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Walser wider den Zeitgeist

In Deutschland herrscht nach Ansicht des Schriftstellers Martin Walser eine Kultur des "Recht-haben-Müssens" mit oft heuchlerischen Moralvorstellungen. Es müsse stärker bedacht werden, dass es immer mindestens zwei Seiten einer Wahrheit gebe, sagte Walser beim 60. Jubiläum der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München. Vor allem die Medien seien häufig reflexhaft und einem Zeitgeist geschuldet, der auf Oberflächenreize und Overkill setzte.

Von Knut Cordsen | 03.07.2008
    "Der Zeitgeist lebt von Wörtern. Bei uns sorgt ein Beschuldigungseifer für moralischen Expressionismus. Das fällt auf."

    Martin Walser war in seinem Element bei seiner Rede im Münchner Residenztheater, schließlich ist Walser schon häufiger Opfer eben dieses "Zeitgeists" geworden. Vor allem natürlich, als man ihn in die rechte Ecke stellte nach seiner Friedenspreis-Rede in der Paulskirche. Es ist der "moralische Oberton" der Medien, der mächtigsten Zeitgeist-Agenten, der Walser auf die "ästhetischen Nerven" geht, wie er sagt. Bewusst lehnt er sich immer wieder gegen jedwede "moralische Oberaufsicht" auf - mit nur mäßigem Erfolg zumeist, wie er zugibt:

    "Ein Journalist vom 'Corriere della Sera' kam neulich zu einem Interview. Ich frage, wie ich zurzeit in Italien beurteilt werde. Seine Antwort: troppo tedesco. Allzu deutsch also. Jetzt fang einmal an und beweise, dass du dir selbst gar nicht so deutsch vorkommst. Lächerlich! Dass du dem Zeitgeist widersprichst, bestätigt ihm ja nur, dass er Recht hat."

    Es ist schwer, des Zeitgeists habhaft zu werden im ständigen "Meinungsgewoge". Walser weiß, dass die Wellen der Empörung besonders hoch schlagen, dass der "Empörungspegel" automatisch steigt, wenn man dem Zeitgeist offen widerspricht - und so war seine Münchner Rede auch ein neuerliches Experiment mit dem moralisch leicht erregbaren Zeitgeist.

    Erst zog der 81-Jährige über den "vernichterischen" Furor der Medien her und die von ihm sogenannte "Verdachtsberichtserstattung", um dann eine Solidaritätsadresse an den Vorstand der Siemens AG loszuwerden - was derzeit so gar nicht opportun ist.

    "Neuestens hat die Verdächtigungsbereitschaft den Siemens-Konzern entdeckt. Mit einem schon beeindruckenden Nachforschungsaufwand wird enthüllt, wie viele Millionen in wie vielen Ländern aufgewendet wurden, um durch Bestechung große Aufträge zu bekommen. Dass solche Praktiken bis 1998 nach deutschem Recht nicht strafbar waren, spielt bei der moralischen Entrüstung der journalistischen Ermittler keine Rolle. Deutschlands feinster Technologie-Konzern ein Schmiergeldsystem, das sollen wir zur Kenntnis nehmen. Nun wissen natürlich wirklich alle, dass in der ganzen Welt die großen Firmen ihre Großaufträge durch Bestechung hereinholen. Es handelt sich ja in keinem Fall um persönliche Bereicherung der Manager. Mich erinnert dieser Reinheitseifer an das katholische Gebot, das den ehelichen Geschlechtsverkehr nur erlaubt, wenn er stattfindet zur Fortpflanzung. Keine Moral, die nicht ihre eigene Heuchelei produziert. Und dafür sorgt immer der Zeitgeist."

    Es ist klar: Nach dieser Münchner Rede wird Martin Walser, wie schon nach der Paulskirchen-Rede ein weiteres, kaum positives Etikett anhaften, dass ihm der stets "maßregelnde" Zeitgeist verpasst. Wenn es stimmt, dass Deutschland ein "Hypermoral-Standort" ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk unlängst in einer Analyse der Paulskirchen-Rede Walsers formulierte, dann ist Martin Walser eben einer, der sich bewusst und lustvoll in diesem "Hypermoral-Standort", in diesem "Dschungel des Rechthabens" gegen alle Zeitgeist-Trends auflehnt. Allzu ernst freilich sollte man ihn dabei nicht nehmen, das gibt sogar der Autor selbst zu.

    "Eine Frau in München hat einmal nach einem Vortrag in der Diskussion gesagt: Herr Walser, in Ihren Vorträgen sind Sie immer so fortschrittlich, in Ihren Romanen aber gar nicht. Ich habe ihr geraten, mich nach meinen Romanen zu beurteilen, weil die Vorträge immer nur ein Meinungssegment eröffneten. Ich hätte auch sagen können: Weil die Vorträge oft nur das sagen, was der Zeitgeist in mir so oder so anrichtet."