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Wandel in Vietnam

Seitdem sich Vietnam vom dogmatischen Sozialismus verabschiedet hat, entwickelt sich das Land von einer bäuerlichen Gesellschaft zu einem Industrieland. Viele Bauern verlassen ihre Dörfer, um in neuen Fabriken zu arbeiten - und werden leicht Opfer von Ausbeutung und Betrug.

Von Mathias Bölinger | 06.02.2010
    In Di An sitzt Nam mit ein paar Kollegen zusammen: eine kleine Gasse gesäumt von weiß gestrichenen Baracken. Nam wohnt mit seiner Frau und seinem Sohn in einem kleinen Raum. Er möchte, dass sein Sohn eine bessere Zukunft hat, als er selbst. Der ist 18 und hat einen Job in einer Möbelfabrik gefunden.

    "Das ist ein guter Job. Wenn sie sagen, dass sie am 10. des Monats zahlen, dann zahlen sie auch; anders, als bei uns Bauarbeitern."

    Nam selbst schlägt sich als Maurer durch. In der Umgebung von Saigon wird viel gebaut. Gelegenheiten zum Geldverdienen gibt es viele, doch die Löhne sind niedrig, sagt Nam.

    "Meistens kommen wir irgendwie über die Runden, aber genug ist es nicht. Es bleibt nichts übrig."

    In Di An reiht sich Fabrik an Fabrik. Möbelfirmen, Textilfabriken, Lebensmittel - alles. Dazwischen sind die Siedlungen der Arbeiter, Reihen von Baracken mit sechs oder acht Quadratmeter großen Zimmern. Ein Wasserhahn vor jeder Tür, eine Toilette hinten, ein kleiner Gasherd in der Ecke und eine Empore, auf der weitere Personen schlafen können. Oft wohnen drei oder vier Menschen in einem Raum.

    In Nams Zimmer sitzen sechs Männer im Kreis, einige unterhalten sich, einer hat sich in der Ecke ausgestreckt und macht ein Nickerchen. Sie hätten alle bis vor Kurzem auf einer Baustelle gearbeitet, sagt einer.

    "Ich möchte nicht verraten, welches Projekt es war. Aber wir haben uns entschlossen, alle gemeinsam der Arbeit wegzubleiben. Kein Streik, das nicht. Aber wir haben alle gemeinsam beschlossen, dass wir dort nicht arbeiten wollen."

    Der Mann trägt noch das blaue Arbeiterhemd mit dem Firmenaufdruck. Stolz zeigt er den Schriftzug auf dem Rücken. Die Arbeiter stammen aus der Provinz Dong Thap im Mekongdelta. Oft arbeiten sie zusammen, vermitteln sich gegenseitig Jobs: drei bis 400.000 Dong verdienen sie in der Woche, knapp 20 Euro. Eigentlich klang die letzte Stelle, die Nam und seine Kollegen hatten, nicht schlecht.

    "Der Lohn war in Ordnung. Aber dann stellte sich heraus, dass sie sehr spät zahlen. Ständig vertrösteten sie uns."

    Arbeiter in Vietnam haben nicht viele Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen. Dabei sind die Arbeitsgesetze nicht schlecht. Die Arbeitszeit ist per Gesetz auf acht Stunden am Tag begrenzt. Überstunden müssen bezahlt werden, die einzelnen Kommunen müssen einen Mindestlohn festlegen. Der ist zwar mit 40 Euro im Monat etwa halb so hoch, wie die meisten Arbeiter verdienen, aber es gibt ihn. Doch Nam und den anderen nutzt das oft wenig. Er und seine Frau fallen sich gegenseitig ins Wort.
    Nam: "Wir haben keine Möglichkeit, an unser Geld zu kommen. Selbst wenn wir bei der Firma nachfragen."
    Frau: "Es sind die Vermittler, die mit dem Geld davonrennen."
    Nam und seine Kollegen haben selten mit ihrem eigentlichen Arbeitgeber zu tun. Die Firmen wickeln ihre Geschäfte mit Arbeitsvermittlern ab, die dann die Arbeiter anheuern. Oft brennen die Vermittler dann mit dem Lohn durch. Wenn die Arbeiter ihren Lohn fordern, erklärt der Auftraggeber, er habe ja bereits gezahlt.

    "Manchmal können wir die Vermittler ausfindig machen. Manchmal sind sie noch da. Aber dann vertrösten sie uns trotzdem immer wieder auf später. Und wir sehen das Geld nie."

    Vom Staat kommt in solchen Fällen keine Hilfe, und weil sich Arbeiter immer wieder betrogen fühlen, häuften sich in den letzten Jahren Meldungen über Streiks. Gerade in den Industriezonen des Südens legten Arbeiter immer öfter die Arbeit nieder. Immerhin: Anders als zum Beispiel im Nachbarland China sind in Vietnam Streiks erlaubt - allerdings nur unter strengen Bedingungen. Sie müssen von einer offiziellen Gewerkschaft angemeldet werden, und diese muss vorher alle Möglichkeiten einer gütlichen Einigung ausgeschöpft haben.

    Die meisten Streiks allerdings waren spontan und damit illegal. Doch die Regierung duldete sie - ebenso wie die Tatsache, dass Arbeiter begannen, sich außerhalb der offiziellen kommunistischen Gewerkschaften zu organisieren. Das allerdings ist vorbei. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Aktivisten verhaftet. Und auch die Meldungen von Streiks dringen immer seltener aus dem Land. Vietnams Regierung fürchtet die Macht der Massen, und die Arbeiter fürchten in der Wirtschaftskrise immer öfter um ihren Job. Nam und seine Kollegen haben ohnehin nur wenig davon. Bauarbeiter arbeiten ohnehin als Tagelöhner.

    "Wenn die Firma uns unser Geld klaut, egal ob es 100.000 Dong sind oder mehr, dann können wir nur eins machen: Wir suchen uns den nächsten Job."

    Dann löst sich die kleine Runde auf. Sie hätten noch etwas Wichtiges zu tun, erklärt einer der Arbeiter. Schließlich haben sie gerade gekündigt und nun müssen sie erneut auf Jobsuche gehen.