Als sich 1976 im Finale der Fußball-Europameisterschaft unerwartet die Mannschaften der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland gegenüberstanden, schlug mein Herz, das Herz eines elfjährigen tschechischen Fußballfans, für die westlichen Nachbarn. Vielleicht äußerten sich in jenem Augenblick erste, eher unterbewusste Zweifel an der kommunistischen Heimat, vielleicht hatte es mir aber auch nur der elegante Dress von Beckenbauer und Co. angetan. Jedenfalls war ich während des entscheidenden Elfmeterschießens völlig außer mir. Abergläubisch und sportbesessen war ich bereit, "egal was" für den Sieg unserer Gegner zu geben. Mein "egal was" bewirkte nichts: Europameister wurden wir."
Was hätte man aus dieser Kindheits-Szene für ein wunderbares Kaleidoskop der deutsch-tschechischen Beziehungen entwickeln können! Stattdessen beginnt der Sammelband jedoch kreuzbrav im 10.Jahrhundert bei den ersten deutschen Siedlern in Böhmen, arbeitet sich über Kaiser Karl IV. voran bis in Hitlers Protektorat und verläppert sich irgendwo in den Erinnerungen der pensionierten Außenminister Jiri Dienstbier und Hans-Dietrich Genscher. Jede Menge Name-dropping von Seiten der erkennbar gebildeten Autoren, die jeweils auf ein paar Seiten ihr wissenschaftliches Terrain abstecken - ohne Blick für den Alltag, das Vorwissen und die Interessen jener Leser, die aus diesem Buch vielleicht etwas über die andere Seite der Grenze erfahren wollen. Gemeinsame Wortstämme im Mittelhochdeutschen und Alt-Slawischen werden da analysiert, die Herkunft der Landschaftsbezeichnung Böhmerwald erforscht und ähnliche überwiegend linguistische Spitzfindigkeiten mehr. Auf der anderen Seite gibt es Aufsätze mit so aufregenden Titeln wie "Neue Partner in der Wirtschaft" oder "Deutsche und Tschechen im vereinten Europa". Noch nicht einmal als Handbuch zum Verständnis aktueller politischer Debatten taugt diese Sammlung von Aufsätzen. Keine juristische Einordnung der umstrittenen Benes-Dekrete. Keine Betrachtung der politischen Bewertungen in Prag und Berlin. Keine tiefergehende Analyse der Formen und Voraussetzungen von Vergangenheitsbewältigung in Tschechien und den beiden deutschen Staaten. All diese Themen sind spätestens seit den Verhandlungen über die Deutsch-tschechische Deklaration Mitte der 90er Jahre virulent, werden aber in dem Sammelband nur gestreift. Es ist genau diese nichtssagende Gelehrsamkeit, die das Buch ausstrahlt - durchweg detailverliebt, im entscheidenden Moment aber oberflächlich - die auch deutsch-tschechische Symposien kennzeichnet. Ein immer gleicher Zirkel von Bohemisten, Germanisten und Versöhnungsprofis mag daran Gefallen finden. Allen anderen sollte man die wirklich spannende gemeinsame Geschichte beider Länder auch spannend nahe bringen, ausgehend von dem, was die Menschen kennen und was sie bewegt. Ausgehend zum Beispiel von Tomas Rosicky, Karel Gott oder Dolly Buster.
"Deutsche und Tschechen" ist erschienen im C.H. Beck Verlag München. Es hat 727 Seiten und ist erhältlich zum Preis 17,90 Euro.