nolzen: Also grundsätzlich ist Mitgliedschaft in der NSDAP schwierig zu beurteilen. Die NSDAP ist eine Struktur der Ermöglichung, das heißt also, jemand, der der NSDAP beitritt, hat spezifische Möglichkeiten, die jemand, der der NSDAP nicht beitritt, nicht hat. Das ist der Unterschied. Es gibt eigentlich viele Motive oder Gründe, aus denen jemand der NSDAP beitreten kann. Die Parteimitgliedschaft wird teilweise Voraussetzung zur Berufsausübung, wir haben materielle Vorteile, zum Beispiel der Mittelständler, der sozusagen die NSDAP beliefert, der denen die Uniform schneidert, der tritt dann auch in die NSDAP ein. Wir haben gerade im Zweiten Weltkrieg den nicht zu unterschätzenden Vorteil, möglicherweise uk-gestellt zu werden ("uk": unabkömmlich, Anm. der Online-Redaktion), also nicht zur Wehrmacht zu müssen, was allerdings nur hauptamtliche Funktionäre betrifft. Also es gibt ein Bündel von Möglichkeiten, die diese NSDAP-Mitgliedschaft mit sich bringt, die die Nichtmitglieder eben nicht haben. Und das ist der Unterschied hier. Und wie jeweils das im Einzelfall gelagert ist, kann wiederum nur anhand des Einzelfalles auch entschieden werden. Also Kollektivaussagen zu kollektiven Motiven sind bei diesem individualisierten Verfahren eigentlich nicht statthaft.
Schossig: Zum Schluss: Was war das Erkenntnis-leitende Interesse Ihrer Studie? Man sollte ja meinen, dass die Aufnahmemechanismen in die NSDAP längst erforscht waren?
Nolzen: Man muss sagen, es gibt noch keine einzige Gesamtdarstellung zur Geschichte der NSDAP nach 1933. Es gibt Einzeldarstellungen zu Einzelaspekten, also zur HJ etwa. Die NSDAP ist allerdings ein Netzwerk verschiedener Organisationen – also NSDAP, SS, HJ, SA –, und Sie müssen in so einer Gesamtdarstellung alle diese Organisationen integriert miteinander behandeln. Das sehen Sie auch bei diesem Überführungsverfahren von der HJ in die NSDAP, da müssen Sie sozusagen die Strukturen der HJ und der NSDAP auch kennen.
Schossig: Der Historiker Armin Nolzen, Koautor des soeben als Fischer-Taschenbuch erschienenen Buches "Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder".
Armin Nolzen: Also wir reden ja hier über das Aufnahmeverfahren für Jugendliche, die in der Hitlerjugend waren, in die NSDAP. Grundsätzlich gilt in der NSDAP ein Einzelaufnahmeverfahren. Das heißt, jeder, der eintreten möchte, muss einen individuell unterschriebenen Mitgliedschaftsantrag stellen, und zwar bei der zuständigen Ortsgruppe. Das Aufnahmealter in der NSDAP ist 21 Jahre. Und in unserem Fall, wo es um die Aufnahme von Jahrgängen in der Hitlerjugend in die NSDAP geht, ist das Aufnahmealter sukzessive gesenkt worden. Also wir reden ja hier von Jugendlichen, die teilweise im Alter von 16 bis 17 Jahren einen solchen Aufnahmeantrag gestellt haben.
Schossig: Aber Sie haben rausgefunden, man konnte so gut wie nicht ohne eigenes Zutun in die Partei geraten?
Nolzen: Voraussetzung ist immer der eigenhändig unterschriebene Aufnahmeantrag. Das heißt, dieser Aufnahmeantrag muss, bei unseren Jahrgängen 1923 bis 1927, über die wir reden, über diese Hitlerjugend-Jahrgänge, dieser Aufnahmeantrag muss unterschrieben werden, dem jeweiligen HJ-Bandführer oder dem Ortsgruppenleiter überreicht werden, und von da aus geht er dann auf dem Parteidienstweg an die zentralen Dienststellen, die die Mitgliedschaftssachen bearbeiten.
Schossig: Es mussten also Unterschriften geleistet werden. Woran könnte es denn nun liegen, dass so viele sich daran nicht mehr erinnern können?
Nolzen: Nun ja, das Verfahren ist zwar individualisiert, mit der individuellen Unterschrift, aber wir haben gerade im Krieg, also sagen wir mal, seit dem Aufnahmeverfahren seit September 1941, immer wieder Situationen, in der diese Unterschriftsleistung kollektiv erfolgt. Das heißt also, es werden von der Parteiführung beziehungsweise den Ortsgruppen oder HJ-Funktionären vor Ort gezielt solche Situationen geschaffen, wo der Jeweilige, der in die Partei eintreten soll, das im Kreise seiner Kameraden tut. Also etwa in Unterkünften bei Luftwaffenhelfern, beim HJ-Dienstabend oder bei anderen Gelegenheiten. Wir haben sehr wenige wirklich individuelle Unterschriftsleistungen, wo wir Jugendliche haben, die dann zu Hause sitzen und den Antrag vor sich haben und wirklich räsonieren können, ob sie unterschreiben sollen oder nicht, sondern so wie wir auch aus den Erinnerungen der Betroffenen wissen, sind diese Unterschriftsleistungen immer in solche kollektiven Situationen eingebunden. Und das erklärt vielleicht auch, wie man auf diesen Terminus der kollektiven Überführung kommt.
Schossig: Also es ist ein Mythos, dass es solche Massenüberführungen in die NSDAP gegeben hat?
Nolzen: Ja, das zweite Problem ist ja, dass diese Überführungen aus der HJ in die NSDAP sozusagen auch im Kollektivverfahren abgewickelt werden. Also die werden bei den jeweiligen Gauen gesammelt, die Anträge, und gehen dann in einem Sammelverfahren auf dem Weg nach oben weiter. Das heißt also, vielleicht kommt dieser Mythos von der kollektiven Überführung auch daher. Oder möglicherweise auch, es hat ja für die Jugendlichen, die in die Hitlerjugend eintreten, auch eine Aufnahmefeier gegeben, eine kollektive Aufnahmefeier. Also vielleicht auch daher das Gefühl, dass jemand kollektiv überführt wurde.
Schossig: Was mag es bedeutet haben, damals in den letzten Kriegsjahren, als Jugendlicher quasi noch in die NSDAP aufgenommen zu werden oder einzutreten?
Nolzen: Also grundsätzlich ist Mitgliedschaft in der NSDAP schwierig zu beurteilen. Die NSDAP ist eine Struktur der Ermöglichung, das heißt also, jemand, der der NSDAP beitritt, hat spezifische Möglichkeiten, die jemand, der der NSDAP nicht beitritt, nicht hat. Das ist der Unterschied. Es gibt eigentlich viele Motive oder Gründe, aus denen jemand der NSDAP beitreten kann. Die Parteimitgliedschaft wird teilweise Voraussetzung zur Berufsausübung, wir haben materielle Vorteile, zum Beispiel der Mittelständler, der sozusagen die NSDAP beliefert, der denen die Uniform schneidert, der tritt dann auch in die NSDAP ein. Wir haben gerade im Zweiten Weltkrieg den nicht zu unterschätzenden Vorteil, möglicherweise uk-gestellt zu werden ("uk": unabkömmlich, Anm. der Online-Redaktion), also nicht zur Wehrmacht zu müssen, was allerdings nur hauptamtliche Funktionäre betrifft. Also es gibt ein Bündel von Möglichkeiten, die diese NSDAP-Mitgliedschaft mit sich bringt, die die Nichtmitglieder eben nicht haben. Und das ist der Unterschied hier. Und wie jeweils das im Einzelfall gelagert ist, kann wiederum nur anhand des Einzelfalles auch entschieden werden. Also Kollektivaussagen zu kollektiven Motiven sind bei diesem individualisierten Verfahren eigentlich nicht statthaft.
Schossig: Zum Schluss: Was war das Erkenntnis-leitende Interesse Ihrer Studie? Man sollte ja meinen, dass die Aufnahmemechanismen in die NSDAP längst erforscht waren?
Nolzen: Man muss sagen, es gibt noch keine einzige Gesamtdarstellung zur Geschichte der NSDAP nach 1933. Es gibt Einzeldarstellungen zu Einzelaspekten, also zur HJ etwa. Die NSDAP ist allerdings ein Netzwerk verschiedener Organisationen – also NSDAP, SS, HJ, SA –, und Sie müssen in so einer Gesamtdarstellung alle diese Organisationen integriert miteinander behandeln. Das sehen Sie auch bei diesem Überführungsverfahren von der HJ in die NSDAP, da müssen Sie sozusagen die Strukturen der HJ und der NSDAP auch kennen.
Schossig: Der Historiker Armin Nolzen, Koautor des soeben als Fischer-Taschenbuch erschienenen Buches "Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder".