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Wandel durch Kunst

Bis Ende der 80er-Jahre galt Liverpool als Armenhaus Englands. Doch inzwischen hat die ehemalige Arbeiterstadt den Imagewechsel geschafft: Bereits seit 1998 findet die Liverpooler Kunstbiennale statt - und verspricht in diesem Jahr Kunst, die berührt.

Von Hans Pietsch |
    Ein lebensgroßes koreanisches Holzhaus ist vom Himmel gefallen und hat sich zwischen zwei leer stehenden Lagerhäusern verklemmt. Die leeren Fensterhöhlen eines anderen Lagerhauses bilden die Worte "Touch and Go", von der Decke des Oratoriums der anglikanischen Kathedrale hängen 1000 handgeblasene Glasglocken, von der Decke einer aufgelassenen Kirche baumelt ein gewaltiges Damoklesschwert, in einem Schaufenster rekeln sich bikinibekleidete Schönheiten - die nackte Haut mit Werbesprüchen wie "Total Schokoladig" beschriftet.

    Die Organisatoren der diesjährigen Biennale haben sich für ihre über die ganze Stadt verteilte Hauptschau das Motto "Touched" einfallen lassen. Nicht Kunst zum Anfassen, sondern Kunst, die den Betrachter berührt, ihn direkt anspricht. Kunst, so heißt es im Vorwort zum Katalog, die weniger einen materiellen, sondern mehr einen ideellen Wert besitzt. Ein etwas vages Konzept, das die gewaltige Schau mit mehr als 70 internationalen Künstlern – kein einziger Brite in Sicht - leider nicht so ganz zusammenzuhalten vermag.

    Trotzdem lassen sich interessante, ja aufregende Entdeckungen machen. Etwa auf den drei Stockwerken eines früheren Baumarkts, wo der in New York lebende Alfredo Jaar seine "Marx Lounge" eingerichtet hat, mit roten Wänden, in der Mitte ein Büchertisch. Auf schwarzen Sofas kann der Besucher im "Kommunistischen Manifest" und anderer linker Literatur schmökern. Im Nebenraum repariert Lee Mingwei kostenlos kaputte Kleidungsstücke, ein paar Räume weiter beschwört die Kubanerin Tania Bruguera mit einigen ihrer Schüler berühmte Performances der 60er-Jahre herauf. Rosa Barba hat ein Gewirr von metallenen Röhren gebaut, aus denen der Lärm der Stadt dröhnt, und im Obergeschoss haben sich Maler eingenistet: der Leipziger Tim Eitel mit seinen traurigen Matratzenlagern, Markus Schinwald mit seinen sich selbst quälenden Menschen und Zbynek Sedleckys menschenleere Straßen. "The Human Stain" heißt dieser Teil der Ausstellung und hinterlässt in der Tat einen Flecken auf dem Gemüt.

    Poetischem Pessimismus begegnet man auch in der in einem Lagerhaus der früheren Hafenstadt untergebrachten Tate Liverpool. Die Schau beginnt mit drei älteren Künstlern, gegen die sich die Jüngeren behaupten müssen: Die auf dem Boden aufgehäuften grauen Leinensäcke von Magdalena Abakanowiczs Installation "Embryology" erinnern an Kokons, aus denen bald Seidenspinner schlüpfen werden, die grellen Primärfarben des Wiener Aktionisten Otto Mühl springen das Auge an und Franz West möchte, dass der Besucher mit seiner sich durch den Raum windenden gewaltigen Schlange in körperlichen Kontakt tritt. Stiller geht es in dem Raum mit Nina Canells zerbrechlichen Skulpturen zu, die sich mit dem Thema Wasser beschäftigen, auch in dem Raum, in dem Isabel und Alfredo Aquilizan Miniaturstädte aus Pappe gebaut haben, und auch bei dem Projekt der Tschechin Eva Kotatkova, die elegisch Geschichten von Bürgern der Stadt erzählt.

    Neben "Touched" buhlen noch andere Ausstellungen um die Gunst des Besuchers – vor zwei Jahren waren es immerhin fast eine Million Menschen. In der A-Foundation tummeln sich die ganz Jungen, die gerade die Akademie absolviert haben, und die Zukunft darstellen – auch da kann man Entdeckungen machen, etwa den witzigen Trickfilmer Kristian de la Riva, der sich selbst verstümmelt, dessen Wunden sich aber wie durch ein Wunder schnell wieder schließen - die Walker Art Gallery zeigt die Preisträger des John Moores Malerei-Preises, und der deutsche Fotokünstler Wolfgang Tillmans hat unter die Altmeister des Museums seine Fotos geschmuggelt. Was bleibt, sind einige Momentaufnahmen, die einen wirklich berühren.

    Liverpool Biennial, bis 28. November 2010. Internet: Liverpool Biennial